Aphex Twin Syro
Zum Einstieg drei gute Gründe, warum man sich als HipHop-Fan für das neue Album von Aphex Twin interessieren sollte:
1. Aphex Twin ist der bedeutendste Komponist zeitgenössischer elektronischer Musik. Jeder, wirklich jeder HipHop-Produzent schuldet ihm was, allen voran die progressive Beat-Generation von Madlib bis Flying Lotus.
2. Aphex Twin ist fast genauso größenwahnsinnig wie Kanye West (der Aphex Twin übrigens auf »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« gesamplet hat.) So soll er mal gesagt haben: »It sounds really arrogant, but my music’s my favourite music ever. I prefer it to anyone else’s.«
3. Aphex Twins »Windowlicker«-Video (1999, Regie: Chris Cunningham) ist die lustigste und am wenigsten hochnäsige Karikatur von HipHop-Video-Klischees.
Nun war es tatsächlich eine kleine Sensation, dass Aphex Twin nach 13 Jahren ein neues Studioalbum veröffentlichen würde. 2001 erschien sein letztes Album »drukqs«, dazwischen gab es nur kleinere Lebenszeichen in Form von anonymen Acid-House-EPs und unangekündigten DJ-Gigs. Und weil man prinzipiell nichts glauben sollte, was Richard D. James (wenn er denn überhaupt so heißt) in Interviews von sich gibt, weiß man eigentlich nicht, warum es so lange so still um den Mann war, der von Kritikern in einem Atemzug mit Karlheinz Stockhausen, John Cage, Brian Eno und Derrick May genannt wird.
Laut James ist das heute erschienene »Syro« eine kleine Auswahl von Songs (er habe mehrere Alben in der Schublade liegen), die über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden sind. Die Kampagne zur Platte läutete das Warp-Label mit einem Werbe-Zeppelin ein, der über London flog, dann gab es ein Tracklisting über einen Deep-Web-Link und eine Reihe von Listening-Events. Das via Tor-Browser enthüllte Cover von »Syro« zeigte nicht mehr als den Ausschnitt einer Label-Abrechnung zu den Promotion- und Reisekosten, und in den wenigen Interviews, die James im Vorfeld gab, stilisierte er sich als Einsiedlerkünstler in der schottischen Provinz. Am Ende bleibt uns zur Analyse nicht viel mehr als die Musik. Vielleicht ist es genau das, was Aphex Twin mit all dem prätentiösen Getue bewirken will.
»Syro« beginnt mit dem Track »minipops 67«, den man auch bereits vorab bekam, wenn man sich das Album digital vorbestellte und der deshalb am ehesten als so etwas wie die offizielle »Single« gelten kann. Mit seinen verzerrten, unverständlichen Vocals, den rollenden Drums und den verspielten Synthies klingt der Song genau so, wie man sich Aphex Twin 2014 vorgestellt hätte. Obwohl der Track aufs erste Hören nicht sonderlich aufregend wirkte, offenbarte er hohes Suchtpotenzial. Bei jedem Durchlauf entdeckte man ein neues Element, einen anderen Kniff oder eine besondere Dissonanz. Sprich, der Meister lieferte hier einen weiteren Beweis seiner Genialität, ohne dabei in die Falle zu tappen, aufgrund der hohen Erwartungen effektheischend zu werden.
Bekanntlich hat Aphex Twin die besten Songtitel der Welt. Auf »Syro« heißen die Tracks z.B. »fz pseudotimestretch+e+3«, »4 bit 9d api+e+6« oder »s950tx16wasr10 (earth planet mix)«. Letztlich wirkt es reichlich zufällig, wo genau auf »Syro« die Trackmarks gesetzt wurden, denn alle paar Takte ändert sich ohnehin irgendwas. Einzelne Tracks herauszustellen, wäre sinnlos. »Syro« ist wie ein lebendiger Organismus, der die komplette Stunde Spielzeit lang vor sich hinmorpht. Nur ganz am Ende, da steht ein an die Klavierminiaturen von Erik Satie erinnerndes, beatloses Stück, das den rückwärts geschriebenen Vornamen seiner Frau Anastasia als Titel trägt – ein rarer persönlicher Moment im verschrobenen Werk eines Genies. Natürlich schließt »Syro« an das bisherige Oeuvre des Meisters an, wirkt in der Musikwelt von 2014 aber trotzdem wie ein Fremdkörper: Wer hört bitte noch komplette Alben am Stück, gerade in der elektronischen Musik?
Dass dem modernen ADHS-Musikhörer im Verlauf von »Syro« nicht langweilig wird, liegt vor allem an den humorvollen Referenzen. Die käsigen Rave-Synthies in »180db_« etwa sind ein Gruß an die Ära, die Aphex Twin musikalisch am meisten geprägt hat: Die frühen Neunziger, als im UK-Underground zahlreiche Hobby-Produzenten mit HipHop-Samples und Timestretching-Technik kleine Jungle-Hymnen produzierten. »Syro« ist kein Throwback in diese Zeit wie das erste Zomby-Album, aber es klingt ohnehin wie nichts, was in den letzten Jahren in der Popmusik eine Rolle spielte, dank seiner verdrehten Beats, modulierten Stimmsamples und unidentifizierbaren Soundquellen. Mit der Auflistung aller verwendeten Gerätschaften im Booklet lüftet James diesmal allerdings auch solche Geheimnisse, die in der Vergangenheit mal den Reiz einer Aphex-Twin-Platte für die Nerds ausmachten.
Die größte Überraschung ist vielleicht jene, dass »Syro« überraschend zugänglich geraten ist – zumindest aus Kopfhörerperspektive gedacht. Anstrengende Noise- und Drill-Ausflüge, wie sie noch auf »drukqs« an der Tagesordnung waren, gibt es hier eher nicht. Stattdessen vereint das Album die besten Momente der doch sehr disparaten Aphex-Twin-Werke aus den neunziger Jahren, die wolkigen Ambient-Flächen, die komplexen Breaks und die spontanen melodischen Wendungen. Vielleicht ist es tatsächlich nicht das spektakuläre Statement zum Status moderner Computermusik, wie es manche angesichts des Geplappers über elektromechanische Drum-Roboter und analoge Studiotechnik erwartet hatten. Stattdessen ist es das, was Aphex Twin schon immer ausgemacht hat: intellektuell fordernde und gleichzeitig unterhaltsame elektronische Musik.