Haftbefehl Russisch Roulette

Haftbefehl – Russisch Roulette
ALL GOOD Punchline Oh, Junge!

»Short Storys von der Wucht eines Clemens Meyer und der Verspieltheit eines Dadaisten auf Speed«, vorgetragen mit einem Flow »irgendwo zwischen Ticker vom Bahnhof und Ebbelwoi-Suffi«, und »perfekt harte Beats«. So. Nachdem das Feuilleton in der vergangenen Woche einmal geschlossen über die neue Haftbefehl drübergerutscht ist, sind wir dann auch mal noch dran. Wobei. Was soll man zu der Platte hier eigentlich noch groß sagen, außer, dass dieser 14-Track-starke Vorschlaghammer-Mittelfinger-Trockenarschfick-mit-Anlauf einfach die beste und wichtigste deutschsprachige HipHop-Platte des Jahres ist?

Während sich Realkeeper und Kulturpessimisten gleichermaßen einpissen und von Stagnation oder Backlash faseln, hat Aykut Anhan einfach mal eben eine ganze Fuhre pures Flex auf den state of the art draufgeschippt und gezeigt, was da eigentlich genau geht, wenn man sich von nix und niemandem etwas vorschreiben lässt. Das geht schon bei den Beats los: zur Seite mit Block- oder Platinseite. Hier gibt’s einfach bös’ ins Fressbrett geballerte Beats, deren Bässe einem den Dreck aus der MacBook-Tastatur pusten, während einem die Ohren noch vom Snaregeratter klingeln.

Und damit meine ich nicht die dilettantischen Deutschrapversuche, »jetzt auch mal Trap zu machen«. b∆Zz∆zi∆N, vormals Benny Blanco, und Farhot haben hier dermaßen laute, breite und basslastige Dinger geschraubt, dass mir wirklich nicht einfallen will, wie man das zu beschreiben hat. Minimaler Maximalismus trifft auf tollwütige Trap-Motive und beschert einem für rund 60 Minuten ein astreines stank face.

Beats, die sich natürlich wunderbar für komplett spinnerte Freidreher wie »Saudi Arabi Money Rich« oder »Ich rolle mit meim Besten« eignen. Beats, auf denen Hafti Abi mit seiner 500-Gramm-Kette klimpert, Verträge mit dem Penis (vgl. Kool Savas in »B-Stadt«, 1997) unterschreibt, sündhaft teuren Schampus ins Pissoir seines Stammitalieners strullt und mit geöltem Auto-Tune-Organ in bester Future-Manier gemeinsam mit Miss Platnum seiner »Anna Kournikova«-Handfeuerwaffe schmeichelt.

Aber »Russisch Roulette« auf dieses – durchaus gelungene und Restrapdeutschland zu Sexworkersöhnen degradierende – Größenwahngelaber zu reduzieren, wäre falsch. Denn Haftbefehl ist seit Azad der erste Straßenrapper, der es schafft, in Stücken wie »Seele« oder »Engel im Herz, Teufel im Kopf« all die Aussichtslosigkeit abgefuckter Parallelgesellschaften im Offenbacher Umland und anderswo so dermaßen authentisch einzufangen, dass einem ganz schön anders werden kann. Eben, weil da nicht mit pathetischen Allgemeinplätzen jongliert wird.

Es liegt vielmehr an Haftbefehls beeindruckender Beobachtungsgabe und dem einzigartigen Talent, das Gesehene und Erlebte in einem intuitiven Assoziationsprozess und durch Manipulation von Vokalquantität in eloquentes und authentisches Straßenesperanto umzuwandeln. In Offenbach weiß jeder, was baba nouga oder haram para ist. Hier reimt sich auch Tijara auf Wienerwald – und was nicht passt, wird eben passend gemacht.

Aber es braucht gar nicht unbedingt dieses maghrebinisch eingefärbte Rotwelsch zur authentischen Schilderung des Offenbacher Alltags – wenn Haftbefehl von Adidas-Knopfhosen oder Nokia-Handybanane redet, weiß jeder, was gemeint ist. Diese eben genannten Throwback-Begrifflichkeiten der Generation-D-Mark stammen übrigens aus den drei ebenfalls mehr als gelungenen, episodenartigen »1999«-Skits, die auf unprätentiöse Weise Haftis Kindheit und seine Initiationsmomente als Drogendealer revue passieren lassen.

Mag sein, dass man hier auch abseits des starken Kaaris-Features auf »Haram Para« an anderer Stelle mal Kaaris raushört – und kann auch sein, dass einen der Beat von »1999 Pt. 2« krass an »The Art of Peer Pressure« von Kendrick Lamar erinnert. Aber wisst ihr was? Ist doch scheißegal. Echt. Es ist einfach scheiß-e-gal. »Russisch Roulette« ist das Album, das Haftbefehl vermutlich immer machen wollte. Jetzt hat er es getan – und es ist grandios geworden.

Für alle wollsockentragenden Lauchiberts, die immer noch behaupten, dass dieser Riese aus dem Rhein-Main-Gebiet mit dem Rachenkratzerflow nicht rappen könne oder mit gefährlichem RTL2-Halbwissen etwas von »Gangsta«-Kauderwelsch und Möchtegern faseln: »Russisch Roulette« steht ab heute in jeder gut sortierten Deutschrap-Plattensammlung – und euer Bild hängt für immer im Azzlack-Duden. Wo genau, müsst ihr bitte selbst nachschlagen.