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Ein Kommentar von Mathias Liegmal

It was all a Meme – Deutschrap und Social Media

Deutschrap ist ohne soziale Medien nicht mehr denkbar. Die Möglichkeiten des Web 2.0 schienen einst wie geschaffen für eine aufstrebende Jugendkultur, um sich vorbei an tradierten Medien zu verbreiten. Parallel dazu stieg jedoch auch die Abhängigkeit. ALL GOOD-Autor Mathias Liegmal hat den gemeinsamen Weg von Deutschrap und sozialen Medien nachgezeichnet, der stetig zwischen dem Community-Gedanken und der Zielgruppen-Nutzung changiert.

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Farid Bang kiekst hörbar amüsiert ins Mikrofon: »Kuck, kuck! Schneidet das mal einer bei TikTok rein, damit ich auch endlich mal ‚nen TikTok-Hit habe.« Eine kurze Sequenz zwischen zwei Songs reicht aus, um den aktuellen Trend der Szene zu verkörpern und ihn gleichzeitig auf den Arm zu nehmen. Selbstverständlich ist die zitierte Aufforderung an seine Fans ironisch gemeint – immerhin ist Farid Bang der Initiator der Regel »Echte Gangster haben kein Twitter!« Dennoch dürfte er sicherlich nicht unglücklich darüber sein, sollte der eine oder andere Fan sich tatsächlich die Mühe machen, seinen Ausruf zum Meme zu verarbeiten und damit vielleicht sogar einen viralen Hit zu landen. Auch wenn er sich vordergründing nach wie vor der Entwicklung weitestgehend verweigert, so weiß auch der Düsseldorfer, welchen Stellenwert TikTok, Instagram und Co. für Deutschrap im Jahr 2021 haben.

Dabei hatten sich soziale Medien besonders in den letzten Jahren nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Waren die Anfangstage noch von einer sagenhaften Internet-Euphorie geprägt, so standen in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Schattenseiten im Fokus. Filterbubbles, Cambridge Analytica, Trump und der Brexit, Depressionen und Suchtgefahr, undurchschaubare Algorithmen, »The Social Dilemma« – die Kehrseite der Medaille sorgte zuletzt regelmäßig für Schlagzeilen, die das Netz eher zum Fluch als zum Segen erklärten.

Parallel dazu trugen sie jedoch auch maßgeblich zur Organisation von Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays For Future bei. Das Internet und insbesondere die sozialen Medien senkten den Aufwand und die Kosten für die Vernetzung Gleichgesinnter enorm. Der Autor Clay Shirky bezeichnete es einst als »the power of organizing without organizations« – wobei es nicht zwingend darum geht, tatsächlich etwas bestimmtes zu organisieren. Allein der Aufbau einer gemeinsamen Community kann schon ein wichtiges Element der Selbstermächtigung sein. In diesem Kontext ist auch die Verbindung zwischen Social Media und Deutschrap zu sehen.

Bis 2006 gab es genau drei Künstler aus der deutschsprachigen Rap-Szene, die – damals noch das Maß aller Dinge – mit ihrem Album den obersten Platz in den Charts erklimmen konnten. Für die Fantastischen Vier dürfte ein solcher Erfolg weniger überraschend gewesen sein, liebäugelten sie doch schon früh mit Pop-Elementen und der damit einhergehenden Masse an Fans. Auch die Beginner hatten mit »Liebeslied« zwischenzeitlich den Mainstream auf sich aufmerksam machen können und zählten gleichzeitig zu den Speerspitzen der immer weiter wachsenden Rap-Szene hierzulande, weshalb die Pole Position von »Blast Action Heroes« langwierig und hart erkämpft war. Das dritte Album wiederum, »Disco No 1« von Jan Delay, bewegte sich genau zwischen diesen beiden Polen: Dem Spiel mit einem massenkompatiblen Sound einerseits und dem Background eines Rappers, der jahrelang die Jugendhäuser Deutschlands abgeklappert hatte, andererseits. Alles in allem also noch keine großen Überraschungen.

