Mobb Deep The Infamous

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ALL GOOD Punchline Ikonisch.

Es ist Donnerstagabend, elf sowas. Du trittst ins Freie, die Luft riecht klar und kühl und kühn. Du warst was trinken mit den anderen oder im Marmorhaus vielleicht. Die U-Bahn fährt noch, aber es ist ja nur eine Dreiviertelstunde nach Hause, also gehst du, die Leopoldstraße hoch, wie immer. In der »Spex« hast du von dieser neuen Crew gelesen. Also hast du dir das direkt auf Kassette überspielt, auf der einen Seite »Illmatic«, auf der anderen dieses Album, die waren irgendwie ähnlich und doch ganz anders. Es fehlen die letzten zwei Lieder, Neunziger-TDK halt, aber das ist egal, genau wie das verdammte Rauschen, das du einfach nicht weg kriegst, egal wie oft du bei deiner 200-Mark-Stereoanlage Dolby C oder Dolby D oder Dolby sonstwas drückst. Ist es das Schleifen des F Trains oder einfach nur beschissene Qualität? Nein, so muss sich diese Stadt anhören, denkst du. Du weißt es. Dein Gang wird schneller, aber er fühlt sich langsam an. Rechts das leere Industriegebiet, links die zweistöckigen Häuschen, die sich mit jedem Schritt weiter zu Hochhäusern auftürmen. Ein paar BMWs gleiten an dir vorbei, lautlos, zumindest denkst du das, denn der Walkman frisst die Motoren einfach weg. Nur ab und zu scheppert aus einem Fenster kurz durch, was ein Jahr später 2Pac sein wird. Aber das ist dir egal. Es gibt keine California Love in diesen Straßen. Dein Team sind die Knicks. Mit Charles Oakley, der sich irgendwann noch dafür rächen wird, dass sie ihn weggeschickt haben. Mit John Starks, der Jordan im Garden ins Gesicht gedunkt hat. Und dem verrückten Spike Lee in der ersten Reihe, dessen Filme du auswendig kennst. Die anderen checken das nicht, aber das ist New York, Mann. New York, das ist ganz weit weg, aber nicht für dich. Du bist allein und gehst noch ein bisschen schneller.

Du ist natürlich ich. Ich im Herbst 1995. Ich weiß nicht, ob es wirklich noch andere solche Dus gab, aber damals schien mir ganz klar, dass die ganze Welt so denken und fühle müsse. Auch wenn mir nichts und niemand um mich herum einen echten Grund für diese Annahme gab.

Mobb Deep war immer Underdog-Musik. So habe ich das verstanden. Zwei kleine, schmale Typen aus den Projects – nicht so offensichtlich begabt wie Nas, nicht so erfolgreich wie Biggie, nicht so berühmt wie Wu-Tang, die sogar ihre eigenen Pullover hatten – regieren plötzlich ihre Stadt und damit automatisch die Welt. Mit ihrem eigenen Ding. »You all alone in these streets cousin«, rappte Prodigy, und das hatte eine universelle Wucht, die weit über den intendierte Sinn hinausreichte. Allein in den Straßen. Nur du und deine Schuhe auf Zement. Wenn mir nach Alleinsein war, dann am liebsten mit diesen zwei Typen – obwohl ich mit ihrem Leben nichts zu tun hatte und sie sich vermutlich nicht mal vorstellen konnten, dass es so ein Leben wie meines überhaupt gibt. 6.500 Kilometer entfernt, in München-Milbertshofen, einem von Millionen sixth boroughs auf dieser Welt.

