Sinti im Rap:
Die Entdeckung der Chabo-Sprache (1/2)

Im deutschen Rap ist »Chabo« dank Frankfurter Rappern der letzten 30 Jahre ein Begriff. Nach dem Ursprung und Sinn des Wortes hat aber die HipHop-Journaille nie groß gefragt. ALL GOOD-Autor Philipp Killmann hat sich auf die Suche gemacht und stieß dabei auf die »Chabo-Sprache«. Ein Stück bis dato unerzählter deutscher Rap-Geschichte.

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Tone von Konkret Finn war der »Chab« mit der »Farb‘ im Gesicht«, der mit Iz über »tschuckane Chaien« und »›Minsch‹ gebabb« rappte. Etwas später war Moses P. vom Rödelheim Hartreim Projekt der »Chabo«, der böse kuckt. Curse war der »Chabo im Schneesturm«, der »tschucka« mit den Ladys redete und seine »Kosengs« fragte, ob alles »latscho« ist. Dann »kam ein Chabo namens Azad« und »bombte Samy weg«. Haftbefehl zufolge wissen die Chabos, wer der Babo ist. LX von der 187 Straßenbande hört die Leute sagen, er sei »nablo«. Und für Crack Ignaz dreht sich alles nur um »Lobe«.

Selten wird danach gefragt, was diese Wörter überhaupt bedeuten, geschweige denn, wo sie ihren Ursprung haben. Die Antwort auf die ungestellte Frage gab Chawo, ein junger Sinti-Rapper aus Köln, 2017 in seinem von Sin2 produzierten Track »FCK Autotune«: »Sie sagen Wörter wie ›Chabos‹ und ›Chaia‹ draußen auf der Straße/ Was die meisten nicht wissen, Prala, sie klauen unsere Sprache/ Glaub mir, wenn ich sage, dass das Sinti-Sprache ist!/ Sie woll’n dazugehören, weil ihre Crew nur Kindergarten ist«. Im Gespräch mit an Rap interessierten Sinti sagen viele schnell, dass all die Rapper diese Ausdrücke von ihnen hätten. Das ist zwar nicht ganz richtig. Aber auch nicht ganz falsch.

Der Slang der »Frankfurter Schule«
Konkret Finn, bestehend aus Tone, Iz und DJ Feedback, war die erste deutsche Rap-Crew, die Wörter wie »Chabo« (Junge) oder »Chai« (Mädchen) in ihre Texte einbaute. Davon legt ihr längst zum Klassiker avancierter Diss-Track »Ich diss dich« Zeugnis ab, der zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung 1993 schon ein gutes Jahr alt war. Erst ein Jahr nach dem Release von »Ich diss dich« erschien das kommerziell ungleich erfolgreichere Rödelheim Hartreim Projekt (RHP) auf der Bildfläche und machte dieselben Begriffe auch außerhalb von HipHop-Kreisen populär. Bis heute steht die gesamte »Frankfurter Schule« – von Konkret Finn über RHP und Azad bis zu den Azzlackz – für einen eigenen Slang oder zumindest für bestimmte Ausdrücke, die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind.

Der damals noch in Berlin lebende Kool Savas spielte 2000 darauf an, als er in »King of Rap« rappte: »Ich geh nach Frankfurt und ruf‘ ›Deine Chai ist konkret hässlich!‹« Auf FFM folgte das beschauliche Minden, das sich ebenfalls mit einer Reihe namhafter Rapper hervortat, die sich als Chabos oder »Kosengs« von den anderen abhoben. Inzwischen machen auch Rapper aus dem österreichischen Salzburg mit einem eigenen Slang von sich reden, der ein ganz ähnliches Vokabular aufweist. Woher kamen und kommen diese für viele fremd klingenden Wörter, die bis heute in keinem deutschen Wörterbuch zu finden sind?

Auf Anfrage von ALL GOOD bei DJ Feedback (47) von Konkret Finn verweist dieser zunächst an seinen alten Freund Denis – eine, wie er sagt, »Breakdance-Legende« aus Frankfurt, die über den Ursprung des Frankfurter Slangs konkreter Auskunft geben könne als er. Das mit der »Breakdance-Legende« will Denis, der sich als junger B-Boy »Spock« nannte, im Telefongespräch mit ALL GOOD so zwar nicht stehenlassen, wie er mit einem Lachen sagt. »Die Legenden waren ›We Wear the Crown‹ und so«, stellt der 50-Jährige klar. Aber zu dem Slang der »Frankfurter Schule« wolle er sich gerne äußern.

