Gravediggaz Niggamortis/6 Feet Deep

Gravediggaz_6 Feet Deep
ALL GOOD Punchline Todsicherer Klassiker.

Die goldene Ära – so schillernd war sie nicht. Zumindest nicht für alle. Die frühen Neunziger waren eine Zeit der Enttäuschung und dunklen Gedanken über das Scheitern und die kreative Fehlbarkeit. Das Jahr 1994 mag das Jahr der Golden-Era-Klassiker gewesen sein – für manche, die diese Kleinode der Musikgeschichte machten, war die Zeit jedoch keine leichte. Im Nachhinein fällt die Erklärung, wieso Gravediggaz’ »6 Feet Deep« so klingt, wie es klingt, nicht sonderlich schwer. Damals™, Anfang der Neunziger, wusste man nicht so richtig, was man davon halten sollte. Die Grundvoraussetzungen jedenfalls – Enttäuschung und Verbitterung – wollten nicht so ganz in die aufkommende Goldgräberstimmung passen. Sagen wir es mal so: Jeder einzelne der Gravediggaz durchlebte eine ziemlich beschissene Zeit.

Poetic hätte nach einer mehr als passablen Single »Poetical Terror« 1989 eigentlich ein Album für Tommy Boy machen sollen. Die kurze Geschichte: Man droppte ihn. Die finanzielle Lage war, mal schön ausgedrückt, schwierig. Poetic lebte teilweise auf der Straße. Auch The RZA war zur gleichen Zeit eher schlecht auf Tommy Boy zu sprechen. Auch wieder Label-Bullshit-Bingo. Eigentlich sah es 1989 zu seiner Single »Ooh I Love You Rakeem« gar nicht so schlecht aus. Zu dieser Zeit hieß er selbstredend noch Rakeem und welche Geschichte der Wu-Tang Clan, RZAs Zusammenschluss mit Verwandten und Bekannten aus der Nachbarschaft, schreiben sollte, hatte man zu der Zeit noch wirklich nicht auf dem Zettel. Frukwan, vielleicht der beste Lyricst bei Stetsasonic, verließ die Gruppe noch vor Veröffentlichung ihres letzten Albums »Blood, Sweat & No Tears«. Der Grund: interne Probleme. Und: Es gab Stress mit dem Label Tommy Boy. Prince Paul schließlich, der kreative Kopf hinter den Gravediggaz, verfluchte die Szene, die ihn nur wenige Jahre zuvor noch für seine Arbeit an De La Souls Debüt und seine eigene Band Stetsasonic gefeiert hatte. Er musste sich anhören, dass er es nicht mehr in sich habe. »De La Soul Is Dead« wollte zu der Zeit kaum einer hören. Stetsasonic waren tatsächlich tot.

Man schrieb also das Jahr 1991 und mit einem nicht ganz so positiven Mindset haute Prince Paul auf die Knöpfe seiner Akai S900 und nahm etliche Beat-Skizzen auf, die den jovialen D.A.I.S.Y.-Age-Sample-Entwürfen und dem verrückt spielerischen Stetsasonic-Kosmos diametral entgegengesetzt standen. Stoische Drums, dunkel verzerrte Samples, fies leiernde Loops und der eine oder andere Ton der Moll-Tonleiter. Dazwischen konnte durchaus auch mal kurz die Sonne aufgehen – aber nur, um sogleich durch Ironie oder markerschütternde Klänge wieder verdunkelt zu werden. Mit diesen ersten Sound-Schnipseln auf Diskette lud Paul also ein paar Freunde, die er gern über diese Beats rappen hören wollte, zu sich ins Studio nach Long Island ein. Prince Rakeem, der – so die Legende – zum ersten Mal auf seinen späteren Namen RZA durch das Gravediggaz-Alias The RZArector gekommen sein sollte. Frukwan, zu Gravediggaz-Zeiten als The Gatekeeper unterwegs, und Poetic, der sich hier zum Grym Reaper verwandelte. Prince Paul firmierte für das Projekt unter dem Namen The Undertaker. Die Geladenen ließen sich nicht zweimal bitten, sich auf diesen dunklen Instrumentals ihren aufgestauten Frust – so viel Phrase sei erlaubt – von der Seele zu rappen.

