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Ein Kommentar von Mathias Liegmal

Ungeahnte Tiefen – Deutschrap in Selbstreflexion

Nach dem Aufstieg kommt bekanntlich der Fall – und mehrere Releases der hiesigen großen Rap-Namen zeigen ein hohes Maß an Selbstreflexion. Samra, Capital Bra, Haiyti, Ufo361, RIN oder Apache207 lassen durchklingen, dass sie an eine gläserne Decke gestoßen sind, an der sich der Kontostand zwar immer noch weiter steigern lässt – das persönliche Glück aber nicht.

UngeahnteTiefen

Melancholisch gefärbte Piano-Klänge ertönen, der Autotune-Gesang setzt bereits nach wenigen Sekunden ein. Der Interpret erzählt von einem Jungen, der am Block rumhängt, aber von seiner Mutter nicht dabei gesehen werden will. Blutflecken werden Luxusmarken gegenübergestellt – auf der einen Seite die rohe Gewalt, auf der anderen Glanz und Glamour. Was Samra auf »Miskin« präsentiert, wirkt zunächst wie dutzende anderer Songs, die mittlerweile im Wochentakt erscheinen und Playlisten wie »Modus Mio« oder »Deutschrap Brandneu« dominieren. Doch wenn er zu Beginn des ersten Parts von der Er- zur Ich-Perspektive wechselt, wird schnell deutlich, dass hier inhaltlich deutlich mehr geboten wird als das übliche LeLeLe-Klischee: »Ich hab Geld, aber keine echten Freunde«, rappt der Berliner beispielsweise, und wenig später: »Park den Wagen, hab zwei Garagen / aber schaffe es nicht, einzuschlafen«.

Es ist der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe an Songs, in denen zunehmend die Schattenseiten von Ruhm und Reichtum beleuchtet werden. Seit Jahren schießen die Streaming- und Followerzahlen immer weiter in die Höhe, immer höhere Vorschusssummen und Karatzahlen sind die logische Konsequenz daraus – was sich wiederum in den Texten widerspiegelte. Der Besitz von Luxusgütern jeglicher Art ist kein Wunschdenken, keine Fiktion mehr, sondern endlich Realität geworden. Kritiker bemängeln jedoch schon seit längerem die Oberflächlichkeit und den Materialismus, den die Lyrics der einschlägigen Größen propagieren – ein Umstand, der nicht den Erfolgen geschuldet ist, die Deutschrap Woche um Woche für sich verbuchen kann.

Wenn Rapper sich vor allem darauf konzentrieren, materialistische Güter anzuhäufen und diese dann als Errungenschaften zur Schau zu stellen, bedeutet dies zunächst einmal die Verinnerlichung und Reproduktion neoliberaler Werte. Hast du was, bist du was – und ansonsten eben nicht. Man kann es dem Einzelnen nicht wirklich übelnehmen, wenn er nach jenen Regeln lebt, die ihm von Kindesbeinen an durch die Gesellschaft vermittelt wurden. Zudem ist es einfach nicht von der Hand zu weisen, dass ein paar Tausender im Monat zunächst einmal ein deutlich angenehmeres Leben ermöglichen als der übliche Hartz-IV-Satz.

Doch nach dem Aufstieg kommt bekanntlich auch der Fall – und gleich mehrere Releases der jüngeren Vergangenheit lassen tatsächlich ein höheres Maß an Selbstreflexion erkennen. Das emotionslose, zumeist hypermaskuline Bild, an dem Deutschrap in den vergangenen Jahre eifrig gearbeitet hat, bröckelt merklich. Die einst euphorischen Hymnen auf Auto- und Modemarken weichen zunehmend deutlich resignierteren und demütigeren Klängen, wobei überraschenderweise vor allem die großen Namen an vorderster Front stehen. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet jene, die ihren Hype auch tatsächlich in bare Münze umsetzen konnten, auf ihren letzten Releases durchklingen lassen, dass sie an eine gläserne Decke gestoßen sind, an der sich das Kontostand zwar immer noch weiter steigern lässt – das persönliche Glück aber nicht.

