French Connection – der Einfluss von Frankreich auf Deutschrap
Rap aus Frankreich übt seit jeher einen starken Einfluss auf Deutschrap aus. Schon seit den Anfangstagen schielen Rapper hierzulande immer wieder zu ihren Nachbarn, um sich von deren Songs und Kultur inspirieren zu lassen. Daran hat sich auch in den letzten Jahren nicht viel geändert. ALL GOOD-Autor Mathias Liegmal hat die Historie des Austauschs zwischen beiden Musikszenen nachgezeichnet.

Ein paar vereinzelte Anschläge auf der E-Gitarre und etwas Hall, viel mehr nicht. Eine von Autotune getragene Stimme säuselt ein paar Mal »Yeah Yeah Yeah« ins Mikro, um anschließend betrübt darüber philosophieren, dass das Leben nicht fair sei, sondern nur Schmerz bereit halte. Niemand würde auch Anhieb vermuten, dass Alpa Gun hinter diesem Song steckt. Zu ungewohnt sind die Töne, die darauf angeschlagen werden – was sowohl auf die Verletzlichkeit als auch auf den Sound bezogen werden kann. So hatte man Alpa bisher noch nie gehört.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis sowohl die Kommentatoren bei YouTube als auch der Twitter-User clo1444 darauf hinwiesen, dass ihnen der Song doch verdächtig bekannt vorkam. Die Parallelen sind so eindeutig, dass man es kaum abstreiten kann: Alpa und sein Schützling Monkey41 hatten sich offensichtlich beim französischen Rap-Duo PNL bedient, deren Song »A l’Ammoniaque« bereits Mitte 2018 erschien und wohl als Vorlage diente.
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Es wäre jedoch falsch, Alpa und Monkey deshalb ganz allein an den Pranger zu stellen. Die zahlreichen Tweets, mit denen clo1444 seit Mai 2020 immer wieder Plagiate aufdeckt, lassen darauf schließen, dass es mittlerweile Gang und Gäbe im Deutschrap ist, sich an Beats und Flow aus anderen Ländern zu bedienen. Die Nase vorn haben dabei, das erklärt schon allein aus der Rap-Historie an sich, die USA. Doch auch französische Artists müssen immer wieder als Kopiervorlage herhalten und können dabei sogar ihre Kollegen aus Großbritannien übertrumpfen – was angesichts der Tatsache, dass der Musikmarkt dort noch einmal ein gutes Stück größer ist und die englische Sprache eigentlich per se eine größere Zielgruppe eröffnet, durchaus überrascht. Wieso also übt ausgerechnet Frankreich einen solch großen Einfluss auf Deutschrap aus?
Land der Liebe und der Prostete
»Den Deutschen muß man verstehen, um ihn zu lieben; den Franzosen muß man lieben, um ihn zu verstehen«, schrieb Kurt Tucholsky einst. Das ist natürlich sehr pauschal gesprochen, doch es verdeutlicht recht gut, welches Bild man sich in Deutschland von Frankreich macht. Das Land gilt als eine Welt, die man sich vor allem durch Emotionen erschließen kann, nicht durch den Verstand. Nicht nur, dass die Hauptstadt Paris gemeinhin als Stadt der Liebe gilt. Auch die bis heute international geschätzte Haute Cuisine und die Haute Couture tragen ihren Teil dazu bei.
Dem gegenüber jedoch steht ein Staat, der bei Aufständen und Protesten betont hart und aggressiv auftritt. Die Französische Revolution mag für die moderne Welt schier unglaubliche Errungenschaften in den Bereichen Humanität und Demokratie mit sich gebracht haben, doch hat man im Élysée-Palast eher weniger Lust darauf, sich noch einmal von der Bevölkerung überrumpeln zu lassen. Das Volk wiederum hat sich diesen revolutionären Kern bis heute bewahrt, weshalb Demonstrationen und auch die sich daraus entwickelnden Straßenschlachten einen deutlich höheren Stellenwert genießen als hierzulande.