Mitte 1992 stand also nach einigen Sessions eine Hand voll Tracks. Neben dem ersten gemeinsamen Song überhaupt –»The House That Hatred Built«, der es nicht auf das Album schaffte – auch»Freak The Sorceress«,»1-800 SUICIDE«, »2 Cups Of Blood« sowie »Pass The Shovel«.

Genau diese Songs landeten auf dem Demo, mit dem Paul Mitte 1992 bei jedem gottverdammten Label des Landes vorstellig wurde. (Die Songs, so eine weitere Legende, sollen übrigens bereits in genau der Version gewesen sein, in der sie auf dem endgültigen Album landeten.) Doch keiner wollte das Projekt signen. Sagen wir mal so: Die ohnehin schon frustrierten Protagonisten waren jetzt noch ein wenig frustrierter. Während die Monate also ins Land zogen, produzierte Prince Paul De La Souls »Buhloone Mind State«, RZA begann langsam, aber sicher mit seinem Wu-Tang Clan komplett durch die Decke zu gehen, im Großen und Ganzen blieb aber immer noch genug Platz für Hass und Enttäuschung, dem derber Witz und morbider Charme entgegengesetzt werden musste. Was also tun? Es wurde weiter gegrantelt in Paul’s Coffee Shop (so der inoffizielle Name von Pauls Studio) und die Granteleien mit kleinen Spitzfindigkeiten und Scherzen aufgepeppt.

»Who killed Tommy’s boy?« zum Beispiel aus »360 Questions« ist natürlich ein direkter Hieb gegen das Label Tommy Boy, mit dem sie alle irgendwie Stress hatten. Der Schmäh bleibt dennoch einer der wenigen offensichtlicheren Lines auf dem fast einstündigen Werk. Die Lyrics dienten an vielen Stellen nur dazu, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, einen Platz zu schaffen für absurde Flow-Spielereien und dystopisches Kopfkino. RZAs erster Verse auf dem Album – wieder so eine Legende: RZA soll den letzten Part des ersten Tracks nur deswegen bekommen haben, weil er der letzte Rapper im Studio war – gibt den Mindset der Truppe recht gut wieder: »RZArector, ha ha ha ha, ha ha ha ha/Hooah, hooah, hooah, hoo!« Gepflegtes Durchdrehen eben. Mit großer Ernsthaftigkeit ging man hier nicht ans Werk – dies zeigt auch seine letzte Line des Parts: »Positive Energy Activates Constant Elevation« und damit das Akronym »PEACE«.

Überhaupt RZA. Seine Rolle im Gravediggaz-Kosmos war eine grundlegend andere als bei »Enter The Wu-Tang«. Beim Wu-Tang-Debüt trat er als Rapper kaum in Erscheinung. Er musste sich dort eben nicht nur um die gesamte Musik, sondern auch die komplette Wu-Tang-Philosophie kümmern (von der Organisation des Haufens mal ganz zu schweigen). Bei den Gravediggaz orchestrierte Prince Paul – als musikalischer Leiter, aber auch organisatorischer Kopf. Vielleicht hat RZA auch deswegen einige der besten Lines seiner gesamten Karriere auf »Niggamortis«. Sein Schlagabtausch mit dem Grym Reaper auf »2 Cups Of Blood« ist legendär: »Hocus pocus, yo! What’s the focus?/Weak techniques you speak, the shit is bogus.«

RZA produzierte auf dem gesamten Album lediglich drei Beats – mit »6 Feet Deep« ein so schiefes wie geniales Stück RZA-Wahnsinn und mit »Graveyard Chamber« und »Diary Of A Madman« sogar zwei, die in einer RZA-Best-of-Liste durchaus mal vorkommen dürfen. Dabei hat RZA bei dem Beat für »Diary Of A Madman« nie selbst Hand angelegt. Den Loop schnipselte RNS – ein nicht ganz so unwichtiger Wu-Tang-Affiliate, der RZA einst das Produzieren beigebracht haben soll – aus einer Auto-Werbung, RZA zeigte ihn Prince Paul, der den Loop wiederum von Kassette zog und den fertigen Beat daraus baute. Weil RZA mehrfach betonte, dass RNS unbedingt der Credit für den Loop zugeschrieben werden muss, kam wohl etwas durcheinander. Der Kommunikation für die erste Single schadete das Malheur, dass der Wu-Tang-Head Honcho in den Credits stand, natürlich gar nicht. »Diary Of A Madman« wurde zur ersten Single von »6 Feet Deep«, die auf Platz 89 der Billboard Charts (eine Überraschung!) einstieg und sogar mit einem Video von Hype Williams aufwartete. Fun Fact: Scarface hatte drei Jahre zuvor einen Song mit dem gleichen Titel auf seinem Solo-Album »Mr. Scarface Is Back« platziert.

