Neromun Blass

BLASS COVER
ALL GOOD Punchline Radical weirdness.

Wer in der Vergangenheit behauptete, die Texte von Neromun, bis vor kurzem noch Negroman, verstanden zu haben, lügt mit großer Wahrscheinlichkeit. Der Mainzer Rapper hangelte sich von Paul Celan über Deleuze und Guattari bis zu Rainer Maria Rilke, ließ hier eine nischige Rap-Referenz fallen und brachte dann dort einen kontrasexuellen Penis unter, der einen Dildo imitiert (nicht umgekehrt). Dadaistisch, wie von Rap-Medien immer wieder behauptet, waren diese Zeilen selten. Eine Unart, kann die Betitelung doch auf schlichtweg jede tiefe Substanz angewendet werden, die unverstanden bleibt. Aber ein Problem ergab sich: Für wen rappt Neromun?

Die angepeilte Zielgruppe gibt es nicht, vielmehr war sie eine imaginierte soziale Maxime, der Neromun lange hinterherjagte. Mit seinem neuen Album »Blass« macht er sich zum Teil frei vom selbstinduzierten Intellektualismus. Schon der erste Track, »Siblings«: zurückhaltende Pianoakkorde, einzelne Bassschläge, den Rest des musikalischen Unterbaus füllt ein leichtes Rauschen. Darüber singt Neromun mehr, als dass er rappt, geleitet von einem Satz, der erst im Nachhinein seine Wirkmächtigkeit entfaltet: »Meine Geschwister sind Ikonen«. Zählte in der Produktion nur Vibe, weckt die Aussage sogleich Assoziationen zu blackness als Kopie einer Kopie einer Kopie, von der die weiße Popkultur wiederum abschreibt. #BlackLivesMatter und der Protest gegen Kolonialdenkmäler, Katholizismus und Meme-Theorie, all dies lässt sich herauslesen, aber niemals intendiert.

Diesen Prozess, weg von verdrehten Weisheiten europäischer Geistesgeschichte hin zu vollem Fokus auf Melodie und Gefühl, trug Neromun schon mit seiner 2017 erschienenen EP »Vibe oder Werbung« nach außen, lose Tracks wie »keinepanik« (2019) und »2.20m« (2020) intensivierten die Entwicklung. Jetzt also »Blass«, gebaut auf Vibes, endlich ist Neromun dort angekommen, wo er vor Jahren schon hingehen wollte. Dabei sind seine Lyrics nicht wesentlich leichter zu verarbeiten, sie sind nicht einmal mehr als abgeschlossene Aphorismen zitierfähig. Aber sie treten in den Hintergrund, wenn »Limbo« oder »Laffy Taffy« getanzt wird, wenn schon die bloße Vertonung ihren Tribut in Form von steigender Euphorie oder tief melancholischem Schwindel fordert.

Doch künstlerisch ist Neromun zum Release von »Blass« sicher schon wieder in gänzlich anderen Gefilden. Darauf weist jedenfalls die Vorläufigkeit hin, die diesem Album innewohnt. Der Rapper ist »nie ganz durch, noch half-baked« (»Siblings«), fährt Autos nur testweise (»Beau Sketch«), weigert sich, Wurzeln zu schlagen (»Persil«) und weiß: »Diese Form ist nicht die finale« (»Limbo«). Auf »Blass« bewegt sich das Ego in stetiger Veränderung durch die eigene Innenwelt. Und droht dabei immer wieder, in Ohnmacht zu fallen. Ständig wird der Körper des Ich-Erzählers zugerichtet, ob übel durch Fleischwölfe und Selbstkastei mit Ketten oder aufgehübscht durch Make-up, hohe Schuhe und diverse Abzeichen. Dass sein ausgelaugtes Gesicht dabei blutleer bleibt, ist nachvollziehbar.