2007 setzte sich dann schließlich Bushido an die Spitze. Auch hier wieder ein Arbeitssieg, wie überhaupt so viele der frühen Nummer-Eins-Alben im Deutschrap von Künstlern kamen, die sich mühsam und über etliche Jahre hinweg ihr Stück vom Kuchen erkämpft hatten. An einen plötzlichen Newcomer-Hype war noch nicht zu denken, erst fünf Jahre später sollte es so weit sein. Zuvor galt jedoch noch das Recht des Älteren, was im Falle von Bushido gleich mehreres bedeutete. Nicht nur die Tatsache, dass der Ex-Aggro-Berliner zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund acht Jahren an Mic stand, dürfte zu den stetig steigenden Verkaufszahlen beigetragen haben. Ebenso wichtig dürfte auch gewesen sein, dass er einer der wenigen Rapper war, die schon Mitte der 2000er erkannt hatten, wie wichtige die Nähe zur eigenen Fan-Gemeinde ist. Über das eigene Forum auf kingbushido.de traten Fans regelmäßig mit ihrem Idol in Kontakt und ließen sich bereitwillig in Promo-Pläne einspannen, die Forenadmin Congo sorgfältig orchestrierte. Votings für Award-Verleihungen oder Musikvideo-Shows wurden im Sturm erobert, CD-Käufe ganz gezielt auf die erste Release-Woche gelenkt. Der Erfolg wurde förmlich erzwungen.

Auch Bushidos Kontrahenten von Selfmade Records hatten die Zeichen der Zeit schon früh erkannt und sich eine große Online-Community erarbeitet, die sie regelmäßig mit Updates versorgen und im Gegenzug für diverse Votings einspannen konnten. Thomas Burkholz, damals Head Of Marketing bei Selfmade, erinnert sich in der 10-Jahres-Chronik des Labels: »Es gab kein Facebook, kein Twitter und MySpace steckte damals noch in den Kinderschuhen, es lief alles über die Foren und die Newsletter, die ich damals geschrieben habe.« Parallel dazu bauten auch diverse Rap-Magazine ihren Auftritt im Netz aus und animierten ihre Leser dazu, sich in den dazugehörigen Foren zu engagieren. Das »MZEE«-Forum hatte einen solchen Impact, dass es letztlich sogar dafür verantwortlich gewesen sein soll, dass Savas und Eko – aufgrund eines wohl falschen Gerüchts – einen Disstrack gegen MC René aufgenommen haben, der seine Karriere maßgeblich gebremst hatte. Auch »Rap.de«, »HipHop.de«, »Rappers.in« und mit etwas Verspätung »MeinRap.de« hatten sich mal kleinere, mal größere Stamm-Userschaften aufgebaut.

Mitte der 2000er begannen dann auch Facebook und Co. damit, langsam aber sicher das Feld von hinten aufzuräumen. Facebook wurde 2004 gegründet, Twitter 2006. Zudem wurde das 2005 gegründete YouTube nur ein Jahr später von Google aufgekauft und damit noch einmal auf eine ganz neue Ebene gehoben. Dass Videos im Netz die Zukunft sein würden, hatte besonders Selfmade Records besonders früh erkannt. Seit die Netzverbindungen gut genug waren, um bewegte Bilder ruckelfrei zu übertragen und wiederzugeben, schien nicht nur die Bedeutung von »VIVA« und »MTV« schrittweise abzunehmen, sondern sich auch die Möglichkeit für Formate zu eröffnen, die fernab von den klassischen Musikvideos lagen.

Selfmade Records, die anfangs noch den sogenannten Kyte-Player nutzten, dann jedoch relativ schnell zu YouTube wechselten, erkannte schnell das Potenzial seiner Künstler, auch fernab der Musik für gute Unterhaltung zu sorgen. Videoblogs gehörten fortan zu jeder guten Promo-Phase dazu und etablierten sich zeitweise als Standard in der gesamten Rap-Szene. Parallel dazu baute Elvir Omerbegovic mit Pusher Apparel eine Modemarke auf, die die hauseigenen Künstler dann entsprechend bewarben – und etablierte damit eine Frühform des Influencer-Marketings direkt im eigenen Haus.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt waren Rapper weitaus mehr als nur Musiker, wobei ihre Vermarktung als Gesamtpersönlichkeiten maßgeblich durch die Verwendung von sozialen Medien vorangetrieben wurde. Den Gipfel bildete in diesem Zusammenhang ebenfalls ein Format eines Selfmade-Artists: 2014 nahm Kollegah als Promo-Tool zu seinem Album »King« eine mehrteilige Late-Night-Show auf, die komplett auf YouTube veröffentlicht wurde. Doch auch sein Kollege Favorite dürfte einen Meilenstein gesetzt haben, als er 2011 gemeinsam mit KAAS in einer Art »Schlag den Raab«-Hommage antrat, die auf dem Channel von »Mixery Raw Deluxe« veröffentlicht wurde.

