HipHop-Studies, Szene und Szenerezeption
Gegen Ende des Graffiti-Dramas »Wholetrain« gibt es diese Szene, in der ein Writer – gerade von der Polizei gebustet – seine Skizzen einem mutmaßlichen Kunstprofessor vorstellen muss. Dieser kommentiert seine »Arbeiten«, faselt etwas von »reifer Technik« und der gelungenen »Spannung von Raum und Negativ-Raum«. Der ohnehin genervte Writer verlässt daraufhin abrupt und kommentarlos das Seminar.
Was im Film eine symbolische Szene für das Straßen-Ethos des Graffitiartists und seine Abwehr institutioneller Domestizierungsversuche darstellen mag, kann unter etwas anderen Vorzeichen auch auf das Verhältnis von Szeneforschern und Szenepublikum übertragen werden: Wenn sich Sozial- und Kulturwissenschaftler mit HipHop beschäftigen, tun sie das zunächst für ihre Community, also andere Wissenschaftler. Sie tun es häufig auf ihren speziellen Veranstaltungen im Rahmen ihrer eigenen Sprachspiele. Die Szene selbst aber fühlt sich kaum angesprochen. Sie bleibt oder hört weg. Dafür sind aber nicht allein divergierende Sprachcodes und Perspektiven auf die Kultur verantwortlich.
»Plötzlich war es auch nicht mehr akademisch verpönt, sich wohlmeinend mit vermeintlichen ›Billig-Produkten‹ der Kulturindustrie zu beschäftigen.«
Wenn man mal nur ein paar der wissenschaftlichen Bücher, die in den letzten zehn, 20 Jahren zu HipHop erschienen sind, durchblättert, stellt man fest: »HipHop-Scholars« unternehmen theoretisch und methodisch durchaus anspruchsvolle Streifzüge durch die Kultur. Das allein ist zunächst mal gut – HipHop ist auch an den Universitäten angekommen. Endlich. Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg, der ausgehend von den britischen Cultural Studies ab den Sechzigerjahren und ihrem Forschungsschwerpunkt auf popular und urban culture geebnet wurde. Plötzlich war es auch nicht mehr akademisch verpönt, sich wohlmeinend mit vermeintlichen »Billig-Produkten« der Kulturindustrie zu beschäftigen.
Wenn in den USA schon sehr lange zu HipHop geforscht wird und Rapper Vorträge an Eliteunis halten dürfen, so hat die deutsche Wissenschaftsszene deutlich längere Anlaufzeit gebraucht. (Noch heute muss ich mir bei fast jedem Vortrag die Frage gefallen lassen, ob ich nun was vorrappen wolle. Häufig auch begleitet von dieser enervierenden »Yo«-Handgeste, die nur Leute machen, die Rap von Comedians kennen, die gerne mal ihre »Schirmmütze« rumdrehen.) Immerhin gibt es mittlerweile aber so etwas wie eine gesellschaftliche Kultur der Auseinandersetzung mit HipHop. Sie erscheint mir allerdings zutiefst unausgewogen.
Um es mal überpointiert zu sagen: Zu viele Konferenzen, Diskussionen in Kulturzentren und öffentliche Talks laufen in einem Rahmen ab, der das Klischee vom wissenschaftlichen Elfenbeinturm und seiner strikten Orientierung an einem ohnehin akademisch involvierten Publikum erfüllt. Diese Veranstaltungen – sofern sie denn mal jenseits der Uni-Homepage und des »schwarzen Bretts« beworben werden – sind ohnehin keine großen Publikumsmagneten. Und wer sich mal genauer umschaut, stellt schnell fest, dass Szeneleute nur sehr vereinzelt oder überhaupt nicht präsent sind. Dementsprechend laufen dann auch häufig die anschließenden (inhaltlichen) Diskussionen ab: »Rapper verrohen die Jugend«, »Rap ist frauenfeindlich«, »Rap ist hyperkapitalistisch«,… you name it.