Vor 25 Jahren ist »The Infamous« erschienen. Es ist Mobb Deeps zweites Album und es ist auch ihr Debütalbum. Anders als das goldene Kind ihrer Nachbarschaft waren die beiden zweitberühmtesten Söhne der Queensbridge Houses offenbar nicht in einen Kessel mit Zaubertrank gefallen. (Obwohl Prodigy, so sagt man, schon als Kind die Aura eines Stars und durchaus auch Interesse hatte, ein solcher tatsächlich zu werden.) Ihr erstes Album »Juvenile Hell« 1993 war ein Flop. Mit dem »The Source«-Autoren Matty C und dem profilierten A&R Schott Free wussten sie durchaus einflussreiche Männer hinter sich. Die Musik aber war einfach nicht gut genug. Nicht gut genug für diese Zeit und auch nicht gut genug für rückwärtige Verklärung. Ich habe das Album bestimmt zehn mal gehört und kann mich spontan an keinen einzigen Song erinnern, obwohl da Beats von Premier und Large Professor drauf waren, also legitimes Material, so New York 1993 mäßig.

Der »Mythos Mobb Deep«, von dem der Kollege Aria Nejati auf Insta sprach, entstand erst, als die beiden die Sache selbst in die Hand nahmen. Man muss wissen, dass Prodigy unter einer Bluterkrankung namens Sichelzellenanämie litt. Das Krankenhaus und die Gewissheit des Todes, so hat er oft erzählt, waren sein Alltag. In den finsteren Beats seines Partners fand er den Soundtrack zu seinem Schmerz. Das klingt wie eine hübsche, fabrizierte Anekdote von und für HipHop-Historiker. Spätestens 2017, als Prodigy an Folgen dieser Krankheit verstarb, wurde diese Anekdote deprimierende Gewissheit. Realität war sie schon davor. Auf »The Infamous«.

Was für Musik machen wohl ein 19-Jähriger und ein 20-Jähriger, die gerade die zweite große Chance ihres Lebens erhalten haben, einen Deal bei der Plattenfirma der wichtigsten Rap-Gruppe der Welt und die Unterstützung eines genialischen Platinproduzenten? Wenn man sich das vorstellt, kommt »The Infamous« ganz sicher nicht heraus. Das Album ist düster, wie Nächte in München-Milbertshofen selbst im November nicht werden, und tieftraurig vor allem deshalb, weil Hoffnung darin quasi nicht vorkommt. Wenn man sich das Album zweieinhalb Jahrzehnte nach seiner Entstehung noch einmal anhört, mit dem Wissen um alles, was seitdem passiert ist – der Erfolg, das Erwachsenwerden, der Tod, der Nachhall – fährt einem der Fatalismus, der aus diesen beiden jungen Männern spricht, doppelt heftig in die Knochen. Es war kalt da draußen. Noch kälter aber war es dort drin. Das Paradoxe ist, dass einem diese dunkle, kühle, arrogante, nicht selten brutale, letztlich aber vor allem gebrochene Musik dennoch Kraft gab. Und gibt: Das originale Mobb-Deep-Gefühl ist noch immer da. Böser Blick, Kapuze runter, Kopf hoch. Dass zwei junge Menschen aus ihrer abgefuckten Situation sogar Stolz ziehen können, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Bei Mobb Deep aber war immer alles wahr. Vielleicht hat Prodigy ab und zu ein bisschen dick aufgetragen, aber selbst wenn er gerade heraus gelogen hätte: Wahr wäre es immer gewesen.