Nicht die einzige (mögliche) Referenz zu den Geto Boys. Sie hatten natürlich bereits ein Jahr zuvor mit »Six Feet Deep« einen Top-40-Hit, auf dem es aber eher um die harsche Realität im Ghetto ging, als um den ersten Entwurf einer überzeichneten Horror-Welt. Die hatten die Geto Boys ja bereits fünf Jahre zuvor mit »Grip It! On That Other Level« und 1991 mit »We Can’t Be Stopped« beackert. Wenn man die Geto Boys erwähnt, landet man zwangsläufig bei der Diskussion um das Wörtchen »Horrorcore«. Es soll Menschen geben, die sagen: Natürlich haben die Geto Boys das Subgenre erfunden. Wiederum gibt es Menschen, die das Gleiche über die Gravediggaz sagen. Zu guter Letzt ist Kool Keith davon überzeugt, dass er all das erfunden hat. Fakt ist: Nach den Releases der Geto Boys, der weitaus expliziteren Werke von Esham oder der Crew Insane Poetry, »South Park Psycho« von Ganksta N-I-P (1992), den ersten Gehversuchen der Insane Clown Posse waren es die Gravediggaz, die Horrorcore zu einer neuen Breitenwirksamkeit verhalfen. Ein Grund mag einmal mehr die US- und weltweite Missachtung des Dirty South und seiner auf Jahre hinaus maßgebenden musikalischen Strömungen sein. Allein dass das Label Horrorcore aber auch nur irgendwie ein bisschen mit dem verrückt-kreativen Prince Paul in Verbindung gebracht wird, ist schon Ding genug.

Tatsächlich witterte zumindest ein Entscheider in den Chefetagen des Nukleus der HipHop-Industrie in New York eine mögliche Kommerzialität der Rap-Facette Horrorcore. Der Legende nach soll Def-Jam-Boss Russell Simmons von den Plänen der Gravediggaz-Platte Wind bekommen haben. Oder besser: Natürlich wusste Russell Simmons von der Gravediggaz-Platte, weil Prince Paul sie auch dort vorgestellt hatte. Kurzerhand engagierte Simmons seinen Cousin Jamal für die Horrorcore-Castingband Flatlinerz und stellte seine eigene Crew zusammen, die nur einen Monat vor »6 Feet Deep« ihr Debütalbum »U.S.A. (Under Satan’s Authority)« veröffentlichte. (Darauf hatte übrigens Da Rockwilder mit seine ersten Produktionen.)

Dass kommerzieller Erfolg und eine lange künstlerische Halbwertzeit nicht allein mit einer Akkumulierung von Schockmomenten erzielt werden kann, stellte der direkte Vergleich unter Beweis. Flatlinerz‘ »U.S.A.« erzielte eher magere Verkaufszahlen, die der Marktmacht Def Jams nicht im Entferntesten gerecht wurden. »6 Feet Deep« stieg auf Platz 36 der Charts ein. Für das Label Gee Street ein Erfolg. Nicht nur, weil sie dadurch ihre Stellung als Alternative zu Marktführern wie eben Def Jam behaupten konnten – Gee Street war der Inbegriff für so etwas wie Underground-Rap. In einer Zeit, in der der Wu-Tang Clan gerade durch die Decke ging, grenzte es an eine ganz bewusste Verweigerungshaltung, Gravediggaz-Mitglied RZA nicht präsenter in den Vordergrund zu stellen. Doch bei Gee Street war man sich darüber einig, dass man sich nicht auf den Charakter The RZArector stützen möchte, sondern dass es um Paul und das Gesamtkunstwerk gehen soll. Dass der Wu-Tang Clan so abgehen würde – damit hatte sowieso keiner gerechnet. Deswegen erwartete man dann auch bei Gee Street keinen riesengroßen Erfolg.

