Weedwave – dunkler Sound aus der kalten Seele Russlands
Ende der Nullerjahre hob der Moskauer Produzent Summer Of Haze ein neues Genre aus der Taufe: Weedwave. Auch IC3PEAK oder Kamandi beweisen, dass sich Rap erfolgreich in die Tiefen des Waves transportieren lässt. Sofie Rathjens gibt Einblick in das Sub-Genre.

In Russland hat eine musikalische Nische Platz gefunden, die das Potenzial hat, den Rapmarkt neu zu ordnen: Weedwave, das Resultat von Dark Wave gepaart mit dem Sound von Dirty South und Crunk, ist aus den Clubs der Moskauer Untergrundszene nicht mehr wegzudenken und öffnet dabei Rapper*innen – auch aus dem Deutschrap – Tür und Tor zu neuen Möglichkeiten. Wer sich mit diesem noch eher jungen Genre einmal näher auseinandersetzt, könnte überrascht werden – und als Artist womöglich Inspiration für seinen eigenen Stil finden.
Es ist nicht immer leicht, die eigene Stimmung akustisch exakt einzufangen. Vor allem dann nicht, wenn es dafür einen eher nachdenklichen bis ernsten Grundton braucht, der erst einmal Raum schaffen muss für die Gedanken und Impulse seines Künstlers. Als in den 1970er Jahren Dark Wave auch in Deutschland aufkam, hatte diese Strömung bereits eine längere Reise von der anderen Seite des Teiches hinter sich mit Wurzeln im Rock, Punk, Gothic und mehr. Bands wie The Cure oder Joy Division zählen zu den Einflüssen dieses Genres. Und schon damals zeichnete sich ab, dass hier mehr verkörpert wird als – auf unterschiedlichen Arten – tanzbare Melodien. Es ist Ausdruck des eigenen, hinterfragten Innenlebens und oftmals des Gefühls, nicht in eine auferlegte Rolle zu passen. Zu den Kerneigenschaften solch einer Strömung gehört immer auch das sich fast selbstständige Weiterentwickeln, Aufspalten und in neue Stränge fließen.
Wie kommt man jetzt an einen Punkt, wo die musikalisch kalte, düstere Seite Russlands mit einem heißen Sound der Südstaaten verließen und so ein Mix entsteht, der sleazy ist und wie für Rap gemacht und sich deswegen inzwischen auch Artists aus dem internationalen HipHop an die Weedwave-Beatmaker wenden? Fangen wir mal vorne an.
Als der Moskauer Summer Of Haze 2008/2009 seine ersten Auftritte als DJ in den lokalen Untergrundclubs absolvierte, merkte er schnell, dass ihn das Genre Wave an sich zwar interessierte, ihm im Grunde aber noch zu langweilig war. Also kreierte Bravikov Zakhar Alexandrovich, so sein richtiger Name, gerade mal 20-jährig seinen eigenen Sound, dem er in den darauffolgenden Jahren den Titel »Weedwave« gab. Dabei vereinte er Elemente von HipHop mit klassischem Wave. Er baute Rapspuren in seine Songs ein, achtete auf Flow und Rhythmus eines Beats und war sich schon früh darüber bewusst, welche zentrale Rolle die synthetische Snare Drum spielen kann, wenn es darum geht, den richtigen Vibe zu erzeugen. Mit seinen 2012 erschienen Alben »Gospel« und »Come With Me, Hail Mary« zeigte Alexandrovich schließlich nicht nur sein Talent für dieses Genre, sondern auch, dass HipHop – etwa vom Wu-Tang Clan und Cypress Hill – immer schon Teil seiner musikalischen Sozialisation war. Neben ihm kamen in den letzten Jahren immer mehr Beatmaker mit Wurzeln im Wave empor, die Neues ausprobieren wollten.
Das düstere Soundbild, das das Grundgerüst von Weedwave bildet, hat es in der Vergangenheit vor allem in Form von Cloud Rap in den Fokus geschafft. Rapper wie XXXTentacion oder Ghostmane pickten oder kreierten selbst Beats, die abseits der Norm lagen. Beats, die die innere Dunkelheit ihrer Künstler noch unterstrichen, während darauf Ängste und Probleme in bis dato kaum dagewesener Deutlichkeit herausgearbeitet wurden. Denn der Bedarf war da. Crossover geschieht immer dann, wenn Artists einen neuen Weg einschlagen oder schlichtweg ihrem Bauchgefühl folgen, das ihnen sagt, wie gut sich Komponente A mit Komponente B vertragen könnte. Zuletzt sind die musikalischen Grenzen immer weiter verschwommen, während sich für Künstler zugleich deutlich mehr Möglichkeiten aufgetan haben, ihren eigenen Sound weiter auszubauen. Neben klassischen HipHop-, Trap- oder Electronica-Produzenten sucht man jetzt also nach Producern aus einem eher unbekannten Subgenre?