Wenn dieser Tage in Boomer-Wohnzimmern, Schreiber-Quarantänen und sogar auf Streaming-Plattformen einem der wirklich ganz großen Klassiker der HipHop-Geschichte gedacht wird, wird oft vergessen, dass »The Infamous« nicht einfach nur vertonter Ghetto-Nihilismus ist. Ja, klar, wie die Havoc-Snare so schön leer wegklackt und Prodigy dir dazu die Regeln dieses ganz und gar unlustigen Spiels namens Überleben ins Hirn drischt, ist ikonisch. »The Infamous« aber ist mehr als das. (Mindestens) drei Beats kamen von Q-Tip, der nicht nur einem anderen Ende des Rap-Spektrum zugeordnet wurde, sondern dem Album tatsächlich eine entscheidende emotionale Nuance hinzu fügte, eine fragile Kunstfertigkeit, die den allermeisten von Mobb Deeps zahllosen Bumm-Klack-Hau-Drauf-Epigonen ganz und gar abging. »Give Up The Goods«, »Temperature’s Rising« und vor allem »Drink Away The Pain (Situations)« drehen sich zwar ebenso wie die anderen Songs um finstere Umstände (Raub, Flucht, Betäubung), jedoch bergen sie eine Wärme und Verspieltheit, die auch Prodigy und Havoc selbst prägte. Mobb Deep waren Straße. Vor allem aber waren sie Musiker, Freigeister, Künstler. Sie nahmen, was sie umgab. Und kreierten daraus ihren ganz eigenen, majestätisch makaberen, eigentümlich eleganten Stil, dessen Einfluss bis tief ins Heute reicht (meinetwegen auch bis Samra).

Das Beste an dem großen New Yorker Rap-Jahr 1993 (Wu-Tang, Black Moon, »Midnight Marauders«) ist, dass darauf das große New Yorker Rap-Jahr 1994 (Biggie, Nas, Redman, Method Man) folgte, woraufhin das Jahr 1995 gar nicht anders konnte, als ebenfalls zu folgen. Es gab damals diese Zwangsläufigkeit in der Stadt, eine konstante Abfolge riesiger Evolutionsschritte in Hypergeschwindigkeit, angetrieben von einer spezifischen räumlichen Nähe, dem natürlichen Competitive Spirit der Stadt und der tiefen Kränkung, die die West Coast mit ihrer ca. zweijährigen Dominanz dem stolzen HipHop-Geburtsort zugefügt hatte. »It was like the Olympics«, hat Raekwon diese Gemengelage in seinem »Beats 1«-Interview zum Fünfundzwanzigjährigen von »The Infamous« beschrieben. Wer einmal in einem Olympischen Dorf war und dort diese spezielle Mischung aus Verbundenheit und Paranoia gespürt hat, weiß, was das bedeutet. Einfach nur »The Infamous« hören, reicht aber auch. Mobb Deep waren härter, cooler, präziser als alles und alle anderen vor ihnen – eine unfassbare Kombo aus Kompromisslosigkeit und Kreativität.

Im Rückblick scheinen die Rollen in dieser Band klar verteilt: Havoc der ruhige, besonnene Producer-Nerd, Prodigy der extrovertierte, angriffslustige Rapper und Frontmann. In Wahrheit aber war es eher umgekehrt. Havoc war zunächst der deutlich erfahrenere und auch bessere MC; sein Mentor Tragedy Khadafi hatte ihn schon Ende der achtziger Jahre zu Marley Marl mit ins Studio geschleppt und ihm die Tricks gezeigt, die gezeigt werden mussten. Der ein halbes Jahr – damals also: deutlich – jüngere Prodigy wiederum kam aus einer Künstlerfamilie. Sein Großvater Budd Johnson war Jazzmusiker und spielte mit den Großen wie Dizzy Gillespie und Quincy Jones. Seine Mutter war in einer Girlgroup, sein Vater in einer Doo-Wop-Band. Seine Großmutter organisierte Aufführungen von Jugendlichen in der Carnegie Hall (daher stammt übrigens das berühmte »Ballerina«-Foto von Prodigy, das Jay-Z 2001 zu Desavourierungszwecken auf die Leinwand des Hot 97 Summer Jam projizierte). Diese Großmutter war es auch, die Prodigy sein erstes Equipment kaufte. Als sich Hav und P 1989 an der High School of Art and Design in Manhattan trafen, zeigte er Havoc, wie man Beats macht. Havoc schrieb Prodigy im Gegenzug seine ersten Raps. Die spätere Rollenverteilung ergab sich wie so oft in der HipHop-Geschichte eher aus schnöder Notwendigkeit. Die Legende besagt, dass Pete Rock von Mobb Deep 25k für einen Beat wollte. Also übernahm Havoc das einfach selbst – und fand dabei zufällig, oder halt instinktiv, einen Style, der Prodigy aus dem Herzen sprach. Vielen, vielen anderen auch. So wurde aus ihm einer der prägenden Producer der Sample-Ära: das Beat-Genie, das aus dem Zischen eines Gasherds und einer zur Bassline umfunktionierten Piano-Melodie einen der größten Rap-Beats aller Zeiten zauberte. Prodigy hatte also mehr Zeit zu rappen und wurde zum König des Einstiegs: »I got you stuck off the realness, we be the infamous / You heard of us, official Queensbridge murderers«