Die mangelnde Partizipation der wirklichen Auskenner bewirkt, dass manchmal Leute eine Deutungshoheit über unsere Lieblingskultur erhalten, die nicht zwangsläufig auch einen HipHop-Hintergrund besitzen oder zumindest ausreichend Erfahrungen »im Feld gesammelt haben« (wie die Ethnologen sagen würden). Dass allein ist gar nicht so schlimm. Hier greift mal wieder eine gute alte Fußball-Weisheit: Man muss nicht Erstligaprofi gewesen sein, um die Nationalmannschaft coachen zu können. Schlimm ist es aber dann, wenn durch die zu große Distanz zwischen (HipHop-)Forscher und Gegenstand (HipHop), Interpretationen und Behauptungen entstehen, die ein ansatzweise szenekundiges Publikum verstören müssen. Wenn man in wissenschaftlichen Arbeiten fachlich qualifizierter Leute etwa lesen muss, dass Breaker mit ihren Mützen auf »Gangsta-Style« machen oder dass es Eminems Inszenierungsrezept sei, sich wie ein »white negroe« zu benehmen, muss das die Szeneleute abschrecken.
Die Einflusskreise solcher buchgewordenen Falschaussagen gehen aber leider noch weiter: Stehen diese wissenschaftliche Bücher nämlich erst einmal bei Feuilleton- und TV-Redaktionen im Regal, kriegt man die ärgerlichen Inhalte zusätzlich in Tageszeitungen und TV-Beiträgen serviert. So bekommt auch ALL GOOD-Autor Ralf Theil immer wieder Stoff für seine #shitpeoplewrite–Kolumne.
Die Gründe für die mangelnde Partizipation von »echten« HipHop-Leuten liegen neben den bereits angeführten (Elfenbeinturmmentalität, schlechte Promo) aber auch daran, dass viele schlicht gar nicht wissen, dass es gute Arbeiten zu HipHop und insbesondere Rap gibt, für deren Lektüre man sich keineswegs durch 100 Seiten soziologischer Theorie oder Analysen zu Artists von vorgestern arbeiten muss. Ganz im Gegenteil. Gerade der Diskurs um Rap zeichnet sich durch eine ganze Palette von Beiträgen und Beitragsformaten aus, die durchaus journalistischen und essayistischen Charakter haben, schlicht unterhaltsam sind. Neben imponierenden Deutungsversuchen auf den Schultern Pierre Bourdieus, Stuart Halls oder auch Immanuel Kants (siehe dazu die Liste unten), findet man nicht minder imponierende, gut recherchierte Beiträge, die für jeden Rapfan hochspannend sind.
»Aus meiner Sicht spricht rein gar nichts gegen – sagen wir – Masterarbeiten über das inszenatorische Verhältnis von Authentizität und Fiktion bei Rick Ross etwa in der Medienwissenschaft.«
Wer die manchmal anzutreffenden Komplettausfälle über gangbangende Breaker und weiße Rapper, die nur Schwarze imitieren, korrigieren will, der ist in den so genannten »HipHop-Studies« jedenfalls richtig. Bei diesem von HipHop-Intellectual Murray Forman geprägten Begriff handelt es sich natürlich nicht um eine traditionelle akademische Disziplin, die in Form von Studiengängen, Lehrstühlen oder Instituten etabliert ist, sondern vielmehr um ein Diskursfeld, in dem insbesondere Vertreter der Sozial- und Kulturwissenschaften über Rap reflektieren. So etwas gibt es nicht nur in den USA, sondern seit etwa 20 Jahren auch in Deutschland.
Aufgeschlossene Lehrende haben für HipHop im Übrigen mittlerweile auch ein offenes Ohr. Rap als weltweit präsente, wahrscheinlich wichtigste Musikkultur der Gegenwart und der letzten Jahre, ist auf dem akademischen Radar. Gar kein Zweifel. Aus meiner Sicht spricht rein gar nichts gegen – sagen wir – Masterarbeiten über das inszenatorische Verhältnis von Authentizität und Fiktion bei Rick Ross etwa in der Medienwissenschaft. Oder Hausarbeiten über postmoderne Kultur in Odd-Future-Videos in der (Kultur-)Soziologie. Oder andersrum.