Die Erkenntnis, dass Geld letztlich nur Papier sei, ist eine Binsenweisheit, die im Deutschrap zwar schon vielfach zitiert wurde, doch zumeist kaum Konsequenzen nach sich zog – bis jetzt. »Ferrari oder Lambo, ich will beide / Jeder kennt meinen Namen, doch ich fühl mich so alleine«, bekannte Samra schon auf seinem Kollabo-Album mit Capital Bra. Nur wenige Sekunden liegen hier zwischen dem Höhepunkt und dem Tiefpunkt einer Geschichte, die doch eigentlich den American Dream erzählen sollte, doch stattdessen – wie auch bei Haftbefehl – nur mit »Depressionen und Schmerz« endet. Auch Ufo361 thematisiert auf »Kobe Bryant« die Parallelität von Reichtum und Einsamkeit, um letztlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass man erst so richtig reich sei, wenn man teilt. Und auch RIN fragte jüngst rhetorisch: »Was bringt mir meine Roli, wenn ich keine Zeit hab?«

Haftbefehl, der mit Songs wie »Depressionen im Ghetto« als einer der Vorreiter dieser Entwicklung anzusehen ist, lieferte zuletzt ein ganzes Album, das durch eine düster gefärbte Grundstimmung besticht. Besonders der Song »Depression und Schmerz« mit seinem Bruder Capo macht die Zerrissenheit des Babos deutlich: »Mein totes Herz schlägt schon lang nicht mehr«, heißt es da in der Hook, gefolgt von der Erklärung, es sei an »Depression und Schmerz« gestorben. Capos Ausweg ist dabei denkbar simpel: »Alkohol als Brennstoff, damit wieder Wärme in mein eiskaltes Herz kommt«.

Doch auch der Umgang mit Drogen aller Couleur hat sich mittlerweile merklich gewandelt. Dienten diverse Rauschmittel in der Vergangenheit noch dazu, den eigenen Siegeszug auch durch entsprechende Botenstoffe angemessen zu verstärken, so setzt nun zunehmend die Erkenntnis ein, dass diese lediglich ein Loch stopfen, das doch eigentlich mit Geld und Ruhm gefüllt werden sollte. So trinken Samra und Capital Bra beispielsweise »Wodka E, um die Sorgen zu ersaufen«, während Ufo »Dom P für die Emotions« benötigt – also, wenn man so will, um überhaupt noch irgendetwas zu spüren. Im Falle von Luciano ist die Erwähnung von Alkohol in seinen Songs schon eine Art Trademark geworden – auch wenn er Jacky Cola in Hinblick auf die Gesundheit seiner Leber inzwischen abgeschworen hat, wie er kürzlich in einem Interview erklärte.

Das Wissen, dass Drogen keine Dauerlösung darstellen, schwang ohnehin steht in vielen Songs mit, und auch der Griff zu härteren Rauschmitteln ändert dabei nichts am Grundproblem: Capital Bra und Samra verkommen letztlich zu »Zombies«, während Haiyti auf »Drogenfilm« genau jenen Zwiespalt zwischen drogeninduzierter Euphorie und den zugrundeliegenden Problemen besingt: »Noch mehr Speed für noch ein‘ Rekord / Sie sehen es nicht, doch Mann über Bord«

Hinzu kommen diverse Schwierigkeiten im Beziehungsleben. Natürlich: Dass Ruhm und Geld für flüchtige Bekanntschaften durchaus förderlich sein können, hat in der Vergangenheit schon gefühlt jeder »Modus Mio«-Rapper mehrfach dargelegt. Neueren Datums hingegen ist das Eingeständnis, mitunter gnadenlos am Aufbau einer langfristigen Bindung zu scheitern. Mag man »110« von Capital Bra, Samra und LEA noch als fiktiven Song begreifen, in dem die Protagonisten bewusst in Rollen schlüpfen, so scheint man bei Apache doch einen deutlich persönlicheren Kern ausmachen zu können. Gleich mehrere Songs verdeutlichen, wie sehr er unter seinem unsteten Liebesleben leidet. »Liebe ruft an, doch ich hab kein‘ Empfang«, heißt es da beispielsweise, und wenn dann doch einmal eine Beziehung zu Stande kommt, dann versteht Apache selbst nicht so ganz, wieso seine Partnerin sich das alles antut. Den Grund für dieses widersprüchliche Verhalten liefert Apache dankenswerterweise direkt mit: »Ich liebe dich, doch hasse mich selbst«. Auch Haiyti gesteht sich auf »Paname« schließlich ein: »Ich war noch nie einsamer« – trotz »Sidelover«.