Im selben Jahr stammten dann immerhin schon vier Nummer-Eins-Alben von Deutschrappern, im Folgejahr waren es sogar fünf, wobei man mit Casper, Cro und Kraftklub nun auch Newcomer in der Riege dieser Künstler begrüßen durfte. Während Casper noch die Online-Ochsentour mit MySpace-Promo, Foren-Pflege und Blog-Posts durchlaufen hatte, konnte Cro mit ein paar Tweets seiner Label-Kollegen, einem geheimniskrämerischen Aussehen und natürlich einem amtlichen Ohrwurm aus dem Stand Zahlen generieren, die jeden Social-Media-Manager aufhorchen ließen. Noch vor allen anderen Rappern knackte Cro schließlich die magische Grenze von einer Million Facebook-Likes. Das Video zu »Easy« wartete zudem mit einer Optik auf, die nicht selten als »Instagram-Look« bezeichnet wurde. Besagte Social-Media-Plattform wurde erst 2012 gegründet, zwei Jahre später jedoch – als auch »Easy« erschien – von Facebook gekauft und zum zeitweise führenden Medium unter Jugendlichen ausgebaut. 

2013 dann platzte der Knoten schließlich endgültig: Ganze zehn Alben aus der deutschsprachigen Rap-Szene schafften den Sprung an die Chart-Spitze, wobei sich Veteranen wie Prinz Pi, Eko Fresh, Kay One oder Sido und Newcomer wie Alligatoah, Genetikk und Shindy die Klinke in die Hand gaben. Soziale Medien waren daran nicht unbeteiligt und brachten unter anderem so absurde Phänomene wie den genannten »Tweef« hervor – einen Beef, der ausschließlich über Twitter ausgetragen wird und der von DCVDNS sogar mit einem eigenen Song bedacht wurde. Auch das VBT erreichte in diesem Zeitraum seinen Zenit und konnte problemlos siebenstellige View-Zahlen generieren. Derlei Ausmaße riefen schließlich auch ernsthafte wirtschaftliche Interessen auf den Plan, wodurch die Strukturen innerhalb der Szene immer weiter professionalisiert wurden. Die Gemeinschaft, bei der in den Anfangstagen der Austausch klar im Vordergrund stand und bei der zunächst kaum zwischen Akteuren und Fans unterschieden werden konnte, wurde mit zunehmender Größe auch immer mehr als potenzielle Zielgruppe verstanden.

In den darauffolgenden Jahren jedoch war es noch einmal der Community-Aspekt, der deutliche Spuren in der Szene hinterließ. Nachdem Money Boy 2010 mit »Dreh den Swag auf« alles auf den Kopf gestellt und sich allen Gegenstimmen zum Trotz seinen festen Platz im Deutschrap-Kosmos erarbeitet hatte, formierte sich in seinem digitalen Dunstkreis ein loses Kollektiv an Gleichgesinnten. In der mittlerweile mythenumwobenen Facebook-Gruppe »Swag-Mob« tummelten sich nicht nur Fans, die sich für die Musik des Wieners interessierten, sondern auch Grafik-Designer, die jederzeit bereit waren, für ihn ein Cover zu erstellen; Kameramänner, die beim Drehen von Musikvideos behilflich waren, sowie diverse Nachwuchsrapper, die soundtechnisch einen ganz ähnlichen Film fuhren wie der Boy.

Im gegenseitigen Austausch bildete sich auf diese Weise eine Sub-Kultur innerhalb einer Sub-Kultur heraus, die sich durch ein ganz eigenes Verständnis von Musik, Sprache, Humor und vor allem auch dem Umgang mit sozialen Medien auszeichnete. Juicy Gay erinnert sich in der Oral History »Könnt ihr uns hören?« an diese Zeit zurück: »Alle, die Money Boy auf Facebook geliket hatten, wurden in den Swag Mob eingeladen. Wenn er wieder ein neues Wort oder einen neuen Slang erfunden hatte, haben das in der Gruppe alle nachgemacht und auch außerhalb der Gruppe benutzt. Eine Zeit lang hat Money Boy zum Beispiel immer Capri Sonne Elfentrank getrunken. Also haben alle Leute Memes mit dem Getränk gemacht und da gepostet. Das war eine richtige Bewegung.«

Das »DripDrop-Archiv« auf Twitter belegt auf eindrückliche Weise, welch einen Kult-Status jedes Foto und jeder Tweet von Money Boy noch heute unter seinen Anhängern genießt. Auch die von ihm geprägte Twitter-Lingo, die durch Paul Rippé und Kurt Prödel popularisiert und durch Shahak Shapira und Willy Nachdenklich letztlich bis zum Äußersten ausgereizt wurde, spricht eine deutliche Sprache (no pun intended). Mitte der 2010er Jahre wurde der Swag dann letztlich so weit aufgedreht, dass er die Grenzen besagter Facebook-Gruppe sprengte und LGoony, Juicy Gay, Crack Ignaz, Haiyti und Co. schließlich auf die restliche Rap-Welt losließ.

