Antilopen Gang Adrenochrom

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ALL GOOD Punchline Perfektionierung von Punk.

Die Antilopen Gang neigt normalerweise dazu, die Dinge zu verkomplizieren. Jeder Beatpick, jede Hook, jede Setlist, jedes Artwork, jeder Social-Media-Post, jede provokative Alberei wird in stundenlangen Sitzungen am runden Tisch ausdiskutiert. Und nicht selten fliegen im Band-internen Debattierclub die Fetzen. Die Corona-bedingte Isolation wiederum scheint der Streitsucht und Detailversessenheit im Gang-Plenum – zumindest auf Zeit – ein Ende gesetzt zu haben. Anders ist es kaum zu erklären, dass die »Gazellenbande« schon wieder ein neues Album – und damit bereits das zweite in diesem Jahr – zusammengeschustert hat.

»Adrenochrom« ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der unmittelbarste, der übers Knie gebrochenste Langspieler seit dem vielzitierten Nacht-und-Nebel-Schnellschuss »Aschenbecher« von vor knapp acht Jahren. Damit ist es ganz automatisch das wohl unverkrampfteste Großprojekt, das in der aktuellen Bandbesetzung je entstanden ist. Danger Dan, Koljah und Panik Panzer haben aus der von Spontaneität, Improvisation und Leichtsinn geprägten Entstehungsgeschichte ihres neuen Werks mehr eine Tugend denn ein Geheimnis gemacht. Sie labeln das Projekt als »Internet-Album«, das erstmals über ein eigens gegründetes Label erscheint und konsequenterweise – zumindest vorerst – nur digital hörbar sein soll. Eine Promophase gab es nicht, einfach zwölf Songs und zwei Skits. Nach einem neuen Pizza-Track, einer Bitte-mal-alle-die-Feuerzeuge-rausholen-Ballade, einem zeitlosen Klassiker oder einem monothematischen Konzeptsong mit Aussicht auf Radiohit-Status sucht man vergeblich.

Vielmehr verbindet die neue Platte die drei erfahrungsgemäß polarisierendsten Säulen im Kosmos der »wichtigsten Rapcrew Europas« von eigenen Gnaden: provokant-politische Kampfansagen, ungehemmte Selbstüberhöhung und – selbstverständlich – eine gewaltige Ladung irreführender Ironie, die im Zweifel nur die längst angestammte Hörerschaft einzuordnen weiß. Für nüchterne Draufsicht, Herzschmerz, Nostalgie oder inhaltliche Einordnungen bleibt – und das ist womöglich ein generelles Dilemma des aktuellen Zeitgeists – zwischen Angriffslust, instinktiver Sprücheklopferei, Ego-Perspektive und haufenweise Insidern wenig Platz. Im Kern ist das, was die »Lopis« da fabriziert haben, Battlerap aus dem Lehrbuch. Nur eben in politically correct und mit einem zumeist klar definierten Feindbild. Denn wenn sich ein roter Faden durch »Adrenochrom« zieht – und das verrät schon der Albumtitel – dann ist es die ausgemachte Absicht, das zunehmend erstarkende Spektrum an Aluhut-Träger*Innen und Corona-Leugner*Innen maximal zu triggern.

Der richtige Themenschwerpunkt zur richtigen Zeit, klar. Allerdings sind die Antilopen schon gegen Xavier Naidoo, Jürgen Elsässer, Ken Jebsen und Hagen Rether zu Felde gezogen, als weite Teile der Rapszene sich allenfalls im sympathisierenden Stil mit weirden Verschwörungsmythen auseinandergesetzt haben. Entschwörungstheorie war stets ein Steckenpferd der Antilopen und kommt auf »Adrenochrom« ein weiteres Mal treffsicher zum Einsatz. Die Vorstellung vom selbsternannten »Systemkritiker«, der während seiner konspirativen Internetrecherche zu Kinderblut-geilen, satanistischen Eliten in Echsenmenschen-Gestalt versehentlich auf Songs wie »Hokus Pokus« oder »Globuli« stößt, ist äußerst amüsant. Und, dass die antilop’schen Antithesen zu idiotischem Geschwurbel in erster Linie polemische 180-Grad-Umkehrungen anti-wissenschaftlicher Argumente bereithält, ist in Anbetracht der hartnäckigen Faktenverweigerung neurechter Verschwörungsideolog*Innen nur konsequent.