»Meiner Meinung nach ist HipHop 1983 nach Frankfurt gekommen«, sagt er unter Verweis auf den vom ZDF mitfinanzierten Film »Wild Style« von Charlie Ahearn, der in der New Yorker HipHop-Szene spielte und im Frühjahr ’83 im deutschen Fernsehen erstmals ausgestrahlt wurde. »Und der Treffpunkt für HipHopper in Frankfurt war die Hauptwache.« An der Hauptwache, ein bekannter öffentlicher Platz, der den Mittelpunkt der Stadt bildet, seien damals aber nicht nur die HipHopper, sondern die »verschiedensten Subkulturen« zusammengekommen, erzählt Denis, der seinerzeit im Nordend lebte. Rockabillys, Straßengangs, GIs, Skater, BMX-Fahrer und »Normalos«, zählt er auf. Die Hauptwache war ein großer, multikultureller Schmelztiegel – der bald auch über seine eigene Jugendsprache verfügen sollte.

Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße
»In Frankfurt gab es in Bonames einen sogenannten ›Zigeunerplatz‹«, so Denis. »Die meisten Außenstehenden haben da keinen Unterschied gemacht, aber Fakt ist: Das waren keine ›Zigeuner‹, sondern Jenische, Schausteller und Schrotthändler.« Denis weiß, dass es »die Zigeuner« nicht gibt und ist mit den Unterschieden vertraut, die zwischen den vielen Gruppen (Sinti, Lovara und so weiter) bestehen, die allgemein unter dem Oberbegriff »Roma« – irreführenderweise auch unter »Sinti und Roma« – zusammengefasst oder eben als »Zigeuner« über einen Kamm geschoren werden. Schließlich war er, wie er sagt, 16 Jahre lang mit einer deutschen Romni von den Lovara verheiratet. So pflegen, wie es in der Fachliteratur heißt, die Jenischen zwar einen den Roma teilweise ähnelnden Lebensstil, aber werden schon allein in ethnischer Hinsicht nicht zu den Roma gezählt.

Tatsächlich handelt es sich bei dem zwischen Bonames und Frankfurter Berg gelegenen Platz um einen 1953 für das sogenannte »fahrende Volk« eingerichteten und bis heute fortbestehenden »Wohnwagenplatz«, wo »nur sehr wenige Sinti und keine Roma« leben, wie auch die Soziologin Dr. Sonja Keil in ihrem 2018 erschienenen Buch »Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße« schreibt. Nach Keil ließe sich Denis Aufzählung der Bewohner des Platzes noch um Zirkusbetreiber und weitere Reisegewerbetreibende ergänzen. Auf die Sprache der Platzbewohner geht die Soziologin in ihren beiden Büchern über den Platz zwar nicht ein, weil sie, wie sie auf Anfrage von ALL GOOD sagt, keine Sprachwissenschaftlerin sei und es dazu auch »keine gesicherten Erkenntnisse« gebe. Allerdings, fährt sie fort, sei es so, dass sich »bei den ›beruflich Reisenden‹ oder ›ambulanten Gewerbetreibenden‹ (…) Wörter herausgebildet und erhalten« haben, »die sich aus ihrer Berufstätigkeit« heraus entwickelt hätten. Auf der Reise, so Keil, hätten sich viele Einflüsse gemischt. »Dazu gehören auch Einflüsse von jüdischen Händlern beziehungsweise Reisenden.«

Denis wird konkreter. Er sagt, die Sprache der Platzbewohner in Bonames sei neben dem Deutschen das Rotwelsch oder auch das Jenische. Das Rotwelsch, so ist es in Lexika nachzulesen, ist ein jahrhundertealter Begriff und heute eine Sammelbezeichnung für deutsche Sondersprachen, auch »Geheim-« oder »Gaunersprache« genannt, die sich je nach Region und Sprechergemeinschaft in jeweils unterschiedlichem Ausmaß vor allem aus Dialekt, Platt, Jiddisch und Romanes zusammensetzt. Die Sprecher des Rotwelsch lebten meist am Rande der Gesellschaft. Ihre Sprache diente ihnen als Schutz, aber auch als Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft. Bis heute wird das Rotwelsch mancherorts von der Jugendsprache aufgegriffen und somit am Leben erhalten.