Die Gelbwesten und die Proteste gegen Artikel 24 sind lediglich die neuesten Symptome dieser langwierigen Tradition und nicht zuletzt ein Aufbäumen eines Volkes, das sich immer weniger durch die regierenden Eliten repräsentiert führt. Frankreich ist ein zentralistischer Staat, bei dem Paris sowohl den politischen als auch den kulturellen Kern des Landes bildet. Doch auch innerhalb der Hauptstadt kann man sich als unerwünschter Außenseiter fühlen. Für internationale Schlagzeilen sorgte 2005 der Besuch von Präsident Sarkozy in einem Pariser Vorort, bei dem er verkündete, man müsse diese mit dem Hochdruckreiniger vom Abschaum reinigen – womit keine Renovierungsmaßnahme, sondern wohl tatsächlich die Beseitigung von Menschen gemeint war. In den sogenannten »Banlieues«, den Vororten, wohnen vorwiegend arme Menschen, die vielfach einen Migrationshintergrund haben. Rassismus, Klassismus und viele andere Ismen greifen hier ineinander und verstärken sich gegenseitig. Sarkozy, aber auch seine Vorgänger und Nachfolger haben es in mehreren Jahrzehnten nicht geschafft, funktionierende Maßnahmen umzusetzen, um die marginalisierenden Mechanismen wieder umzukehren oder zumindest aufzuhalten. Vielleicht gab es dieses politische Ziel aber auch niemals wirklich.
Gleichzeitig bilden besagte Banlieues seit jeher eine der Hauptquellen für die französische Rap-Szene, was aus deutscher Sicht – vor allem auch durch den Film 1995 erschienenen »La Haine« – nicht selten zu einer gewissen Romantisierung der prekären Verhältnisse beigetragen hat. Man tut der französischen Rap-Szene sicherlich Unrecht, wenn man sie allein auf besagten Film reduziert – schließlich gab und gibt es auch abseits der Banlieues relevante Artists. Dennoch ist es nahezu unmöglich, über Rap aus Frankreich zu sprechen, ohne auch »La Haine« zu rezipieren. Der Film erzählt das Schicksal von fünf verschiedenen Protagonisten in den Pariser Vororten voller Tristesse und Gewalt. Auf dem Soundtrack sind zahlreiche französische Rap-Größen zu finden, und noch heute benennen verschiedene Künstler auf beiden Seiten der Grenze ihre Songs nach dem Streifen. Erst kürzlich erschien in Frankreich ein Sachbuch über den Aufstieg der Rechten, das denselben Titel trägt. Auch hierzulande hinterließ »La Haine« seine Spuren. So benannte nicht nur Ercandize ein ganzes Mixtape danach – auch Songs von Nazar, Marteria und Luciano tragen diesen Titel und zeigen, wie der Film Deutschrap bis in die Gegenwart beeinflusst.
Von der Kolchose bis zum Bordstein
In der Oral-History »Könnt ihr uns hören?« erzählt »MZEE«-Gründer Akim Walta, wie er einst mit Torch zusammensaß und eine Art Masterplan für die deutsche HipHop-Szene entwarf, um ähnliche Verhältnisse wie in Frankreich zu schaffen, wo die Kultur seinerzeit schon deutlich weiter war. Dieser Umstand war vor allem der Tatsache geschuldet, dass es den Versuch, auf Englisch zu rappen, in Frankreich so gut wie gar nicht gegeben hat. Torch, der selbst zweisprachig mit Deutsch und Französisch aufwuchs, erklärt sich diesen Unterschied damit, dass der französische Akzent einfach zu stark sei, um ein akzeptables Englisch sprechen – geschweige denn rappen – zu können.
Eine deutlich tiefer gehende Erklärung bietet Ulrich Wickert an. Der Journalist, der vielen hierzulande vor allem als Nachrichtensprecher bekannt ist, hat einen Großteil seines Lebens in Frankreich verbracht und vertritt in seinem Buch »Frankreich muss man lieben, um es zu verstehen« die These, dass es ein spezifisch französisches Angstgefühl gebe, das mit dem Verlust der eigenen Sprache einhergeht. Anders formuliert: Wer seine Sprache aufgibt, verliert damit auch seine Identität – weshalb die Sprache um alles in der Welt beschützt werden muss. Als Beleg dafür führt er unter anderem an, dass Frankreich mit der »Académie française« sogar eine eigene Gesellschaft eingerichtet hat, die mit der Vereinheitlichung und der Bewahrung der französischen Sprache betraut ist. Die Mitglieder der Gesellschaft zählen zu den am höchsten angesehen Bürgern des ganzen Landes.