Sagen wir es ruhig mal etwas pathetisch: Wer sich an der wissenschaftlichen Debatte zu Rap beteiligt, der tut nicht nur was fürs HipHop-Herz, sondern auch noch etwas anderes – er leistet einen Beitrag zu einer Diskussion, die als Vermittlungsebene zwischen Szene- und Breiten-Medien bislang zu kurz gekommen, aber dem Wesen nach (als »seriöse Veranstaltung«) für Wegweisendes prädestiniert ist. HipHop-Studies sind ein großer Spielplatz für HipHop-Junkies, Digger und charmante Besserwisser. Ein Spielplatz für alle, die bei der (wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen endlich mal etwas in die Waagschale werfen wollen, was sonst auf dem Markt der gesellschaftlichen Möglichkeiten kaum Gewinne einträgt: das subkulturelle Kapital, das Nerdwissen, die volle Rap-Enzyklopädie.
In diesem Sinne ein paar ältere und neuere literarische Sureshots für Rap-Scholars:
- Forman, Murray/Neal, Mark-Anthony (2012):
»That’s the Joint. The HipHop Studies Reader.« Routledge.
Der Sammelband trägt seinen Untertitel völlig zu recht: Ein HipHop-Studies Reader im besten Sinne. Namhafte Wissenschaftler schreiben hier zu so ziemlich allem, was an Rap jenseits des puren Konsums interessant ist: Neben eher klassischen Themen (wie HipHop und Gender) gibt es etwa Beiträge zum Producing, Graffiti-Politics oder selbstkritische (!) Betrachtungen zur wissenschaftlichen Konstruktion der HipHop-Authentizität. Forman und Neal haben definitiv ihre Hausaufgaben gemacht. Ein Must-have.
- Rose, Tricia (2008):
»The Wars of Hip Hop. What we talk about when we talk about Hip Hop. And why it matters.« BasicCivitas.
Euch gehen unreflektierte HipHop-Skeptiker auf den Sack? Rap glorifiziert und begründet Gewalt? Rap gar als Blockade afroamerikanischer Emanzipation? Tricia Rose geht solchen und anderen immer wieder gestellten Fragen pointiert auf den Grund, liefert Pros und Contras für beide Seiten. Schönes Buch zu den Grabenkriegen in und um HipHop. Die pädagogische Moralkeule hält die renommierte Kulturkritikerin dabei fast immer raus.
- Jeffries, P. Michael (2011):
»Thug Life. Race, Gender and the Meanings of HipHop.« University of Chicago Press.
Jeffries beschäftigt sich in seiner über 200 Seiten starken qualitativen Studie mit Rapfans. Interviewt werden junge Erwachsene verschiedener Hautfarben, Bildungs- und Milieuhintergründe. Er zeigt, dass Rap-Hören in erster Linie immer bedeutet, einen – so könnten man sagen – »Rapfilm zu fahren«. Fans sind die Autoren ihres eigenen Kopfkinos zwischen den Ohren. Rapmusik lässt Hörer über sich selbst, die Gesellschaft und ihre eigene Stellung darin reflektieren. Ja, und dass durchaus auch bei Gangsta-Rap. Dope.
- Dyson, Michael Eric (2007):
»Know what I mean? Reflections on Hip Hop. BasicCivitas.«
Ein intellektuelles Gespräch mit Soziologie-Professor Eric Michael Dyson. Elfenbeinturm? Auf keinen Fall. Nur mal die Eckdaten: Das Vorwort stammt von Jay Z selbst, das Nachwort von Nas. KRS gibt sowieso Props. Dazwischen gibt es eindrucksvolle Einblicke in Dysons Denken über HipHop. Ein Denken, dass Kant und Tupac problemlos in einem Satz unterbringen kann. Erfrischend und klug.