Nach ALL GOOD-Recherchen besteht das Frankfurter Rotwelsch aus Sätzen wie beispielsweise »Chabo cheft en Nabolo« (Der Typ ist ein Idiot!), »Bugg chi Schund!« (Erzähl keine Scheiße!) oder »Chi Lobi« (Hab kein Geld!). Ausdrücke, wie es sie so oder ähnlich etwa auch in der Manischen Sprache im eine Autostunde von Frankfurt entfernten Gießen oder in der Mindener Buttjersprache gibt. Erstaunlich in Anbetracht des Reichtums des Frankfurter Raps an Rotwelsch-Wörtern: Die Mainmetropole scheint noch ein weißer Fleck auf der Karte der Sondersprachenforschung zu sein. »Ein (Rotwelsch-)Vorkommen im Raum Frankfurt ist uns nicht bekannt«, sagt Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Siewert vom »Geheimsprachen Verlag« auf Anfrage von ALL GOOD.

Die »Chabo-Sprache«
Denis erzählt, dass es allen voran zunächst zwei Brüder aus dem 15 Kilometer südlich von Frankfurt gelegenen Dietzenbach gewesen seien, die Wörter wie Chabo und Chai und mehr eines Tages mit an die Hauptwache gebracht hätten. »Die Brüder Bobby und Martin haben diesen Slang wirklich sehr gut beherrscht«, sagt er. »Wir waren tagtäglich zusammen. Wenn wir uns unterhalten haben, dann eben in diesem Slang.« Aber woher hatten Bobby und Martin diese Sprache, wenn sie doch selbst weder auf dem Bonameser Platz gelebt haben noch Jenische sind? Ihre Eltern hätten polnische Wurzeln, erzählt Martin im Telefongespräch mit ALL GOOD. Er sei in Toronto zur Welt gekommen, sein Bruder in Connecticut dann zog die Familie nach Deutschland. »Mein Bruder und ich wohnten in Dietzenbach und hatten da so eine Multikulti-Clique mit Leuten aus der ›Zigeunerecke‹«, erzählt der 49-Jährige. Näheres über diese »Zigeunerecke« könne er heute gar nicht mehr sagen, außer dass eine »Schlüsselperson, ein verrückter Typ« namens Wallach, »Zigeuner« gewesen sei. Ihre Clique habe über eine eigene Sprache verfügt: die »Chabo-Sprache«, die sich die Brüder aneignet hätten. Dass die beiden tatsächlich über ein gewisses Sprachtalent verfügt haben müssen, zeigt sich auch daran, dass Bobby laut Martin später Mandarin studiert und jahrelang in China gelebt habe. Ob es sich damals bei den »Zigeunern« um Sinti, Roma oder auch Jenische gehandelt habe, das wisse Martin nicht.

Später, ab 1984/85, gingen Bobby und Martin in Frankfurt zur Schule. Ihren Slang nahmen sie mit in die Mainmetropole. »Ja, ich denke, man kann das so sagen: Mein Bruder und ich haben die ›Chabo-Sprache‹ an die Hauptwache gebracht«, sagt Martin im Hinblick auf Denis These. Er selbst habe sich in seiner Jugend vor allem als Skater an der Hauptwache aufgehalten. Sein gut ein Jahr älterer Bruder Bobby, fährt Martin fort, sei mit den Jungs von der Hauptwache eher durch die Discos gezogen sei. Unter diesen Jungs sei auch Moses Pelham gewesen. »Mit Moses waren mein Bruder und ich befreundet«, sagt Martin. »Der hat die Chabo-Sprache von uns übernommen und später in seine Texte eingebaut.«

