Injury Reserve By the Time I Get to Phoenix

  • VÖ:  15. September 2021
  • Self
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ALL GOOD Punchline Aura der Verzweiflung

Unter dem Youtube-Upload des Liedes »Panico a Las 5Am« von Artur Rada steht ein Kommentar: »Injury Reserve«. Das Sample wurde gefunden, Produzent Parker Corey hat es für den ersten Song des neuen Albums »By the Time I Get to Phoenix« verwendet. Auf diesen Kommentar antwortet der Interpret des Originals, ein 72-jähriger Venezuelaner: »i’m waiting the response of johannah , you don’t have the rights yet until johanna sign the license [sic!]«. Schade. An sich ließe sich schon eine gesamte Rezension zur Sample-Praktik von Injury Reserve schreiben. Parker Corey samplet die legendäre UK Punk-Band The Fall gleich zweimal, auch Battle-Rapper Dot und Pop-Vordenker Brian Eno sind auf dem Album zu hören. Auf der Vorabsingle »Superman That« ist eine frühe Version der Debütsingle des britischen Kollektivs Black Country, New Road zu hören, bei »Knees« kommt eine B-Seite der Math Rock-Band Black Midi zum Einsatz. Deren Drummer Morgan Simpson ist ebenso auf dem Album vertreten wie der Künstler Body Meat. Injury Reserve verorten sich mit diesen Features und Samples recht deutlich in einem Subgenre, das Inspirationen aus Punk, IDM und HipHop zu neuen Soundsphären collagiert.

Die verwendeten Klangschnipsel sind auf »By the Time I Get to Phoenix« jedoch größtenteils so zweckentfremdet, dass sie lange nicht mehr auf frühere Kontexte verweisen. Stattdessen werden sie zu Bausteinen in der klangästhetischen Vision der Gruppe aus Phoenix, Arizona. Injury Reserve transzendieren jegliche Grenzen dessen, was gemeinhin als HipHop definiert wird, teilweise sogar die Grenzen dessen, was gemeinhin als Song definiert wird. Und weiten sie damit aus. Ein Gefühl, als würde wieder zum ersten Mal Death Grips’ »The Money Store« durch die Gehörgänge wummern. Ein nur schwer begreifliches Sounderlebnis. Es ist bezeichnend, dass die Künstler in den Visuals zum Album, einer Aufnahme der Releaseshow, niemals scharf zu sehen sind, bloß schwammige Silhouetten inmitten von flutendem Licht. Im Falle von Injury Reserve ist die Experimentalität der Musik jedoch kein Selbstzweck. »By the Time I Get to Phoenix« klingt nicht deshalb besonders verworren und dystopisch, um Hörer:innen vor den Kopf zu stoßen oder um sich von Kunststudent:innen bescheinigen zu lassen, dass dieses Album wahre postmoderne Kunst sei. Das offiziell zweite Studioalbum des Trios transportiert eine düstere, endzeitliche Atmosphäre, es trägt eine Aura der Verzweiflung, die sich in den Lyrics direkt spiegelt.

Ein großer Teil dessen ist verknüpft mit dem Tod von Bandmember Stepa J. Groggs, der posthum noch mit zwei Verses auf »By the Time I Get to Phoenix« erscheint. Die Albumproduktion begann schon zuvor: Nach einem improvisierten Auftritt im Hinterzimmer eines italienischen Restaurants in Stockholm auf ihrer Europa-Tour im Herbst 2019 fassten Injury Reserve den Entschluss, neue Sphären zu erkunden. Im weiteren künstlerischen Prozess verließen sie sich besonders auf Intuition und Improvisation, auf den Mut zum Experiment. »Just make some weird shit«, sagte Groggs noch. Mitte 2020 verstarb er überraschend und ließ die anderen Mitglieder Ritchie With A T und Parker Corey in Trauer und Schmerz zurück. Der Großteil der Texte war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits geschrieben. Die weltweite Pandemie, die Polizeigewalt in den USA inklusive dem Mord an George Floyd, der Aufstieg von Verschwörungstheorien und der immer gravierender auftretende Klimawandel – »By the Time I Get to Phoenix« nutzt das zeitgeschichtliche Chaos als fütternden Teppich und verstörende Grundlinie. Stellenweise wirkt dieses Album wie ein letztes Aufbäumen vor dem sicheren Ende – und damit eine düstere Voraussicht auf den Tod des Bandmitglieds.

Es ist nach diesen Beschreibungen wohl kaum ein Wunder, dass Ritchie With A T schon im Opener »Outside« eine Dringlichkeit an den Tag legt, die kaum überboten werden kann: »Let’s cut all that bullshit / What’s the elephant in the room? Let’s talk to him, c’mon«. So wirklich kommt er nicht auf den Elefanten zu sprechen, so einfach ist er aber sicher auch nicht zu greifen. Es heißt später: »But let’s be honest here / This don’t end with agree to disagree, it ain’t possible / There’s just some things / There’s just some things that ain’t right«. So diffus die Substanz doch bleibt, der Bruch ist deutlich spürbar. Hier geht es nicht um die kleinen Ärgernisse ihres Debütalbums, nicht um die HipHop-Szene, nicht um Kritik an der Fashion-Industrie oder Unzufriedenheiten mit dem eigenen Schaffen. Die Welt ist zerbrochen und verbrannt. Von hier an ebbt das Level an Konfrontation und Verzweiflung nicht mehr ab. Das wohl größte Zeichen der Versöhnlichkeit findet sich erst auf dem letzten Lied, »Bye Storm«: »It rains, it pours, but, damn, man, it’s really pourin‘«.