Das Bindeglied zwischen dem Swag-Mob und der Jetztzeit bildet wiederum Mero, der mit seiner ersten Single »Baller los!« wortwörtlich über Nacht eine Million YouTube-Views generierte. Zwar ist der Rüsselsheimer musikalisch in einer anderen Ecke zu verorten, doch ist sein Umgang mit den Mechanismen des Internets dem von Money Boy und dessen Zöglingen recht ähnlich. Sie alle gehören zu einer Generation von Rappern, für die die Nutzung von Instagram, Facebook, YouTube und Co. eine solche Selbstverständlichkeit darstellt, dass diese oftmals schon gar nicht mehr als mögliches Marketingtool wahrgenommen wird. Parallel dazu umfassten die Mobilfunkverträge ihrer Hörerschaft mittlerweile ein solch großes Datenvolumen, dass die YouTube-App gewissermaßen den MP3-Player ersetzen konnte.

Im Jahr 2021 gehört das einst magische Promo-Tool namens Social Media daher mittlerweile zum Standard-Reportoire einer jeden Marketingstrategie. Absurditäten wie gekaufte View- und Follower-Zahlen haben mehr als nur einmal für Diskussionen gesorgt. Rapper haben nicht nur YouTube und Instagram für sich entdeckt, sondern auch umgekehrt: YouTuber wie Mert, Taddl, ApoRed oder Mois, aber auch Leon Lovelock, Montana Black oder Knossi haben sich mal mehr, mal weniger in die Rap-Welt eingebracht. Mit Loredana und Shirin David ist zwei Vertreterinnen der Influencer-Szene sogar eine amtliche Musikerinnen-Karriere gelungen – was besonders beachtlich ist, wenn man bedenkt, welcher Gegenwind KC Rebell noch 2015 entgegen schlug, als er Dagi Bee in seinem Musikvideo zu »Bist du real« auftreten ließ. Der Münchener Ali As veröffentlichte ein Jahr zuvor noch einen kompletten Part gegen rappende YouTuber. Mit Mr. Rap hat sich mittlerweile jedoch sogar ein komplettes Nachrichtenformat für Deutschrap-Fans auf YouTube etabliert.

Mittlerweile scheint also so ziemlich alles möglich zu sein – doch deutet so manches darauf hin, dass aus den Chancen oftmals auch ein gewisser Zwang geworden ist. Die Masse an Rappern, die mittlerweile aktiv ist, verringert das Maß an Aufmerksamkeit, das jedem einzelnen von ihnen zu Teil werden kann, merklich. Aus der Möglichkeit, sich eine Stimme verschaffen, um Gleichgesinnte zu erreichen, ist mit der Zeit der Druck geworden, zwischen den Stimmen der anderen noch irgendwie durchzudringen. So gab Juse Ju in einem Interview kürzlich zu: »Ich bin […] nicht naiv, arbeite seit zehn Jahren in der Medienbranche. Ich weiß, wie schnell man in Vergessenheit gerät, wenn man das Spiel um Aufmerksamkeit nicht mitspielt.«

Auch 3Plusss beschrieb kürzlich den Druck, in sozialen Medien aktiv zu sein: »Es geht nur noch um Quantität: Sei da, sei einfach präsent, füll deine Story! Ich hab‘ mich so lange geweigert, Stories zu machen, weil immer nur Müll-Stories gesehen habe und dann irgendwann einfach den Punkt überwunden habe, bei dem ich dachte: Aber ich möchte keinen Müll posten! Doch, ich poste jetzt auch Müll. Ich mache jetzt auch Reposts. Oder was heißt Müll? Aber Sachen, wo ich persönlich das Gefühl habe: Wen interessiert das? […] Also das hat sich geändert: Es geht gar nicht so sehr darum, was man macht, sondern dass man was macht. Mach einfach irgendwas!«


Das Ausmaß dieser Entwicklung wird einem vor allem dann bewusst, wenn Rapper gezielt keine Promo machen – und gerade damit einen Werbeeffekt erzielen. Es ist mittlerweile ein Running Gag unter Rap-Fans, dass ein beliebiger Künstler sämtliche Bilder von seinem Instagram-Kanal nimmt und ein komplett schwarzes Profilbild einstellt. Der bewusste, aber natürlich öffentlichkeitswirksame Verzicht auf Öffentlichkeit lässt aufhorchen, denn wer verzichtet heutzutage schon freiwillig auf seine Reichweite im Netz? Der gewiefte Fan weiß sofort: Hier ist etwas im Busch. Ein Rapper, der nicht mehr um Aufmerksamkeit kämpft, scheint ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit verdient zu haben.