Nicht nur Summer Of Haze hat mit Songs wie etwa »†R∆P SƱPƩRS†∆R« oder »Young God« bewiesen, dass sich Rap erfolgreich in die Tiefen des Waves transportieren lässt. Auch Künstler wie das russische Experimental-Duo IC3PEAK machten auf ihrem letzten Album durch Kollabo-Songs mit US-Rapper ZillaKami (»TRRST«) sowie einem Feature mit Ghostmane auf sich aufmerksam. Dieser musikalischen Fusion schließt sich auch der Neuseeländer Kamandi an, der etwa mit BzkT. und Azizi Gibson Songs aufnahm, und das alles in dem düsteren Gewand aus Wave und Dirty South. Und auch den USA ist dieser sich anbahnende Trend nicht völlig entgangen. So coverte der Beatmaker Blvck Ceiling auf seinem 2019 erschienenen Album »Picasso 808« den XXXTentacion-Track »Moonlight« (Covertitel: »Moonlighter«) und erzeugte darauf einen entfesselten Vibe. Es erscheint fast logisch, dass Dirty South seit Beginn seiner Entwicklung zahlreiche einflussreiche Stränge bilden konnte, wovon allein Trap es inzwischen an die Spitze aller Charts weltweit geschafft hat. Doch die Verwandtschaft schläft nicht. Die Clubs, in denen Weedwave aufgelegt wird, werden größer. Und: Cloud Rap ist nicht tot, er hat sich nur verlagert. Er ist durch das Interesse der Streaming-Anbieter und Labels mittlerweile Daily Business.
Dass Wave-Beatmaker bislang kaum für die Produktion von Deutschrap herangezogen werden, mag an ihrer in Relation betrachteten Unbekanntheit liegen. Vor allem der Sound aus Russland und Polen konnte sich derweil in der Szene allerdings immer weiter durchsetzen und dient inzwischen auch anderen Producern als Vorlage. Es ist eine Soundästhetik der Straße, der Untergrund-Clubkultur, aber auch der Großstadt-Yards und vollgebombten Tunnel. Weedwave ist industriell, aber auch organisch, obwohl es nahezu ohne Instrumente auskommt. Um die 150 BpM kann ein Weedwave-Beat mitunter schnell werden, was sich auf den ersten Blick nicht zwingend für jede*n Rapper*in anbieten mag. Im Umkehrschluss kann darin jedoch auch die Herausforderung liegen, mit eigenem Stil und Technik ein innovatives, vergleichsweise noch unerforschtes Genre beherrschbar zu machen. Künstler wie die $uicideBoy$, Travis Scott oder Danny Seth können auf diese Beats rappen. Aber auch im Deutschrap bietet sich eine Vielzahl von Rappern an, sich mit dem dunklen Soundbild der kalten Seele Russlands und ihren Ablegern zu beschäftigen. Man denke mal an Marvin Game, Ufo361, Lance Butters, BLVTH oder OG Keemo.
Wahrscheinlich ist das Verständnis für den Struggle und die Schattenseiten des Lebens eine der Voraussetzungen, um sich einem Weedwave-Beat zu nähern. Künstler wie IC3PEAK verarbeiten in ihrer Musik unter anderem ihre Erfahrungen mit der Zensur der russischen Regierung. Sie haben in ihrer Heimat oft mit Auftrittsverboten zu kämpfen. Wer mit einem Weedwave-Beatmaker zusammenarbeiten will, wird auf Kreativität und Hingabe stoßen, die jenseits kommerziellen Erfolges liegt. Manchmal geht es allein um die bloße Existenz als Künstler, was sich auch in dem uneingeengten, vielschichtigen Soundbild widerspiegelt. Wer zudem noch echte Gitarrenriffs sucht, findet diese zum Beispiel bei dem 27-jährigen Moskauer Fraunhofer Diffraction (»Timeless«, »Kvrt In Space«) der, ähnlich wie einige seiner Untergrund-Kollegen, in der Vergangenheit in Metalbands spielte und seine Spuren schon mal nachts um drei bei einem Glas Vino und ein paar Weed Buds selbst einspielt. Die akustischen Verweise, ob HipHop oder Metal, Industrial oder Klassik finden in dem Sound aktueller Weedwave Artists jederzeit statt. Doch so unterschiedlich die einzelnen Künstler und Producer klingen – und so verschieden ihr Sound von Platte zu Platte ausfallen kann –, sie alle eint das Verständnis für sich selbst tragende, großräumig unterbaute Beats, die Platz für Rap- und Gesangsparts machen. Weedwave ist Musik aus der Nische mit einem Sound für die großen Bühnen. Es ist die natürliche, sich selbst freisetzende Weiterentwicklung eines Genres, das das Game noch lange beherrschen wird.