»The Infamous« ist aber mehr als der Jahrhundertsong »Shook Ones, Pt. II«. Es ist vielmehr eine dieser Platten, die man Bill Clinton in seine schmierigen Finger shoppt oder in 1 Twitter-Thread po$t€t. No Skips, Bangers only. Und das Irre ist: Das stimmt halt wirklich.

Einen überflüssigen oder gar schlechten Song gibt es auf dieser Platte nicht. Das ist umso erstaunlicher, als atmosphärische oder gar thematische Vielfalt eher nicht auf der Agenda standen (und das Album mit über einer Stunde auch relativ lang ist für seine Zeit). Stattdessen gab es: das ebenfalls kanonische »Survival Of The Fittest«. Einen ungewöhnlich, aber dennoch perfekt platzierten Skit, der einen unmittelbar nach dem Intro-Song in das Geschehen auf der Zwölften zieht. Den ersten wichtigen Nas-Part nach »Illmatic«. Gleich zwei Songs mit Raekwon und Ghostface. Eine R&B-Hook über steigende Temperaturen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Unfassbare Harmonien, die sich fast heimlich über die stoisch vor sich hin klopfenden Kick-Snare-Kombos schieben. Und, natürlich: Quotables für die Ewigkeit.

There’s no such thing as halfway crooks.
There’s a war going on outside no man is safe from.
Trife life got me thinking like an animal.
We in this together son, your beef is mine.
Forever wild from the cradle to the grave.

Jeder Satz ein T-Shirt. Dabei sind diese Zeilen nicht mal Punchlines. In ihnen stecken keine Wortspiele oder Metaphern, keine gewitzten Referenzen oder glamourösen Überzeichnungen, wie sie Bad Boy später perfektionierten. Havoc und Prodigy sagten einfach, wie’s war, beinahe beiläufig. War Nas der Chronist am Fenster, dann lebten Mobb Deep, was er sah. Mit 100 Hitzköpfen im Schlepptau und vollendet cooler Nicht-Geste. Das machte »The Infamous« gleichzeitig nachempfindbar und zum Kunstwerk.

Diesem tiefgefrorenen, radikalreduzierten, trotzigen Gangsta-Glamour sind Mobb Deep bis zum Ende treu geblieben. Sie haben die Grenzen ihres Stils gedehnt, ob in ihrer unvermeidlichen Koks-Phase Ende der Neunziger; in ihrer kurzen Lass-gut-gehen-Zeit bei G-Unit; oder in Prodigys Retro-Meta-Spätwerk an der Seite von Alchemist. Verraten aber haben sie ihn nie. Auch das trägt zum ewigen Glanz von »The Infamous« bei. Dass zwei Verlierer, denen niemand mehr etwas zutraute, Rap für immer veränderten. Dass zwei Kids aus der Hood, deren Leben schon vorbei war, einfach immer weiter machten.

Rest in peace, Prodigy. Rest in playlist, »The Infamous«. Und irgendwann, wenn das alles vorbei ist™, werde ich wieder zu Fuß nach Hause gehen, obwohl die U-Bahn noch fährt, und mich fühlen, als wäre der sechste Bezirk der beste von allen.