Natürlich sind alle diese Zitate mit Vorsicht zu genießen. Schon 2011 betonte Casper mit der Zeile »Depression war nie tragbar, doch steht uns so gut«, dass Stimmungsschwankungen als Pose durchaus reizvoll sein können – wobei depressiven Phasen und eine tatsächliche psychische Erkrankung nicht selten zusammen in einen Topf geworfen wurden. Nahezu zeitgleich versah Drake diese Haltung wiederum noch mit einer Prise Roughness, die die Schattenseiten des Erfolgs schließlich auch für den Straßen- und Gangstarap als Thema kompatibel machten. Seither ist es problemlos möglich, nicht nur in Geld, sondern parallel dazu auch in Selbstmitleid zu baden. Vor diesem Hintergrund sollte man derlei Aussagen in Songtexten also nicht immer wörtlich nehmen – zumal man sich hier schnell in einer küchenpsychologischen Ferndiagnose verliert.

Gleichzeitig folgen gleich mehrere Zeilen einer recht klassischen Kombination aus einer psychischen Problembeschreibung und dem Versuch der Verdrängung. Lines wie »Kopf ist voll, doch schütt‘ mehr Champagne ein« oder »Ich hab‘ einen Schaden, ich hab‘ Paranoia vor Sirenen« von Luciano deuten bereits an, dass eine glorreiche Gegenwart noch lange nicht bedeutet, dass die Vergangenheitsbewältigung erfolgreich vollzogen wurde. Ganz ähnlich klingt es bei Apache, dessen Formel »Fühl‘ mich leer, trink‘ mich voll, mir geht’s gut« lautet. Auch bei ihm scheinen alte Wunden noch nicht verheilt zu sein: »Vom Leben gezeichnet, mein Bruder, zu viele Probleme, der Scheiß hier hat Spuren hinterlassen«. Und auch Capital Bra gesteht: »Ich wache schweißgebadet auf, werd‘ von Alpträumen verfolgt«.

Doch auch die Gegenwart bringt so einige Schwierigkeiten mit sich, wie RIN erst kürzlich in einem Interview ausführte: »Die bedingungslose Akzeptanz und das Abfeiern durch die Fans […] blendet dich auf lange Sicht. […] Am Ende muss man sich immer klarmachen: Nichts von dem, was du in deiner Karriere bekommst, ist echt – weder der Hass noch die Liebe.« Auch Capital Bra offenbart: »Ich kann es fühlen, ihre Liebe ist nicht echt!« Für Apache ist die Quintessenz aus diesem Jetset-Leben denkbar einfach: »An der Spitze ist es einsam«. Summer Cem, der nach eigener Aussage »keinen Platz für die Krisen« hat, schlägt ganz ähnliche Töne an: »Frag‘ mich, ob ich schon mal einsamer war / Ich glaub‘, das ist der Preis, den man zahlt«. Der Lösungsweg ist dabei altbewährt: »Mach‘ ohne Jacky kein Auge zu / Betäube schon wieder den Schädel«.

Bei aller gebotenen Vorsicht darf man angesichts der Häufigkeit, mit der solche Zeilen mittlerweile auftreten, getrost davon ausgehen, dass dies nicht ganz ohne Grund geschieht. Natürlich handelt es sich hierbei allenfalls Momentaufnahmen – die ganz große Erleuchtung in Form einer Selbsterkenntnis, geschweige denn eines langfristig geeigneten Lösungsansatzes, darf man hier also noch nicht erwarten. Doch gehen die genannten Akteure mittlerweile so offen mit ihren Schwächen um, dass all diese Zeilen tatsächlich den Anfang eines großen Umdenkens darstellen könnten. Vielleicht sind sie mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem traumatische Erlebnisse, Bindungsängste und Momente der Einsamkeit nicht einfach mehr betäubt oder verdrängt, sondern ernsthaft angegangen werden, um endlich zur Ruhe kommen zu können.