Die Antilopen haben mit den Jahren sowieso immer seltener versucht, den politischen Gegner mit guten Argumenten zu überzeugen. Und das muss – was die lähmenden Diskussionen um ihre zugespitzt-verallgemeinernden Begutachtungen im »Lied gegen Kiffer« oder in »Dorfplatz« einmal mehr bewiesen haben – auch nicht das zwingende Credo politischer Kunst sein. »Das ist nicht dadaistisch, das hinterfragt nur kritisch, viel mehr Mühe hat sich Attila Hildmann auch nicht gegeben«. Punkt. Keine Propaganda, mehr smarte Gegenspieler-Attitüde und vielleicht gerade deshalb die »Perfektionierung von Punk«.

Die Antilopen präsentieren sich auf »Adrenochrom« – und darin liegt die eindeutigste Stärke des Albums, weil auffällt, wie viel Spaß ihnen das bereitet – in der Rolle, in der sie sich selbst am liebsten sehen. Sie mimen die Bilderbuch-Chaoten, die Unsympathen, die Schreckgespenster, die kompromisslosen Outlaws, die »Anführer deiner Feinde«, die einzig wahren Punks im Rapgame, die Gang, die, wenn sie die Korken knallen lässt, unter sich bleibt und das Nobelkaufhaus nur zum Gaunern betritt. Auch wenn diese überspitzte Eigendarstellung bis zu einem gewissen Maß nur das Ergebnis von Wunschdenken sein dürfte, stellen die humoristisch auserzählten Alltagsgeschichten aus dem Leben von Koljah, Danger und Panik Panzer die kantigen Charaktereigenschaften der einzelnen Bandmitglieder deutlicher heraus, als so ziemlich jedes Release in der Vergangenheit. Speziell Panik Panzer blüht im Zuge der neuen Platte besonders auf. Ihm scheint es besonders gut getan zu haben, sich vom diffusen Druck lösen, ein makellos-zeitloses Gesamtkunstwerk schaffen zu wollen.

»Adrenochrom« kommt am Ende – zumindest im Vergleich zu den drei Vorgänger-Alben – mehr wie ein klassisches Mixtape daher. Die lockere Delivery wirkt im Anbetracht urkomischer Vergleiche durchaus erfrischend, lässt andererseits aber auch deutlich mehr unperfekte Momente, Anti-Flows und Zweckreime durchgehen. Auch ist spürbar, dass Songs enthalten sind, die es sicherlich nicht in die klar strukturierten Dramaturgien von »Anarchie & Alltag« oder »Abbruch Abbruch« geschafft hätten und die laxe Herangehensweise einem in letzter Konsequenz nachvollziehbaren Spannungsbogen von vornherein im Wege steht. Die Antilopen Gang hat eben – und vielleicht war das eine Ausnahme – durch und durch frei aufgespielt. Vielleicht getrieben von der Sehnsucht, mal wieder Musik ohne kommerziellen Hintergedanken zu machen und einfach drauflos zu rappen so wie vor zehn Jahren. Vielleicht auch, weil ihr klar war, dass der Zeitpunkt für Experimente und Rap über den Jetzt-Zustand nicht perfekter sein könnte. Die stärkste Platte in ihrer Legacy ist »Adrenochrom« gewiss nicht, wohl aber eine, die der Band selbst auch in zehn Jahren keinen Anlass geben sollte, mit der eigenen Kompromissbereitschaft zu hadern.