Blass wird Neromun auch im Angesicht des Sexuellen, etwa der Orgie, die Thema in »Telfar« ist. Gefangen im eng geschnürten Korsett des eigenen Brustkorbs kommt die Schwäche, die Auflockerung verschafft Ketamin. Im Angesicht der Auflösung dieselbe noch vorantreiben, so macht es nicht bloß der Rapper, sondern auch seine minimalistischen Beats, im Outro des Songs kommen die Hi-Hats so unvorhersehbar wie der kleine Tod. Immer wieder brechen die inneren Vielheiten aus der Stimme von Neromun heraus, die multitude führt unweigerlich zum Kollaps der geschlossenen Identität. Mit »Blass« wird noch einmal deutlich, wie schwer es Neromun fällt, sich auf einen Markenkern festzulegen. Nun, da er nur noch wenig aus dem Leben und der Philosophie erzählt, bleibt wenig übrig, das sich als Image verkaufen lässt. Außer wahnsinnig guten Songs eben.

»Blass« ist nicht bloß die Entscheidung, Musik zu machen, die in erster Linie Spaß machen soll. Es ist auch die Absage an eine explizit weiße Erwartungshaltung. Und die Absage an eine Nische, in der Stillstand herrscht. Dahinter steckt vielleicht auch die Erkenntnis, dass die verschlossenen Untergrund-Attitüden kaum Außenwirkung besitzen, bloß das Gewissen des Künstlers beruhigen, der den Mainstream verachtet. Mit »Blass« gelingt es Neromun, zugängliche Musik zu schaffen, die dennoch alle Eckpfeiler des hiesigen Raps unterläuft. Statt gestählten Muskeln präsentiert er zerrissene und stets bedrohte Körper, statt Heteronormativität queere Erkenntnisse, wie man sie allzu häufig auch im so soften RnB vermisst. Schluss mit aufklärerischen Bonmots, her mit dem Mythos. Radical weirdness.

Einen Teil der Magie von »Blass« macht aus, dass dennoch in beinahe jeder Zeile Substanz steckt, die beim Hören retrospektiv erkundet werden darf. »Leckma« präsentiert eine Zusammenkunft von Partygästen, die noch »am längst leeren Becher« nippen und Kellerkindern, die sich auf »Hochparterre und Penthouse« wähnen. Die Gedanken wandern vielleicht zum mehr oder minder überraschenden Erfolg der FDP bei Erstwähler:innen, zur Diskussion, ob der neoliberale Zeitgeist der Popkultur von Kontra K bis zu Finanz-Youtubern doch etwas damit zu tun haben könnten. Inmitten all der ausgebrannten Gestalten, deren Ressourcen längst ausgeschöpft sind, die trotzdem nicht müde werden, den Drip zu betonen, steht Neromun und bietet seine Dienste an: »Wer von euch will mir in Mund spucken? Wer von euch will dabei zugucken?« In einer Welt, die auf Service fundiert, wird der Rapper zum Dieb und weiß, dass er gerade deshalb viel Geld haben muss, weil Eigentum Diebstahl ist.

Es ist zu vermuten, dass Neromun bislang im deutschen Rap-Kosmos wenig Anschluss gefunden hat, weil er seinen Job einfach zu gut macht. Einst zu verkopft, um breite Identifikationsfläche zu bieten, veröffentlicht er mit »Blass« ein Album, das sich selbst angesichts der Meisterwerke eines Frank Ocean nicht zu schämen bräuchte. An dieser Stelle müsste sich die hiesige Szene ernsthaft fragen, warum sie erneut einen ihrer besten Künstler:innen auf dem Trockenen lässt. Wie es sein kann, dass jeder Kleinstadt-Teenie durch ein virales TikTok mehr Ressourcen erhält als einer, der nun zum wiederholten Male sein gigantisches Popstar-Potenzial beweist. Die Antwort ist vielleicht einfach: Der deutsche Markt ist zu klein und kulturlos, um nicht ausschließlich von Formel und Zahl regiert zu werden. Bloß, das zeigt »Blass«: Von der deutschen Kleingeistigkeit will sich Neromun nicht mehr aufhalten lassen.