Diesem Umstand entspringt auch die schon oft thematisierte Radioquote, die französische Radiosender dazu verpflichtetet, 40% französischsprachige Musik zu spielen. Die Hälfte davon muss wiederum von Newcomern stammen, deren Status an Verkaufszahlen festgemacht wird – Musiker also, die noch nicht zwei Mal 100.000 Einheiten verkauft haben. In Ermangelung von ausreichend Material fanden auf diese Weise auch schon früh diverse Rap-Songs den Weg ins Radio, die unter normalen Bedingungen keine Chance auf Airplay gehabt hätten.
Gleichzeitig zu den ersten Schritten der Professionalisierung der Deutschrap-Szene streckte man die Fühler nach Frankreich aus. Johannes »Strachi« Strachwitz, einer der Gründer von 0711 Entertainment, wurde noch in jungen Jahren währendes eines zweiwöchigen Schüleraustauschs nach Saint Denis durch das ständige Gefühl, jemand wolle ihn bestehlen, eher eingeschüchtert. In späteren Jahren entstand dennoch so etwas wie eine Achse zwischen Baden-Württemberg und Frankreich. Das Ergebnis dieser Verbindung ist unter anderem ein IAM-Feature auf dem zweiten Massive-Töne-Album »Überfall«. Auch Afrob hatte auf »Made in Germany« Unterstützung aus dem Nachbarland, als er auf »En position de débat« von der Rapperin Warda begleitet wurde. Zudem wartete die zweite Freundeskreis-LP mit einem Shurik’n-Feature auf.
2003 wurden Stuttgarts Verbindungen nach Frankreich schließlich sogar mit einem Sampler bedacht. Kopfnicker Records organisierte mit »French Connection« ein Kollabo-Projekt, bei dem der internationale Austausch im Vordergrund stand, weshalb die beteiligten Artists stets zusammen im Studio sein mussten – notfalls begleitet von einem Dolmetscher. Heraus kam ein Sampler, dem man diese Mühen tatsächlich anhört und der so manche Überraschung bereithält. Begleitet wurde die Platte von einem gleichnamigen Buch von Sascha Verlan, das die Eigenarten und Gemeinsamkeiten beider Szenen herausarbeitet – wenngleich der zeitweise etwas frustriert klingende Zeigefingerstil ein wenig anstrengend zu lesen ist.
Die Kollegen in Hamburg hingegen hatten relativ wenig für Frankreich übrig, was vielleicht auch einfach der Entfernung geschuldet war. Lediglich Illo thematisierte hier und da seine Wurzeln in Marseille, wobei sich dies in erster Linie auf die Textebene bezog – der Sound blieb klar in der Hansestadt verhaftet.
Booba erobert Frankfurt und Berlin
Als das Pendel in der zweiten Generation von Deutschrappern schließlich in Richtung Berlin ausschlug, hinterließ Rap aus Frankreich auch dort seine Spuren. Besonders im Schaffen Bushidos war der Einfluss deutlich erkennbar, da dieser seinerzeit viel Lunatic und Booba hörte und sich soundästhetisch stark davon inspirieren ließ. Hervorgehoben sei an dieser Stelle der Song »Berlin – Paris«, eine B-Seite der »Gemein wie 10«-Single, die er gemeinsam mit Demerci und Fabrice aufnahm. Mit Fabrice hatte Bushido bereits 1998 auf seinem Demotape zusammengearbeitet. Auch die dazugehörigen Videos, wie auch die Videos von Aggro Berlin überhaupt, schielten immer mal wieder nach Frankreich. Hauptgrund dafür ist die Jugend von Aggro-Mastermind Specter, der zweisprachig in Paris aufgewachsen ist und dort schon früh mit der örtlichen Rap-Szene in Berührung kam. Allen voran die düstere Schwarz-Weiß-Ästhetik, mit der auch Bushidos Debütalbum »Vom Bordstein bis zur Skyline« begleitet wurde, verweist auf entsprechende Vorbilder aus dem Nachbarland – »so ‚ne Lunatic-Shurik’n-Samurai-Nummer«, wie Specter einst selbst in einem Interview sagte. Auch andere Aggro-Berliner linsten gerne einmal nach Frankreich hinüber. So findet sich auf »Heiße Ware«, dem Mixtape von B-Tight und Tony D, ein Song namens »Berlin Paris« mit Gilles-K-Feature.
