Zurück in die Zukunft
Wenn Sido die 3. Generation samplet und Disarstar im Refrain einen Song von Reamonn aufgreiftt, dann ist das einerseits mehr als irritierend, andererseits aber typisch für Deutschrap im Jahr 2022. Mathias Liegmal hat sich den Trend genauer angeschaut.
2011 äußerte der britische Musikjournalist Simon Reynolds eine steile und vielfach diskutierte These: Es gibt keine neue Musik mehr. Als Beweis führte er in seinem Buch »Retromania« unter anderem Revival-Touren, Tribute-Bands, Vinyl-Fetischismus und Cover-Versionen an – allesamt Wege, um Eigentlich-Gestriges noch einmal neu verkaufen zu können, ohne wirklich etwas Innovatives geleistet zu haben. Der Autor, der sich selbst als »zukunftssüchtig« bezeichnet, war enttäuscht.
Man muss Reynolds Argumentation nicht in Gänze bejahen, um durch Deutschrap mehr als eine Dekade später wieder an sie erinnert zu werden. Woche um Woche erscheinen aktuell neue Songs, in denen Rapper als Referenzpunkt einen Charthit aus den 90ern oder den 2000er Jahren gewählt haben, um diesen in Form einer Rap-Version noch einmal in die Gegenwart zu holen.
Natürlich: Kein anderes Genre lebt seit jeher so stark von der Bearbeitung musikalischer Vorlagen wie Rap-Musik. Und doch ist es immer ein Unterschied, ob man das Original bis zur Unkenntlichkeit umarrangiert oder ob man es bewusst nah an seinem Urzustand belässt. Ebenso macht es einen Unterschied, ob man auf eine Free-Jazz-Compilation zurückgreift, die 1973 in einer 100er-Auflage erschienen ist, oder ob man einen Song wählt, der wochenlang weltweit die Gehörgänge malträtiert hat. Die Grenze mag dabei nicht immer trennscharf zu ziehen sein – aktuell sind in Sekundenschnelle identifizierbare Coverversionen jedoch das Leitmotiv von »Modus Mio« und Konsorten.
Wenn selbst Rap-Rapper wie Liquit Walker und Takt32 sich dazu hinreißen lassen, für ihren Song »Kripos am Geiern« auf einen Eurodance-Klassiker wie »Freed From Desire« zurückzugreifen, dann weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Farid Bang drehte für »Baller« einfach ATCs »Around the World« durch den musikalischen Fleischwolf, Sido samplete für »Versager« einen Song von der 3. Generation und für »Medizin« einen Klassiker der Members Of Mayday und Disarstar bediente sich jüngst bei Reamonn.
Raf Camora kennt schon seit längerem kein Halten mehr und griff in der Vergangenheit bereits Hits von Eiffel65, Harold Faltermeyer, La Bouche, Sting und Him auf. Luciano hat zuletzt Songs von Kid Cudi und Sean Kingston für seine Singles verarbeitet, während sich Majoe und Yung Hurn bei Dido und PA Sports von 2Pac und Bryan Adams inspirieren ließen. Die 102 Boyz coverten relativ ungeniert »Teenage Dirtbag«, während sich Kontra K jüngst Lykke Li vorgeknöpft hat und Ion Miles für »Powerade« ins Jahr 2007 zurück gegangen sind, als »Kids« von MGMT die Charts eroberte.
Die Liste ist schier unendlich, doch über die Ursachen des Trends lässt sich derweil nur spekulieren. Angesichts der weltpolitischen Lage drängt sich zunächst eine weitläufige Deutung auf der Metaebene auf. Die Corona-Pandemie, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die über allem schwebende und immer stärke zu spürende Klimakatastrophe haben die Krise zum neuen Normalzustand werden lassen. Die Gegenwart ist nunmehr ein Zustand, in dem sich viele nichts sehnlicher wünschen, als wieder in die unbekümmerte Vergangenheit zurückkehren zu können – und sei es auch nur für wenige Minuten mit Hilfe von Musik. Der aktuell dominirende Deutschrap bietet sich hierbei bereitwillig als Eskapismus-Trigger an.
Zieht man den Rahmen etwas enger, lassen sich jedoch auch rein industrielle Faktoren ausmachen. Die Tiktokisierung der Musikbranche hat in den letzten Jahren merklich zugenommen und ein nur wenig geheimes Geheimrezept der Plattform lautet, dass altbekannte Hits in neuem Gewand fast schon eine Garantie dafür bieten, in besonders vielen Videos aufgriffen zu werden und damit über Bande auch den Weg in die Charts und die Spotify-Listen zu finden. Es ist bezeichnend, wie schnell aktuell Scheuklappen fallen gelassen und musikalische Grenzen überschritten werden, die vor nicht allzu langer Zeit noch als szeneinternes Dogma galten, wenn es auch nur in irgendeiner Art und Weise dazu dienen kann, einen Hit zu landen. Rap und Pop wachsen hier noch einmal enger zusammen als ohnehin schon.
Die Unterscheidung zwischen Kalkül und Zeitgeist ist dabei für Außenstehende nur schwerlich auszumachen und möglicherweise auch für die Artists selbst nicht immer klar zu benennen. Stattdessen greifen hier vermutlich mehrere Faktoren ineinander, die am Ende eine Kettenreaktion erzeugen. Interessanterweise sagte Lance Butters den Trend bereits 2019 in einem Tweet voraus – und verweigerte sich ihm natürlich konsequent. Olson wiederum liebäugelte kürzlich öffentlich – und natürlich ironisch – damit, auf den Zug aufzuspringen. Plätze dürften sicherlich noch einige frei sein und der Zug ist auch höchstwahrscheinlich noch lange nicht im Zielbahnhof angekommen. Allein die Frage, ob wir eigentlich gerade vorwärts oder rückwärts fährt, ist noch ungeklärt.