Neben den zwei Brüdern aus Dietzenbach, sagt Denis, sei »auf jeden Fall« auch noch Iz zu nennen, der sich in den Jahren vor Konkret Finn zunächst als Human Beat Box bei »We Wear the Crown« einen Namen machte und ebenfalls entsprechende Slang-Begriffe an die Hauptwache brachte. »Wir waren die ersten, die diese ›Sprache‹ benutzten und sie in die Musik integrierten, und zwar einfach, weil wir so geredet haben«, sagt Iz im Telefongespräch mit ALL GOOD. Aufgewachsen in den Frankfurter Stadtteilen Ginnheim und Eschersheim, habe er Anfang der 80er Jahre schon an der Peter-Petersen-Schule (heute: IGS Eschersheim) sowie auf der »Dippemess«, einer großen Frankfurter Kirmes mit vielen Schaustellern, Kontakt zu anderen Jugendlichen vom »Platz« an der Bonameser Straße gehabt. Als Freund der Eschersheimer Niedwiesen-Gang habe er später auch »geschäftlich« mit ein paar Jungs vom Platz zu tun gehabt. Eine Familie der »Reisenden« habe auch an der laut Iz »berühmt-berüchtigten« Niedwiesenstraße gewohnt, seinerzeit ein sozialer Brennpunkt. Von den Bewohnern des Platzes, den »Reisenden«, wie sie sich selbst vorzugsweise bezeichnet hätten und genannt werden wollen, erzählt Iz, habe er »diese Sprache« aufgeschnappt. Und von ihm habe sie wiederum Tone übernommen, der damals noch Iz Beatbox-Schüler war.

Real Jay und die Bewohner des Bonameser Platzes
Patrick Jones alias Real Jay kennt den Bonameser Platz aus eigener Anschauung. Real Jay machte sich zunächst mit zahlreichen Feature-Beiträgen und als »Warheit«-Gründungsmitglied einen Namen, bis er 2007 schließlich mit »Gangstartainment – Von der Straße zu den Sternen« nicht nur sein Debüt-, sondern auch ein amtliches Straßenrap-Album ablieferte. Ein über sein eigenes Label Geddobrillant veröffentlichtes Album und ein Sampler später legte er Anfang Januar mit der Single »Mach die Boxe laut« nach. Real Jay ist gemeinsam mit seinem Bruder Jonesmann und seinen anderen Geschwistern in der Hochhaussiedlung am Ben-Gurion-Ring in Frankfurt-Bonames aufgewachsen. Im Alter von sechs Jahren, erzählt er im ALL GOOD-Gespräch, sei er erstmals zu dem außerhalb »der Platte« gelegenen Platz an der Bonameser Straße gefahren. »Ich hatte mit meinen Eltern und Geschwistern schon in einem Trailer Park gewohnt und es war gleich normal für mich«, sagt der 47-Jährige. Aber die Bewohner des Bonameser Platzes, die Schausteller, Schrotthändler, Artisten, Jenischen und vereinzelt auch Sinti und deren Lebensweise waren dann doch etwas Besonderes und habe er als Kind aufregend gefunden, erzählt er.

Auf dem Platz habe er in den 70er Jahren nicht nur die ersten BMX-Räder gesehen und nur wenige Jahre ältere Jungs, die auf fahrenden Autos waghalsige Akrobatik vorführten, sondern »von den Jenischen«, wie er sagt, auch Worte wie »Chabo« oder »Chai« aufgeschnappt. Begriffe, die er in ähnlicher Form wiedererkannte, als wenige Jahre später deutsche Rom (gesprochen: Romm) in sein Nachbarhaus einzogen, eine Teppichhändlerfamilie von den Lovara, mit der ihn bis heute eine Freundschaft verbinde. Als er später mit HipHop in Berührung kam und zu rappen anfing, flossen die Wörter, die er damals auf dem Platz in Bonames aufgeschnappt hatte, in seine Raps mit ein. »Wir sind wie Drogen, erst turn‘ wir Chabos/ und mit jedem weiteren Verse zerstören wir sie wahllos«, rappte er 2001 in Azads Posse-Track »Unaufhaltbar«.

Aus all diesen Einflüssen, den Brüdern Bobby und Martin aus Dietzenbach, Real Jay aus Bonames, Iz und seinen Jungs aus Eschersheim sowie einzelnen Jungs vom Platz an der Bonameser Straße, die es laut Denis auch immer mal wieder an die Hauptwache gezogen habe, sind demnach Bestandteile des Rotwelschs, gepaart mit hessischem und HipHop-Vokabular, zur Frankfurter Jugendsprache geworden. »Dass das auch Teile des Rotwelschs waren, war mir und wahrscheinlich auch den meisten anderen damals gar nicht klar, den Begriff kannten wir nicht. Wir nannten unseren Slang ›Chabo-Sprache‹«, sagt Denis. Eine Bezeichnung, die Iz hingegen fremd ist. »Wir hatten dafür keinen Namen, wir haben einfach so gesprochen«, sagt er.