Die Produktion von »Niggamortis« war demnach auch in erster Linie eine DIY-Veranstaltung als ein Großprojekt in High-End-Studios. Die endgültigen Songs auf dem Album blieben die ursprünglichen Demo-Tracks – direkt aus Prince Pauls Tascam-8-Track-Deck und der Akai S900. Die Parts von Biz Markie oder MC Serch wurden auf einer portablen DAT-Maschine aufgenommen. Auch hier verzichtete man übrigens auf Promo-getriebenes Namedropping. Die Gäste waren Freunde, die man für das Projekt begeistern konnte. Oder auch Beispiele für RZAs Nachwuchs-/Talentförderungsmaßnahmen, wie sie in den Folgejahren so oft mit manchmal mehr, manchmal weniger gutem Ausgang praktiziert wurden. RZA lotste also noch Shabazz The Disciple sowie Killah Priest ins Studio. Für »Graveyard Chamber« motivierte er schließlich Dreddy Krueger zu einem seiner besten Verses überhaupt.

»Niggamortis« ist durchzogen von sich immer neu wiederholenden Versatzstücken. Ein Punkt, der auf einem HipHop-Album natürlich nicht zwangsläufig so hervorzuheben ist. Hier sind die Loops jedoch ein besonders elementarer Teil des Konzepts. Sie sind einerseits Schockmittel wie die disharmonischen Störgeräusche auf »Bang Your Head« oder der in Mark und Bein gehende Geisterbahn-Gesang von »Diary Of A Madman«, andererseits eine Form von Folter wie der in der Endlosschleife gefangene Piano-Loop von »Constant Elevation«, die immer und immer wieder deckungsgleich angeschlagenen Gitarrensaiten von »2 Cups Of Blood« oder natürlich die scheppse Untoten-Kapellen-Vorstellung von »6 Feet Deep«. Oder aber die Loops erfüllen die Funktion, ein kurzzeitiges Sicherheitsgefühl zu erzeugen, etwa durch warme Harmonien wie dem grandiosen Basslauf von »1-800 SUICIDE« oder dem käsigen Gitarren-Lick von »Mommy, What’s A Gravedigga«. »6 Feet Deep« – lediglich die Europa-Version behielt den durchaus zur Kontroverse taugenden Titel »Niggamortis« – ist und bleibt jedoch ein Horror-Rap-Album – nur eines von und für Nerds. Eine Gangsta-Rap-Platte mit Charme und Humor. Dabei kein Ostküsten-Äquivalent zu den musikalischen Strömungen aus Houston oder Memphis, aber eben auch etwas grundlegend anderes als die »Juvenile Hell« zweier gerade volljähriger Burschen, die mit Hand-Sensen durch die Nachbarschaft tingelten.

Ein Vergleich mit dem damaligen Status quo des Genres fällt schwer, obwohl die Qualität der Platte auf die Konkurrenzsituation zurückzuführen ist. »It was a time when I felt like I had to prove myself. People thought I had fallen off, they were on to the new, hot guys like Pete Rock.« So drückte Prince Paul mal seine Motivation für die Platte aus. Wahrscheinlich ist deswegen »6 Feet Deep« Prince Pauls vielleicht bestes Album. Die spielerischen Elemente, durchaus dezidierter Teil Prince Pauls Produzentenhandschrift, weichen einer relativen Härte, blitzen aber immer wieder auf. Und immer dann, wenn man glaubt, den roten Faden des Albums verstanden zu haben, reißt Paul das Ruder herum und überrascht mit einer musikalischen Finte oder lässt einem der Rapper genug Raum für eine abseitige bis absurde Ansage oder von der Norm abweichende Flow-Spielereien.

Die Geschichte der Gravediggaz endet – das ist traurig und konsequent zugleich – im Tod. Am 15. Juli 2001 erliegt Too Poetic seiner kurzen und qualvollen Krebserkrankung. Er stirbt im Cedars-Sinai Medical Center im Fairfax-Bezirk von Los Angeles. Dort, wo Eazy-E an den Folgen seiner AIDS-Infektion starb, Notorious B.I.G. nach den tödlichen Schüssen für tot erklärt wurde und James »J Dilla« Yancey während den letzten Wochen seines viel zu kurzen Lebens mit geschwollenen Fingern und schwachem Körper, einem Stapel Platten und einem Laptop sein legendäres Album »Donuts« aufnahm. Es bleibt, wie es war, ist und immer sein wird: »There’s no need to cry/’cause we all die.« Das Ende – es ist für alle da.