Von Seiten der Labels hört man bereits, dass ohne einen soliden Social-Media-Auftritt schon gar nicht mehr an ein Signing zu denken ist – gute Musik hin oder her. So sagte Lucas Teuchner im »OMR«-Interview, er sehe Instagram neben YouTube als den Hauptmarketingkanal seiner Künstler, doch sei mittlerweile auch TikTok sehr bedeutsam: »Ich sehe TikTok als fast mittlerweile größten Marketingaspekt, der noch nichts kostet. […] Für mich ist TikTok ‚ne unglaublich krasse Werbeplattform.« Gleichzeitig gibt er zu, dass es gerade für die Gangstarapper auf seinem Label schwierig sei, sich mit TikTok zu identifizieren.

Was genau damit gemeint sein könnte, erklärte Celo kürzlich bei »Die Wundersame Rapwoche«: »Twitter besteht ja ‚nur aus Statements. Es sind Punchlines. Rap ist ja der Kampfsport der Wortgewandten sozusagen und dafür dient Twitter. Und deswegen: Instagram, TikTok,… das ist nichts für mich. Das ist mir zu viel Rumhüpfen, Rumtanzen, zu viel Von-sich-preisgeben. Man muss irgendwas zeigen oder so, das ist nicht meine Art. […] Es gibt auch nützliche Sachen, man kann jetzt nicht sagen, dass alles Quatsch ist. […] Aber vieles ist unnötig einfach. Aber, wie gesagt: Menschen sind auch so, jeder will im Mittelpunkt stehen und durch’s Internet und Instagram hat jeder jetzt die Möglichkeit, ein Star zu sein.«

Eine Möglichkeit, diesen persönlich Zwiespalt zu lösen, könnte es sein, die Social-Media-Aktivitäten auszulagern. Warner Music kaufte beispielsweise 2020 eine Firma namens IMGN Media, die vor allem dafür bekannt ist, reichweitenstarke Meme-Accounts auf TikTok zu betreuen. Auch Xatar gab kürzlich in einem Interview an, einen eigenen Mitarbeiter zur Erstellung von Memes zu beschäftigen: »Wir haben Künstler, die auf TikTok gar keine Reichweite haben, so ganz klein, die interessieren sich auch nicht für TikTok. Aber wir haben Memes für die gebaut, die auf TikTok durch die Decke gegangen sind und dann dafür gesorgt haben, dass ‚ne Single von denen super gestreamt ist und Gold gegangen ist.«

Szeneintern mutmaßt man bereits, Xatar hätte bei seinem neuen Album bewusst versucht, Zeilen und Hooks so zu formulieren, dass sie ein besonders hohes Potenzial aufweisen, als Meme auf TikTok weiterverarbeitet zu werden – und so auf Umwegen weitere Aufmerksamkeit für das Album zu erzeugen. Was nach Kalkül statt Kreativität klingt, ist in den USA bereits Usus: Drake konzipierte »Toosie Slide« gezielt um einen TikTok-tauglichen Tanz herum, während Jason Derulo sich für »Savage Love« an einem Soundschnipsel bediente, mit dem der 17-jährige Jawsh 685 auf der Plattform bereits viral gegangen war. Ob eine solche Vorgehensweise auch im Falle von Xatar zutrifft, ist unklar, doch Fakt ist, dass zwischen Musik und sozialen Medien keine Einbahnstraße besteht, sondern durchaus eine Wechselwirkung zu verzeichnen ist.

Der Produzent Ricky Desktop gibt in diesem Zusammenhang an, seine Beats direkt mit einem dazu passenden Tanz im Hinterkopf zu produzieren, einen dreifachen Bass-Drop bewusst für den Einsatz der entsprechenden Moves einzubauen und darüber hinaus alte Samples zu benutzen, um von Beginn an einen Wiedererkennungswert zu erzeugen. Auch würde er seine Beats bewusst übersteuern lassen, um den fehlenden Bass auf Smartphone-Lautsprechern auszugleichen. Loredana wiederum stellte für ihr Musikvideo zu »Du bist mein« eine Collage aus TikTok-Clips ihrer Fans zusammen und machte aus dem Videodreh auf diese Weise ein digitales, interaktives Event. Dass auch andere Plattformen durchaus eigene musikalische Formen hervorbringen können, bewies jüngst Juicy Gay. Er nahm Tweets von Hanybal, arrangierte sie in Reimform und rappte sie schließlich als Text einer Song-Skizze ein. Veröffentlicht wurde das Ergebnis – natürlich – auf Twitter.