Curse Feuerwasser

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ALL GOOD Punchline Ostwestfälische mood music!

Es muss ein Morgen im Frühjahr 2000 gewesen sein: Der Wecker klingelt um 5.55 Uhr. Schlaftrunken schäle ich mich aus dem Bett und schleiche vorsichtig die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Ich drücke die »Zurückspulen«-Taste auf dem Videorekorder, bis die Kassette wieder am Anfang steht – anschließend »Play«: Ein Radiosendersuchlauf ertönt. »Ich rock‘ die Scheiße fett / fett-fette Beats, fette Reime…«, ein Comic-Männchen zielt mit der Pistole auf mich. Es folgt ein Testbild samt charakteristischem Fiepen und schließlich das »Fett MTV«-Logo. Weil die Sendung erst zu später Stunde lief, nahm ich sie jeden Abend auf und schaute mir das Spektakel dann am nächsten Morgen vor der Schule an. So weit die Routine.

Aber an diesem einen Morgen im Frühjahr 2000 wurde meine Routine gehörig aufgewirbelt. Von einem jungen Mann, dessen Video in der Sendung Premiere feierte. Verblichene und verwaschene Super-8-Aufnahmen zeigten einen Typen, der Papier in eine Schreibmaschine spannt, nach kritischem Blick durch seine superdicken Brillengläser mit Ein-Finger-Suchsystem begintt, einen Text zu tippen, teeschlürfend und sinnierend am Fenster seiner Wohnung steht und dabei in die Nachmittagssonne blinzelt, an einem Strand und zwischen den sattgrünen Blättern eines Waldes rappt, Zweizeiler in sein stickerbeklebtes Textbuch schreibt, mit riesengroßen Kopfhörern auf den Ohren den öffentlichen Personennahverkehr benutzt und dabei fragt: »Glaubt ihr an die wahre Liebe?«.

Ich war gerade 13 Jahre alt, aber ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass wirklich etwas anders war als vorher. Generell und auch, was meine Identifikation mit HipHop anging. Die Fantastischen 4? Damals schon ein wenig albern. Das Rödelheim Hartreim Projekt? Guter Sound, aber letzten Endes zu aggressiv – und das Hessisch nervte halt schon auch ein bisschen. Die Beginner und Dynamite Deluxe? Gut aber zu spaßig, bzw. Battlerap-lastig. Freundeskreis? Schien sehr wichtig, nur: außer den Briefen mit Unterschriftenlisten, die meine Mutter von Amnesty International bekam und an ihre Freundinnen weitergab, hatte ich mit derlei Themen wenig am Hut.

Aber das hier war anders. Nach unbeschwerten Grundschulzeiten und einem smoothen Start ins Gymnasiasten-Dasein verspürte ich das erste Mal so etwas wie einen subtilen Weltschmerz und eine ungeahnte Form der Melancholie in mir aufbranden. Es war eben doch nicht alles nur 1er im Diktat schreiben, nachmittags mit den besten Freunden Klingelstreiche und Kicken, sich an den Wochenenden bei Opa und Oma den Bauch mit Süßigkeiten vollschlagen und vor’m Fernseher die Augen viereckig gucken.

Plötzlich waren da Mädchen (die man toll fand), Freunde (die sich veränderten) und Eltern (die anstrengend wurden) und mit all dem kamen so unendlich viele Fragen. »Feuerwasser« lieferte auf all diese innerlichen Irrungen und Wirrungen auch keine schlussendlichen Antworten, aber es sorgte dafür, dass ich mich nicht ganz so alleine fühlte. Auf »Wahre Liebe« stellte Curse die – für mich als Pfarrerssohn – damals wichtigste und richtigste aller Fragen und inszenierte sich gleichzeitig als gefühliger und unverstandener Antiheld ohne Sonderlingsstatus. Das gefiel mir.

Genau wie der Song »Entwicklungshilfe«, das sich, zumindest kurzzeitig, zu einer Art Denk- und Handlungsleitfaden und Pubertätspamphlet entwickelte. Insbesondere der grandiose Sieben-Remix mit Billy-Cobham-Sample, welcher später auf der »Juice Masterblaster Compilation II« veröffentlicht wurde, erinnert mich bis heute an einige der besten Momente meines Lebens. Und auch wenn »Licht und Schatten« mit J-Luv im Hinblick auf seine gesellschaftskritische Argumentationskraft recht dünn und ahnungslos daherkam, formulierte es doch schön eine gewisse Grundskepsis aus.

Aber »Feuerwasser« hatte auch eine vorbereitende Funktion für mich: »Hassliebe« gab mir zum Beispiel das Rüstzeug für die erste Beziehungskrise meines Lebens mit auf den Weg. Das atmosphärische und dichte Outro »Schlussstrich«, in dem Curse einen Traum über seinen eigenen Selbstmord schildert, ließ mich fassungslos zurück. Und wenngleich »Leavin’ Las Vegas« einerseits dafür sorgte, dass ich Durst auf Biermischgetränke bekam, lehrte mich das Zeigefinger-Zwiegespräch »Unter 4 Augen« zwischen Curse und dem Rauschmittel Cannabis schon damals – und ohne, dass ich auch nur einmal an einem Joint gezogen hätte – eine gewisse Vorsicht gegenüber illegalen Rauchwaren.

So weit, so moralisch. Aber natürlich war »Feuerwasser«, für dessen Konzept Curse und Produzent Busy später »Illmatic« von Nas heranzogen, auch aus reiner HipHop-Sicht eine Offenbarung: die ging schon mit dem Opener »Zehn Rap Gesetze« los – zehn Gesetze, die noch bis heute in meinem Kopf nachhallen und bisweilen als Maßstab meiner Arbeit als HipHop-Schreiber fungieren. »Kaspaklatsche« und »Weserwasser« waren einfach Rap-Rumgeflexe auf Ostwestfalen-Slangbasis at its best, während »Seance« mit den Arsonists, Shabazz the Disciple und den Stieber Twins sowie »Auf uns ist Verlass« mit Tone noch eine Schippe Battleraps und Punchlines oben drauflegte. Songs wie »Doppeltes Risiko« oder »Harte Zeiten« klärten ausserdem schon im Vorfeld von »Feuerwasser«, dass Curse nicht nur dem Chef-Emo geben, sondern auch richtig spitten kann – was nicht zuletzt auch den eigenwilligen Produktionen von Lord Scan, Iman, DJ Feedback, Peer Bee und Busy geschuldet ist.

All das machte »Feuerwasser« zu einer äußerst erstaunlichen Angelegenheit, weil dieses Album für mich als erste Deutschrap-Platte derart viele Facetten vereinte. Die »Juice« beschrieb diese ostwestfälische mood music damals sehr treffend als Mischung aus »Naivität und Durchdachtheit, Emotion und Technik, juveniler Feierlaune und erstaunlichem Ernst«. Ich bin froh, dass es genau diese musikalische Melange aus Minden gewesen ist, die mich seinerzeit an der Hand nahm und ein Stück mit mir ging. Danke dafür.