DJ Feedback, der zu Hauptwache-Zeiten in Frankfurt-Fechenheim wohnte, schildert Sinn und Bedeutung der Chabo-Sprache: »Es war eine Sprache, die jeder Jugendliche an der Hauptwache schnell gelernt hat, egal welcher Herkunft. Wir hatten jetzt alle eine eigene gemeinsame Sprache, was viele Vorteile mit sich brachte, denn so konnten wir reden, ohne dass andere das verstanden.« Denis befindet: »Im Grunde ist es relativ einfach, irgendeiner, der in der Szene was dargestellt hat, hat es aufgriffen und die Sprüche rausgehauen, dann hat es der nächste übernommen, und so hat es sich verbreitet wie ein Lauffeuer.«

Als Jugendsprache adaptiert
»Wir haben das als Jugendsprache adaptiert«, bestätigt DJ Feedback. Er und die meisten anderen Jungs, aus denen später Konkret Finn, die Asiatic Warriors, RHP und so weiter wurde, waren etwas jünger als Denis und dessen Leute und schnappten den Slang von den Älteren auf. Folglich fanden sich Wörter aus dem an der Hauptwache entstandenen Slang Anfang der 90er Jahre auch in den Raps von Konkret Finn wieder. Das von der frühen Frankfurter Schule viel gebrauchte Wort »Fotzenlegger« geht in diesem Fall übrigens auch auf das »fahrende Volk« zurück, wo dieses Schimpfwort als besonders beleidigend gilt. Ähnlich verhält es sich mit dem Rotwelsch-Begriff »Schleim« (abstoßende Person). Neben diesen und bis heute geläufigen Wörtern »Chabo« und »Chai« gehörten bei Konkret Finn auch Rotwelsch-Begriffe wie beispielsweise »Nabolos« (Idioten), »tschoren« (klauen), »naschen« (laufen) und »Minsch« (Fotze) – beziehungsweise »›Minsch‹gebabbe« – zum Vokabular.

Alles Begriffe, die so nicht nur im Rotwelsch vorkommen, sondern auch im Romanes der Sinti. Das Romanes hat wiederum das Rotwelsch beeinflusst. Das ist der Grund, weshalb viele an Rap interessierte Sinti glauben, dass die Rapper der »Frankfurter Schule« diese Wörter direkt von Sinti übernommen hätten, mit denen sie aufgewachsen sind. Doch dies scheint so nicht der Fall gewesen zu sein. »Im HipHop in Frankfurt haben die ›Zigeuner‹, weder die Sinti noch die Roma, in irgendeiner Form groß Einfluss gehabt«, sagt Denis. Allenfalls ein paar einzelne Rom hätten sich an der Hauptwache seinerzeit vorübergehend als B-Boys versucht. Ein befreundeter Rom – Janosch von den Lovara –, der öfter mit ihnen abgehangen habe, ist dagegen sogar auf Konkret Finns 2001 erschienenem Album »Reim, Rausch und Randale« zu hören. Allerdings nicht als Rapper oder Produzent. In dem Track »Niemand hätt‘ es je gedacht« führt er ein scheinbar emotional aufgeladenes Gespräch mit einem Freund im Romanes der Lovara. Aber Sinti? »Wir haben nicht einen einzigen Sinto in unserer Truppe gehabt, und ich hab‘ sehr viel diese Sprache genutzt«, sagt Denis. So hat es auch Feedback in Erinnerung: »Da war kein einziger Sinto dabei, als es in Frankfurt um Rap oder HipHop ging – sonst hätte ich den gekannt.«

