Kendrick Lamar Mr. Morale & The Big Steppers

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ALL GOOD Punchline Bedeutungsvoll.

Auf seinem weitläufigen Album »Mr. Morale & The Big Steppers« entmystifiziert Kendrick Lamar sich selbst und überdenkt die Prioritäten, die seine (zurecht) gelobte Karriere bisher geprägt haben – wodurch er letztlich zu einem noch reiferen Rapper wird.

»Everything I say is from an angel«, verkündete Kendrick Lamar auf seinem letzten, ziemlich großartigen Album »DAMN.« – und natürlich glaubten wir ihm. Beinahe kein anderer Musiker, geschweige denn Rapper, wurde im 21. Jahrhundert so universell angehimmelt wie er. Wir sprechen immerhin von dem Kendrick Lamar, der als erster HipHop-Künstler den Pulitzer-Preis gewann und damit weltweit Jazz- bzw. Klassikfans aus der Fassung brachte. Der Kendrick Lamar, dessen aufbauender Song »Alright« zum Soundtrack zahlreicher Black-Lives- Matter-Proteste wurde und ihn (gemeinsam mit der dazugehörigen Platte »To Pimp a Butterfly«) zur musikalischen Stimme einer ganzen Bewegung machte. Der Kendrick Lamar, der an Universitäten analysiert wird und gleichzeitig einer der kommerziell erfolgreichsten Rapper seiner Zeit ist. Kurz: Der Kendrick Lamar, den wir alle lieben.

Aber eben auch der Kendrick Lamar, der schon vor sieben Jahren mit dem öffentlichen Zweifeln an sich selbst begann und Lyrics wie »You ain’t no leader!« oder »You fuckin‘ failed!«, beide aus dem schwermütigen Song »u«, an sich selbst adressierte. Auf seinem vierten offiziellen Studioalbum »Mr. Morale & The Big Steppers« gesteht er sich nun endgültig die eigene Fehlerhaftigkeit ein, indem er von der Untreue zu seiner Partnerin Whitney Alford erzählt (»Insecurities that I project, sleepin‘ with other women«), seine limitierten Einflussmöglichkeiten anerkennt (»I can’t please everybody«) und sich mit dem kontroversen, mehrfach verurteilten Rapper Kodak Black vergleicht (»Like it when they pro-Black, but I’m more Kodak Black«). Kendricks Entmystifizierung, sozusagen.

Wenn auch seine Selbstwahrnehmung als geweihter Prophet nicht ganz verschwunden ist – »Asked god to speak through me/That’s what you hear now, the voice of yours truly« –, scheint Lamar sich ganz bewusst vermenschlichen zu wollen. Er spricht davon, Teil des »human business« zu sein, und berichtet in »Auntie Diaries« erstmals von einem wegweisenden Tag, seit dem er »humanity over religion« stellt. Auf dem Albumcover von »Mr. Morale & The Big Steppers« ist der Rapper zwar mit Dornenkrone abgebildet, aber eben nicht als leidender Einzelgänger, der von Gott für unsere Sünden bestraft wird (»DAMN.«), oder als tatkräftiger Erlöser, der zusammen mit seinen Homies vorm Weißen Haus posiert (»To Pimp a Butterfly«), sondern als Familienvater. Die Schusswaffe im Hosenbund ist nur grob zu erkennen.

Lamars Perspektive aufs Leben – ein Thema, das schon in der Vorabsingle «The Heart Part 5« angerissen wurde – ist diesmal also eine andere. Es geht weniger um das Wohlbefinden einer gesamten Community, als vielmehr sein eigenes. »Sorry I didn’t save the world my friend, I was to busy building mine again«, singt (!) er im Schlusstrack »Mirror« und wiederholt immer wieder die Worte: »I choose me, I’m sorry«. Im Zentrum seines Sichtfelds steht hier nicht direkt die afroamerikanische Community, sondern der eigene Nachwuchs (»Life as a protective father, I’d kill for her«) und vor allem seine Partnerin Whitney Alford, die in Lamars Musik zum ersten Mal namentlich erwähnt wird und wiederholt auch als leitende Stimme der Vernunft auftaucht. Wenn er über seine Vergangenheit spricht, dann nicht im Zusammenhang mit Kriminalität oder Rassismus, sondern häufig in familiäre Kontexte eingebettet.

