Jamie xx In Colour

Jamiexx-InColour
ALL GOOD Punchline Ein endlos gutes Gefühl.

Es muss im Jahr 2011 gewesen sein, als ich auf dem Blog eines Bekannten das erste Mal »Far Nearer« von Jamie xx gehört habe. Das infinite scrolling seines Tumblr-Blogs, der sich auf Fotos von Frauen mit wenig Interesse an Kleidungsstücken, aber dafür umso mehr Lust an illegalen Rauchwaren spezialisierte, wurde nur von einem einzigen eingebetteten YouTube-Video unterbrochen. Auf dem Vorschaubild gab ein aus schwarzem Hintergrund herausgestanztes X den Blick auf den glitzernden und grobkörnig fotografierten Meereshorizont frei. Der acht Minuten und elf Sekunden-lange Track zog mich von Beginn an in seinen Bann. Gut drei Jahre zuvor hatte ich das selbstbetitelte The xx-Debütalbum zu meinem Emo-Erstsemester-Soundtrack auserkoren und zum ersten Mal das Gefühl, dass ich mit Gitarrenmusik oder zumindest Musik, die vornehmlich mit Gitarre und Bass gespielt wird, wirklich etwas anfangen konnte.

Aber das hier? Denn während einem The xx als Dreiergespann mit Songs wie »Basic Space« oder »Crystalised« noch melodische Melancholia-Murmeleien in die Ohrmuschel gelegt und das Ganze mit schusseligen Shoegaze-Zockereien zu einem gefühlsduseligen Noir&B vertont hatten, schielte Jamie xx mit seiner Debütsingle nicht nur in Richtung Club. Nein, nach der fulminanten Gil-Scott-Heron-Collabo »We’re New Here« richtete das The-xx-Drittel den Blick tatsächlich unmissverständlich auf die Tanzfläche und setzte mit idiophonem Ping-Pong-Geklöppel , verlangsamten Vocalschnipseln und einer dumpf-drückenden Bassline einen neuen Standard in Sachen kontemporärer Clubmusik.

Als The xx 2012 ihr zweites Album »Coexist« veröffentlichten, war Jamie xx viel daran gelegen, diesen Mindstate durch diese Synthieline oder jenem Drum-Loop auf den Sound der Band zu übertragen – bisweilen gelang das zwar, aber der Tempowechsel nahm der Band auch etwas von ihrer auratischen Ruhe, die man sich jetzt wieder für die dritte Platte erhofft. Interessanterweise strahlt auch »In Colour«, das Solodebüt von Jamie xx, diese ungemeine Gelassenheit aus. Weil er den unaufgeregten Minimalismus seiner Band auf jeden der elf Songs transferiert und auf Grundlage dessen tanz- und gleichermaßen hörbare Minimalismusminiaturen gebastelt hat, die den State of the Art zeitgemäßer elektronisch-eklektischer Musik neu definieren und verändern wird.

Das fängt schon bei dem Opener »Gosh« an. Über einen wüsten Breakbeat streut Jamie xx die Vocals diverser Drum&Bass-MCs einer nie ausgestrahlten Pilotsendung der »BBC Radio 1«-Serie »In The Jungle«, pumpt die Nummer zum Ende hin selbstbewusst mit einer guten Bassladung und sirenenhaftem Synthie-Pomp auf und führt in knapp fünf Minuten Versatzstücke britischer Tanzmusik aus den späten 80ern und frühen 90er mit unprätentiöser Jetztness zusammen, als wäre es keine große Sache. Und die ist es ja auch nicht. Als The-xx-Mastermind war Jamie seit jeher auf Minimalismus und Understatement bedacht und machte aus den Alben »xx« und »Coexist« solche schlichten und schüchternen, aber gleichzeitig auch schicken und schönen Alben. Mit ebenjener Ausgeglichenheit und Akribie ist Jamie auch an »In Colour« herangegangen. Er vermengt ranzige Jungle-Loops, obskure Sprachsamples, knisternde Field Recordings, opulente Gospel-Referenzen und skizzenhaften Soul so unaufgeregt miteinander, wie man es von Veröffentlichungen dieser Größenordnung eigentlich nicht kennt.

Denn das überbordende Checkertum von IDM-Aficionados lässt Alben elektronischer Spielart nicht selten zur guten aber mitunter doch eher anstrengenden Kopfsache für Rave-Intellektuelle mit Hang zur Auskennerei werden. »In Colour« ist ein Album in der Tradition von Bon Ivers »Bon Iver« oder Four Tets »There Is Love In You«: ein einziges endlos gutes Gefühl, in dessen Loop man sich immer und immer wieder klinken will. Ein Album wie eine Clubnacht, in der man gerade eben noch daheim in freudiger Erwartung zu »Gosh« den letzten Moscow Mule samt Gurkenscheibchen hinuntergeschlungen hat, plötzlich um vier Uhr in der Früh von allen guten Geistern verlassen zu »Hold Tight« abhottet und im nächsten Moment mit »Loud Places« draußen vor dem Club bei der Kokarette danach in den Melo-Modus zu schalten.

Aber dann hat es eben auch Songs wie »Seesaw« mit Bandmitglied Romy oder »Stranger in A Room« mit dem anderen The-xx-Spezi Oliver Sim, die das Konzept und die Zukunft einer der wichtigsten Band der 2000er Jahre weiterdenken. Die Musik mäandert – einem guten Mix gleich – von einem Genre ins nächste, von einem Tempo zum anderen und überführt die aus Jamies leidenschaftlichen DJ-Sets und Remixarbeiten bekannte Vielschichtigkeit unaufgeregt und zurückhaltend in das Tracklisting seines eigenen Albums und die Arrangements der einzelnen Songs.

Diese klangliche Komplexität gipfelt in »I Know (There’s Gonna Be Good Times)«. Wie hier die klassische HipHop-Sampleschule mit dem Zeitgeist aus Zwofuffzehn und der absolut unkonventionellen und gleichzeitig unabdingbaren Kunst von zwei absoluten Freigeistern wie Young Thug und Popcaan zusammengeführt wird, demonstriert in bis dato ungekannter Entschlossenheit, was Popmusik im Jahr 2015 eigentlich bedeutet. Denn vielleicht ist »In Colour« das erste Album, das nach gut zehn Jahren orientierungslosem Open-Source-Durcheinander dem inflationären Eklektizismus einen Riegel vorschiebt. Also den einzig logischen Schritt geht und dabei eine absolut konsequente Emanzipierung vom Schulterzucker-Pop und der Beliebigkeitsmusik der letzten Jahre vollzieht und zeigt, wie damit umzugehen ist, dass wir in einer Zeit leben, in der Genrezuschreibungen endgültig der Vergangenheit angehören. Einer Zeit, in der interkontinentaler und spielartenübergreifender Sound zum guten, in diesem Fall sogar sehr guten Ton gehört.