Aber auch wenn Sinti selbst, zumindest in Frankfurt am Main, keinen direkten Einfluss auf den hiesigen HipHop ausgeübt haben: Fest steht, dass sich manche Sinti insbesondere von den Texten des Rödelheim Hartreim Projekts angesprochen fühlten. Mancher Sinto wurde durch sie überhaupt erst an Deutschrap herangeführt. »Mit deutscher Rap-Musik hatte ich am Anfang überhaupt nichts am Hut«, sagt etwa Jeffrey (36), ein Sinto und Rapper aus Osnabrück, im ALL GOOD-Interview. Dies habe sich erst durch RHP geändert. »Ich hatte noch nie vorher jemanden gehört außer Tomkat, Danymal und Stage One, der Wörter aus meiner Sprache, dem Romanes, in seinen Songs hatte. Durch Moses Pelham änderte sich dann meine Sicht auf Deutschrap.« Bedient sich Haftbefehl aus Frankfurts Nachbarstadt Offenbach also an der Chabo-Sprache, wenn er rappt, dass Chabos wissen, wer der Babo ist, und du per Kopfkick »mulo« (tot) gehst und seine Klamottenmarke »Chabos« nennt? Oder hat er einen persönlichen Bezug zu Sinti, wenn er an der Seite von Xatar die Einheit von »Kanacks, Sintis, Atzen, Reşos« beschwört?

Minden und die Buttjersprache
Ähnlich wie in Frankfurt am Main verhält es sich allem Anschein nach in Minden. Wie in FFM halten auch dort bis heute allerhand Romanes-Wörter Einzug in die Texte der lokalen Rapper – von alten Hasen wie Curse und dem Klan über Stress & Trauma bis zu Youngstern wie Ayo & Sky und OGD. Allerdings auch hier vor allem über das örtliche Rotwelsch, das in der ostwestfälischen Weserstadt »Buttjersprache« heißt. Zwar hat Italo Reno von Der Klan selbst einen Sinti-Hintergrund. Aber abgesehen von ihm hätten die Sinti in Minden mit HipHop nichts zu tun gehabt, wie Italo Reno ALL GOOD gegenüber sagt. Folglich hätte auch Curse Romanes-Begriffe, wie »Chabo« oder »latscho« (gut) »nicht direkt von den Sinti, sondern eher aus der Umgangssprache« der multikulturellen Clique übernommen, die aus Reno, seinem Partner in Rhyme Germany, Türken, Arabern und so weiter bestanden habe.

Im hessischen Gießen gibt es die »Manische Sprache«, eine Form des Rotwelsch, die ebenfalls stark vom Romanes geprägt ist. Im thüringischen Leinefelde-Worbis heißt das Rotwelsch »Kochum« und in Paderborn ist es das »Mastbrucher Emmes«. In Münster nennt sich das Rotwelsch »Masematte«. »Münster ist da! Fako, ›Chabo‹ und ›Kaline‹ (Mädchen)/ 5-Panel auf’m ›Schero‹ (Kopf) und der Bart verdeckt die ›Schmiege‹ (Gesicht)«, rappt der Münsteraner AzudemSK in »StillNotGivinAFuck«. »Meine Mutter kommt aus Gronau und ist in Münster aufgewachsen«, sagt Ralf Döscher alias AzudemSK. »Und da hat sich einiges an westfälischem Platt, Norddeutsch, Masematte und Jiddisch vermischt, zum Beispiel ›jovel‹ oder ›töfte‹, was ›gut‹ heißt, oder ›schovel‹ für ›übel/eklig‹.« Er zählt weitere Begriffe auf: »Koten« für Kids, »schnorren/schorn« für klauen, »Lobi/Lowi« für Geld, »Lowine« für Bier, »achilen« für essen, »Plinte« für Hose oder »Hegel« für Idiot. »Den Begriff ›Chabo‹ kannte ich eher aus dem Graffiti-Umfeld von älteren Sprühern aus Münster, die in ihrem Sprachgebrauch auch einiges an Masematte vorwiesen«, so der 32-Jährige. »Bei denen gab es natürlich auch Begriffe, die im täglichen Gebrauch sehr präsent waren, also für Bullen, Kohle, Frauen und trinken.«

»Kanackisch für Österreicher«
In Salzburg ist das Jenische verhältnismäßig präsent und von Rappern wie Crack Ignaz, Young Krillin oder Drexor aus dem Hanuschplatzflow-Kollektiv in ihre Raps eingearbeitet worden. Besonders verbreitet sei das Jenische in den »weniger privilegierten« Vierteln der Stadt, sagt Drexor, der mit Rapper Dazart, ebenfalls aus dem österreichischen Salzburg, gerade an einer gemeinsamen EP arbeitet. »Ein alteingesessener Freund aus Liefering in Salzburg hat mir mal erzählt, dass die jenische Sprache zeitweise bewusst von nicht-jenischen Personen erhalten worden ist, da sie bei zwielichtigen Gesprächen als Geheimsprache gedient und somit möglichen Beschattern das Zuhören erschwert hat.« Das Jenische werde von einer Generation an die andere weitergegeben, so der 30-Jährige. Er selbst habe es von Freunden und Mitschülern übernommen, die das Jenische von ihren Eltern gelernt hätten.

