Zugezogen Maskulin 10 Jahre Abfuck
Dicke Luft, Herzrasen, Schnappatmung, Fluchtreflex, Rauseilen, Straßenseite wechseln, falsche Richtung, verkrampfte Hände, Kupfermünzen-Belag vermischt sich mit Handschweiß, Kaugummis alle, Knoten im Kopf, ein Obdachloser, weggucken, weitergehen, Späti, Blinklicht, Neonröhren, Billigfusel im Flachmann, rein damit, durchatmen. Eine klassische Panikattacke eben. Gehört für viele einfach zum Leben dazu, oder, mehr noch, ist beinahe zum gesellschaftlichen Grundrauschen geworden. Wäre die Zielsetzung, einen Dachbegriff für all das zu finden, was im Jahr 2020 den sogenannten Zeitgeist kennzeichnet, würde es das Wort »Panik« zumindest locker ins Top-10-Ranking schaffen. Zugezogen Maskulin stellen sich im Verlauf ihrer neuen Platte »10 Jahre Abfuck« die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Die Antwort steckt schon im Albumtitel: 2020 wäre nicht 2020 ohne die zivilisatorische Abwärtsspirale, den politischen Dammbruch, den permanenten Shitstorm, den kultivierten Fight-or-Flight-Reflex, die Abhängigkeit vom Smartphone, das endzeitesque Bauchgefühl des zurückliegenden Jahrzehnts. Dass 2020 einen neuen Tiefpunkt im gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt, das »Gedränge in der Bahn enger, enger, enger« wird und im Angesicht der Krise sogar mal Atemmasken und Klopapier knapp werden, ist insofern kein Wunder.
»10 Jahre Abfuck« erzählt von der Allianz zwischen Panik und Gewalt, vom Ausbruch vieler kleiner und großer Vulkane, die lange gebrodelt haben. In einem Moment liegt der inhaltliche Fokus auf neurechten Parteien im Siegestaumel, im nächsten auf zutiefst persönlichen Angsterfahrungen, der Furcht vor dem Versagen und dem mentalen Zusammenbruch. Testo und Grim104 mussten dabei nicht bei Null anfangen, immerhin jährt sich auch der Gründungsakt ihrer Band im Zuge der Platte zum zehnten Mal. Seit einer Dekade haben die beiden in ihrer Musik jede schwerwiegende zeitgeistliche Entwicklung seziert, überschwängliche Klatschkonzerte aus dem Reihen des Feuilletons eingefahren, bei Rock am Ring Weltstar-Luft geatmet und sogar vor der bundesdeutschen Politprominenz zum dreißigjährigen Mauerfall-Jubiläum am Brandenburger Tor gespielt. Die Schattenseiten dieser Erlebnisse würde wahrscheinlich niemand bemerken, wenn Zugezogen Maskulin sie im Zuge ihres neuen Albums nicht offensiv zum Thema machen würden: Beklemmung, peinliche Ausrutscher, Entfremdung, ein diffuser Drang nach Abgrenzung, die gleichzeitige Sehnsucht, allen zu gefallen und trotzdem aus den Spiralen von Öffentlichkeit und Industrie auszubrechen.
2012 stolpere ich zum ersten Mal über Zugezogen Maskulin. Mehr durch Zufall, weil »Undercut Tumblrblog« in meinen von Deutschrap-Trash verseuchten YouTube-Algorithmus gespült wird. Endlich eine wuchtige Flanke gegen diese möchtegern-alternative Hornbrillenträger-Kultur, die sich dank zugezogener Architektur-Ersties neuerdings sogar zaghaft in der provinziellen Einöde breit gemacht hat, in der ich lebe. Obwohl ich seit einiger Zeit selbst einen akkuraten Undercut trage, mich für die tägliche Dosis Revolutionsromantik durch unzählige Depression-und-Sex-und-Heroin-und-ein-bisschen-Randale-Tumblrblogs wühle und im stillen Kämmerlein die Zeilen eines gewissen Rappers mit Pandamaske mitmurmele, rennt die Feindseligkeit gegen diese gottverdammten Hipster-Schnösel und die Belanglosigkeit meiner eigenen Generation bei mir offene Türen ein. Um zu kapieren, dass mein Abgrenzungsbedürfnis mehr lächerlich und zwanghaft als konsequent oder logisch gewirkt haben muss, brauche ich noch ein paar Jahre. Zugezogen Maskulin haben den Grad an Selbstkritik, der »Undercut Tumblrblog« innewohnt, selbst erst im Nachhinein erkannt.
Sie selbst waren stets Teil dieses »neuen deutschen Mittelstands«, gegen den sie halbironisch in die Schlacht gezogen sind. Und sie wussten und wissen um diesen Grundwiderspruch. Das Motiv des Diss-Tracks gegen sich selbst, gegen die eigene belanglose, in der Filterblase einverbarrikadierte, zwischen kommendem Aufstand und Karrieresprüngen dahinvegetierende Lebensrealität, hat sie immer wieder zu Höchstformen auflaufen lassen. Ihre lupenreinen Beobachtungen waren zu jeder Zeit frei von Dogmatismus oder rechthaberischen Lösungsvorschlägen. »10 Jahre Abfuck« führt diese Tradition fort, mit dem Unterschied, dass die polemischen Überzeichnungen gnadenloser geworden sind. Diesmal übertreten Testo und Grim mehr denn je die Grenzen des Unsagbaren und Unangenehmen. Speziell in den Perspektivwechseln, wenn sie – frei von jeglicher Einordnung oder Vorwarnung und erschreckend authentisch – in die Rolle sexgeiler Angrabscher-Ekeltypen oder Neunzigerjahre-Bomberjacken-Dorfprolls schlüpfen. Die größte Stärke dieses Albums ist ein ungewöhnliches, fast unerhörtes Maß an Ehrlichkeit, das einen abwechselnd mit Eigenscham und Fremdscham überzieht.