Diese Verschiebung bedeutet jedoch keinesfalls, dass »Mr. Morale & The Big Steppers« nicht die inhaltliche Fülle eines typischen Kendrick-Albums hat. Hier ein paar Punkte, die sich immer wieder finden lassen: Cancel Culture, Sexsucht, COVID-19, Materialismus, Fake Wokeness, Ehrfurcht, toxische Männlichkeit. Zwischendurch ist mit dem erwähnten »Auntie Diaries« sogar noch Platz für ein feministisches Statement über Transgender und die damit verbundenen Sprachdebatten. Auch soundmäßig ist das Doppelalbum nur schwer zu greifen. Enthalten sind zum Beispiel pumpende Four-to-the-floor-Drums (»Worldwide Steppers«), seichte Gitarrenakkorde (»Count Me Out«), fantastische Produktionsarbeit von Pharrell Williams (»Mr. Morale«) und erstaunlich viel Klavier. Ganz zu schweigen von Lamars vielseitigen Fähigkeiten als Rapper: Er schmeißt ununterbrochen mit brandneuen Vortragsweisen um sich und findet selbst in den komplexesten Flows eingängige Melodien. Grandios, wie viel häufig in einem einzigen Song passieren und trotzdem noch ineinander greifen kann.

Dann sind da noch die ausnahmslos sinnvollen Features. Man nehme Ghostface Killah, das mehrdimensionalste Mitglied des Wu-Tang Clans, der mit einem göttlichen Verse in »Purple Hearts« an die Erstklassigkeit seines Talents erinnert und sich perfekt in das spirituelle Sentiment des Tracks einfügt. Oder Lamars 21- jährigen Cousin Baby Keem, der stets glänzt und repräsentativ für eine jüngere, naive Version seines älteren Wegbereiters steht: »I watched Keem buy four cars in four months, you know the family dynamics on repeat«, observiert Lamar im Opener »United in Grief«. Doch auf dem Feature-Thron der Platte sitzt ohne Frage die Schauspielerin Taylour Paige. Im rotzigen Song »We Cry Together« spielt sie den weiblichen Part in einer, sagen wir, gereizten Liebesbeziehung und schmeißt dem von Lamar gesprochenen Charakter harte Beleidigungen an den Kopf, die über Schimpfwörter hinaus gehen (»You the reason why strong women fucked up, why they say it’s a man’s world, you the reason for Trump«). Die ebenso ausfallenden Konter des Mannes könnten viele Hörer in den falschen Hals bekommen – aber: »This is what the world sounds like«, wie es zu Beginn des Songs heißt. Ist leider so.

Besonders interessant wird es dann bei Kendricks Antworten auf das Warum – warum viele Männer ihre Männlichkeit auf so toxische Weise vor sich hertragen müssen. Und warum man solche Dinge nur verstehen kann, wenn man die eigene Perspektive hinterfragt (»To understand love, switch position«). Lamar hilft uns dabei und nimmt sein jüngeres Selbst als Beispiel: In »Father Time« gesteht der Rapper, dass er in Kindestagen gerne mal einen liebevollen Satz der Zuneigung von seinem Vater gehört hätte, stattdessen aber fortlaufend daran erinnert wurde, bloß nicht Schwäche zu zeigen und schon gar nicht zu weinen; egal wie hart der Alltag im kriminellen Compton auch sein mag. Unterlegt von absolut wundervollen E- Piano-Akkorden beginnt Lamar in »Father Time« zu verstehen, wie unsere Vorfahren auf uns abfärben und was der Ursprung seiner Probleme mit Treue und Maskulinität sein könnte. »Let’s say, bad things were done to you when you were a child, and you develop a sense of self that is based on the bad things that happened to you«, hört man den spirituellen Lehrer Eckhart Tolle im weiteren Verlauf des Albums sagen. Darin kann sich wahrscheinlich jeder erkennen, zumindest irgendwie.

»I went and got me a therapist«. Letztendlich brauchte es nur eine Zeile, um näher am Zeitgeist als mit irgendeiner politischen Aussage zu sein. Allein die Tatsache, dass Kendrick Lamar über Thematiken wie mental health, tiefgreifende Traumata und sexuellen Missbrauch spricht, ist bedeutungsvoll, und auf »Mr. Morale & The Big Steppers« breitet er sein Innenleben offen vor sich aus. Hier geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um eine Perspektive, die weder eindeutig formuliert noch perfekt, dafür aber sehr echt ist – und als aufrichtiges Lehrbeispiel fungiert. »Kendrick made you think about it, but he is not your savior«, rappt er an einer Stelle. Je öfter man das Album hört, desto mehr fällt auf, wie wertvoll die erste Hälfte dieses Satzes sein kann.