Dazwischen bleibt das Album konstant wild, es ist vor allem: Ein Erlebnis. Die verzerrten Samples sind crushing, die Lyrics bieten nur selten einfache interpretative Zugänge an. Und wenn, dann keineswegs Erbauendes. Auf »Superman That« schüttet Ritchie With A T mit dem stimmlichen Einsatz eines »808s & Heartbreaks«-Kanye seine gesamte Hilflosigkeit aus: »Ain’t no savin‘ me, ain’t no savin‘ me or you«. Darauf folgt »SS San Francisco«, der Rapper berichtet vom Immobilienkauf wie aus einem Kriegsgebiet. Alltägliches bläht sich zu unüberwindbaren Hindernissen auf, ähnlich gestaltet sich die Kartenzahlung auf »Knees«. »Wild Wild West« bietet eine ausgebrannte Gegenwart zwischen Will Smith-Referenzen, 5G-Türmen und elektrischen Luxusautos an, einen weiteren Ort der Zerstörung präsentiert Ritchie With A T mit »Ground Zero«. Das darauffolgende »Smoke Don’t Clear« weist den Weg aus dem Untergang, um im gleichen Atemzug anzuerkennen, dass es niemals so wird wie früher: »Strap up your own boots, it’s all uphill from there«. Im Gegensatz zur Leichenfledderei der Industrie, man denke an Pop Smoke, zeichnet sich der posthume Charakter des Albums dadurch aus, dass nicht die verbleibenden Verses von Groggs, sondern dessen Abwesenheit ins Zentrum der Musik gerückt wird. Immer wieder muss man sich in Erinnerung rufen, dass hier zwischen sich überlagernden Worten, verglitcht programmierten Drums und verzerrten Bassläufen wirklich einige Rap-Parts versteckt sind.

Das hängt auch damit zusammen, dass sich die Rapper in ihrer Delivery wenig an zeitgenössische Regeln halten, mal verschwimmt die Grenze zum Spoken Word, mal ist statt Adlibs eine gesamte Spur lauten Atmens und Schreiens hinter den Verses zu hören. Der sonst häufig ruhige und nachdenkliche Stepa J. Groggs präsentiert sich auf »Footworks in a Forest Fire« fast manisch. »You better run and hide / Take yo‘ ass inside / If you don’t go, breathe the air / You might just stay alive« schreit er in den über alle Stränge schlagenden Loop von Parker Corey hinein und evoziert damit nicht nur Assoziationen an Covid-19, sondern auch an das »I Can’t Breathe« der #BlackLivesMatter-Proteste. Auf demselben Song beendet Ritchie With A T seinen Part mit Zeilen, die erschreckende Nähe zu den Geschehnissen vom 6. Januar 2021 rund um das US-amerikanische Kapitol aufweisen, obgleich die Arbeit am Album laut eigener Aussage zu diesem Zeitpunkt bereits beendet war. »They got bear masks and bows / Everything that you don’t, they been plotting on this moment / We laughed at ’em and joked / There’s one thing I know / Is that we in this thang alone«. Die Direktheit der Performance erschafft im Zusammenspiel mit der eindringlichen Produktion von Parker Corey eine enorme Intensität. Unter diesem Eindruck ist »By the Time I Get to Phoenix« sicherlich kein Album zum Hören nebenbei, es verlangt vollste Aufmerksamkeit.

Die überbordende Verzweiflung lässt Ritchie With A T nicht abstumpfen. Das zeigt der ebenso aufrüttelnde wie zerschmetternde Track »Top Picks For You«, der Songtitel eine Referenz an die Empfehlungen des Netflix-Algorithmus. Über den Song hinweg reflektiert der Rapper den Sachverhalt, dass die Algorithmen auch noch dem Tod eines Menschen nicht aufhören, für diesen zu arbeiten. »Your pattern’s still in place«, wiederholt er immer wieder. Das beschriebene Phänomen ist ein Überbleibsel, eine fragmentarische Spur, die der verstorbene Mensch hinterlässt. Ritchie With a T sammelt dieses Bruchstück auf, bestaunt es, ist fast ohnmächtig im Anblick dieser Diskrepanz zwischen Technik und Menschheit. Wie sich dieses Muster im Kleinen und Großen wiederholt, ist »By the Time I Get to Phoenix« insbesondere Ausdruck einer Gegenwart, in der sich alle Widersprüche unversöhnlich gegenüberstehen. Injury Reserve zeigen kein Interesse daran, die Brüche zu versiegeln, die Risse zu reparieren. Stattdessen verstellen sie die Fragmente einer bereits verlorenen Welt gegeneinander, lassen Reibung entstehen, die über die gesamten 41 Minuten Spielzeit nieder- und zerschmettert. Die Trauer und Wut, der Schmerz und Kummer sind zerreißend.