Dieser Effekt wird verstärkt von einem überfallartig modernen, maximal stressigen, genial an die Inhalte angepassten Soundbild. Ahzumjot und Silkersoft – im Tag Team für alle dreizehn Produktionen auf »10 Jahre Abfuck« verantwortlich – haben ZM tatkräftig bei der Ausgestaltung eines ungemütlichen Ambientes unterstützt: Hier ein Störgeräusch, da eine unvermutbare Bridge, an anderer Stelle ein nervenstrapazierender Stimmeffekt oder eine unterschwellige Disharmonie, die den ausdauernden Unfrieden systematisch aufrechterhält.
Erfolgreiche Rapper nähern sich im Laufe ihrer Karrieren üblicherweise und Jahr für Jahr einen Zentimeter mehr dem Mainstream an oder söhnen sich zumindest mit der eigenen Szene aus. Zugezogen Maskulin tun das exakte Gegenteil. Eine selbstgewählte Sonderrolle haben sie innerhalb der deutschsprachigen HipHop-Landschaft zwar immer gespielt, konnten ihren Widerwillen, einer Szene zugeordnet zu werden, die so vieles, was sie kritisieren, in plakativster Manier reproduziert, immer noch zurückhalten. 2020 ist das anders. Direkt im Intro-Song zieht Grim das gnadenlose Fazit, dass Rap »nicht das Hirn in der Straße, sondern das der Hurensöhne« sei.
Zugezogen Maskulin sind zur leibhaftigen Antithese geworden, zu einem Exempel für gescheiterte Assimilation und das Nicht-Dazugehören-Wollen. Während Rap-Deutschland unter Palmen oder auf geleasten Jachten TikTok-Tänze mimend den Sonnenuntergang zelebriert, erklären ZM den Sommer für beendet. Weiter widerlegen sie die im Rap weit verbreitete Annahme, dass »Erfolg« automatisch »Recht« gäbe, amüsieren sich zynisch über die scheinheilig konstruierte Bruderschaft der großen Stars mit ihren kaufkräftigen Fans und erklären – wohlgemerkt auf dem einzigen wirklich versöhnlich anmutenden Song der Platte – wider dem Credo Höher-Schneller-Weiter den selbstgewählten »Exit« aus Glanz und Glamour. Testo und Grim zelebrieren die exzessive Zerstörung, fast so, als gäbe es nichts mehr zu verlieren: Als Promo-Tool haben sie ihrer Anhängerschaft ein Online-Ballerspiel zur kostenlosen Verfügung gestellt, im Video zur Main-Single raucht sich Micky Mouse ein Blech.
2015 plagen mich Panikattacken. Ich lebe inzwischen in Berlin, fühle mich trotzdem so unfrei wie nie zuvor, umgehe jedes zu abenteuerliche Abenteuer und gehe nur unter Leute, wenn ich denke, dass es unbedingt sein muss. Menschenansammlungen mit mehr als zehn Teilnehmern meide ich aus Prinzip, Bahnfahrten sowieso. An einem Tag im Frühling – ich habe mich mal wieder zum Spaßhaben verdonnert und stehe angespannt am alleräußersten Rand einer ausgelassen feiernden Crowd – spielen Zugezogen Maskulin ein Freiluft-Konzert auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, genauer, einen Soli-Gig für eine Geflüchteten-Initiative. Testo und Grim ist es an diesem Tag – zumindest bilde ich es mir ein – anzusehen, dass sie sich unwohl fühlen in der Funktion des Sprachrohrs einer politischen Bewegung. Keineswegs, weil sie den Hintergrund der Veranstaltung nicht zu 100 Prozent mittragen und tatkräftig unterstützen, vielmehr, weil es ihnen schwer zu fallen scheint, sich als Speerspitze eines im subkulturellen Habitus vereinten Meeres von Antifa-Fahnen inszenieren zu lassen. Bei ihren Ansagen verzichten sie darauf, »Alerta-Alerta-Antifascista«-Sprechchöre anzustimmen, setzen ihr Statement, ohne ins Plakative abzurutschen oder sich vereinnahmen zu lassen.
Fünf Jahre später ist ihnen selbst der »Schulterklopfer von ‚nem Journalist, für den ein neuer Klick-Rekord ein Gütesigel ist« zuwider. ZM träumen längst nicht mehr davon, von allen geliebt zu werden. Sie haben gelernt, Handschläge zu verweigern, fühlen sich ja sowieso »viel zu lange schon abhängig von Applaus«. Ihre Kunst ist durch diese Kompromisslosigkeit nur noch stärker geworden. »10 Jahre Abfuck« ist eine Art der würdevollen Bankrotterklärung vor den gesellschaftlichen Konditionen, mit denen man sich über eine Dekade hinweg – analytisch wie moralisch – ein Wettrennen geliefert hat. Zugezogen Maskulin haben perfektioniert, was K.I.Z einst »Den-Nachtbus-verpassen-Mucke« nannten, haben das »Spiel, das uns vom Drama einer Kultur berichtet« durchgespielt. »10 Jahre Abfuck« ist die Coming-of-Age-Story der vielleicht besten Boyband Deutschlands.