»Was unseren Rap angeht, so haben wir diese Komponente schon immer eingebaut, weil sie in unserem natürlichen Sprachgebrauch vorhanden war und wir außerdem ein Alleinstellungsmerkmal dadurch haben«, schildert der Salzburger und verweist auf ein Interview seines Kollegen Crack Ignaz. »Darin hat er erwähnt, dass durch den Dialekt, aber auch durch jenische Begriffe ein ähnlicher Effekt wie bei Haftbefehls Texten entsteht. Durch diese unbekannten Wörter die immer wieder einfließen, entsteht ein unnahbarer und interessanter Charakter.« Manche bezeichneten das Jenische daher »auch als ›Kanackisch für Österreicher‹«. »Du kummst ma mit Thug Life, i spuck auf dei Luftdruck und ›guff‹ (schlag) da die ›Nack‹ (Nase) ein«, rappt Drexor in »32 Bars«. Ob es sich beim Jenischen um eine eigene Sprache oder um eine Variante des Rotwelsch handelt, darüber gehen die Meinungen der Sprachwissenschaftler auseinander. Fest steht: Je nach Region ist das Jenische in unterschiedlichem Ausmaß meist auch vom Romanes geprägt.

Als Romanes bezeichnen nicht nur die Sinti ihre Sprache, sondern auch die meisten anderen Roma-Gruppen, deren Sprachen sich voneinander unterscheiden. Woher kommen also die Romanes-Wörter, die über das Rotwelsch oder Jenische schließlich in den Texten von bekannten Rap-Größen landeten? Von den Sinti? Oder vielleicht doch von den Lovara, den deutschen Rom, zu denen es zumindest in Frankfurt am Main vonseiten der noch jungen HipHop-Szene offenkundig beiläufige Verbindungen gab? Die Antwort liefert der US-amerikanische und an der britischen Universität Manchester lehrende Linguist und Romanes-Experte Professor Yaron Matras auf Anfrage von ALL GOOD. Die am häufigsten im deutschsprachigen Rap gebräuchlichen Wörter, wie Chabo, Chai oder Lobi/Lobe, »weisen eindeutig die Klangstruktur von Sinti auf«, sagt Matras. Das Romanes der Lovara schließt er aus.

Das gilt auch für andere Romanes-Wörter, die im Rap besonders präsent sind, wie »Prala« (Bruder), »mulo« (tot/Tod), »nablo« (verrückt), »latscho«, »tschucka« oder »tschoren« – »all diese Beispiele sind Sinti«, befindet Matras über die weiteren ihm vorgelegten Wörter. Insofern hat Chawo aus Köln zwar recht, wenn er sagt, dass das »Sinti-Sprache« ist – allerdings mit der Einschränkung, dass sie zumindest in Sachen Rap in Frankfurt am Main, Minden und Salzburg eben nicht direkt von den Sinti übernommen beziehungsweise »geklaut« worden ist. In den Rap kam das Romanes, die Sprache der Sinti, wie jetzt klar ist, zunächst über die Brücke des Rotwelsch – über die Buttjersprache, die Masematte, das Jenische – oder die Chabo-Sprache.

1998 schrieb Yaron Matras in seinem Buch »The Romani Element in Non-standard Speech«, dass es allem Anschein nach nur drei unzweifelhaft aus dem Romanes stammende Wörter in die deutsche Umgangssprache geschafft haben: »Bock« (Lust), was im Romanes »Hunger« bedeutet, »Zaster«, also Geld (Romanes: Eisen/Metall) und »Kaschemme«, die zwielichtige Absteige (Romanes: Kneipe). Aber wer weiß? In Anbetracht all der Romanes-Wörter, die seit den frühen 90ern im deutschsprachigen Rap kursieren, muss diese Liste vielleicht bald aktualisiert und um Begriffe wie »Chabo« und »Chai«, »Lobi« und »latscho« und so weiter ergänzt werden.

Hier geht es zu Teil 2 – »Sinti im Rap: Auf der Suche nach den Chabos«.