- Forman, Murray (2002):
»The Hood comes first. Race, Space, and Place in Rap and Hip Hop.« Wesleyan University Press.
Wieder Murray Forman. Der Kommunikationswissenschaftler analysiert verschiedene Formen von Raumkonstruktionen im HipHop-Kontext. Dazu untersucht er u.a. deine Lieblings-HipHop-Filme, Videos sowie natürlich Texte. Sehr gutes Buch, das der Rolle des Raums den nötigen Raum gibt.
- Kitwana, Bakari (2006):
»Why white Kids love Hip-Hop. Wankstas, Wiggers, Wannabes and the new Reality of Race in America.« Basic Civitas Books.
Kitwana widmet sich einem klassischen Thema der US-Diskussion: HipHop und Ethnizität. Wieso lieben auch oder besonders Weiße Kids HipHop? Was dokumentiert sich in dieser Liebe für das einstige »Black CNN« (Chuck D)? Was sagen Schwarze dazu? Kitwana tut das einzig Richtige: Er lässt die Kids selbst zu Wort kommen. Das genauso spannende wie prekäre Thema wird souverän und umsichtig ausgeleuchtet. Der HipHop-Fan/Journalist/Aktivist und ehemalige Mitherausgeber der »Source« malt das Bild, einer »Race Reality« ohne einfache Schwarz-Weiß-Kontraste.
- Charnas, Dan (2010):
»The Big Payback.« New American Library.
Vom halbseidenen Harlem-Hustler bis zu den Major- und Indieplayern der Gegenwart – Dan Charnas schreibt eine ökonomische Kulturgeschichte mit überragenden literarischen Qualitäten. Man sollte es kaum für möglich halten, aber die wirtschaftliche Dimension der HipHop-Kultur ist fast so etwas wie unterforscht. Dabei liegt auf der Hand: Rap verstehen ohne Business und Industrie-Zusammenhänge? Nope. Dass das Ganze dann noch so lesbar ist wie ein guter Roman, muss man dem erstaunlich gut informierten Autor hoch anrechnen.
- Klein, Gabriele/Friedrich, Malte (2003):
»Is this real? Die Kultur des HipHop.« Suhrkamp.
Nur an manchen Stellen ist dieser vielleicht einzige Klassiker der deutschen HipHop-Studies etwas angestaubt – von 2003 halt. Um Realness allein geht es anno 2014 dann auch nicht mehr. Dafür bekommt man aber kultursoziologisch absolut gehaltvolle Einsichten zu HipHop als einem Feld, das auf Authentizität großen Wert legt. Gerade für Einsteiger mit Interesse an theoretisch gut nachvollziehbaren Konzeptualisierungen auf den Schultern von etwa Pierre Bourdieu ist dieses (Standard-)Werk ein Muss.
- Kage, Jan (2002):
»American Rap. US-HipHop und Identität.« Ventil.
Noch so ein schönes Einstiegsbuch, bei dem man auf wenigen Seiten genauso Essentials zur HipHop- und Sozial-Geschichte bekommt wie Textanalysen von N.W.A. oder Ice-T. Aber auch ein RZA-Interview , bei dem es um Identität und Grenzenlosigkeit geht.
- Dietrich, M./Seeliger, M. (2012):
»Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen.« Tanscript.
Okay, nicht ganz uneigennützig kommt auch der Sammelband von Martin Seeliger und mir in die Top 10. Darin unter anderem: eine (bislang konkurrenzlose) Geschichte des Deutschen Gangsta-Rap von ALL GOOD-Autor Stephan Szillus, dazu entdeckt Martin Seeliger den Klassenkampf im deutschen Rap. Ich selbst widme mich unter anderem Rick Ross, PA Sports sowie dem Einfluss von De Palmas »Scarface« auf Rap.