Doch der Einfluss in dieser Zeit reicht noch weiter. Azads frühe Alben leben von einer ganz ähnlichen Ästhetik wie jene Bushidos, wobei das Sako-Feature auf »Faust des Nordwestens« belegen dürfte, dass der Bozz sich damals bereits in Frankreich umgehört hatte. Megaloh, der einst eine französischsprachige Schule besuchte, ist ebenfalls stark durch Rap aus Frankreich geprägt und zählt »Soldats« von Booba und »Mon texte, le savon« von Akhenaton bis heute zu seinen Lieblingssongs. Maxim von KIZ hat französische Wurzeln und rappte auf »Tanz« vom Kannibalen-Debüt »RapDeutschlandKettensägenMassaker« sogar noch einen Part auf Französisch. Später thematisierte er diesen Hintergrund noch einmal auf halbironische Weise auf »Rohmilchkäse«. Und wenn Tua auf »Vorstadt« die Line »Socke über Hosen, so wie die Franzosen« rappt, dann zeigt sich auch hier deutlich ein Teil seiner Sozialisation. Vegas »König ohne Krone« wiederum ist sowohl durch das Sample als auch durch den Titel eine Hommage an Nessbeals »Rois Sans Couronne«.
2009 schickte sich das relativ unbekannte Label Bodensee Records schließlich an, die musikalische Nachbarschaft noch stärker zu intensivieren. Heraus kam mit »La Connexion« dabei ein Sampler, der leider ein wenig wie ein Flickenteppich wirkt. Zu deutlich hört man den Songs an, dass die Zusammenarbeit wohl meist über das Internet ablief und der Austausch zum größten Teil darin bestand, Spuren hin- und her zu schicken. So ist auch das Bonusmaterial auf der DVD nur wenig erhellend: Rapper erzählen, wie man sie für das Projekt angefragt hat, und performen dann unabhängig voneinander ihre Parts und Hooks, was dank halbwegs ähnlicher Optik zu einem Musikvideo zusammengefügt werden kann.
Seinen zweiten Frühling erlebte französischsprachiger Rap hierzulande durch die Azzlacks. Nur eine kurze Auflistung: Haftbefehl lieh sich für gleich mehrere Songs den Flow von Boobas »Boulbi« und ließ sich für »Lass die Affen aus dem Zoo« von einer Zeile von Kaaris inspirieren. Seine Kollabo »Von Frankfurt bis Paris« mit Rim’K sowie der Song »Ja Ja Ve Ve« sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Azzi Memo und Nimo wiederum griffen für »BlaBla« auf einen Song von Jul zurück, ebenso wie sich Nimo und Hanybal für »Vollautomatik« auf »Chargé« von Kaaris stützten. Auf »Fälschung« ließen sich Eno und Nimo gar von der französischen Chanson-Sängerin Zaz inspirieren. Dass Veysel laut eigener Aussage wie ein »TGV« durch das Land fährt, Olexesh bereits mit La Fouine und Capo mit SCH zusammengearbeitet hat, verkommt da fast zur Randnotiz.
Ebenso dürfte es kein Zufall sein, dass Miami Yacine Songs mit Titeln wie »Bon Voyage« und »Montpellier« im Repertoire hat. Auf seinem neuen Album »Dillema« featuret er unter anderem die französische Rap-Crew F430. Kollege Nash leiht sich unterdessen auf »Unter Kontrolle« die Adlibs von Niskas »Reseaux« aus, zu dessen Remix Nimo wiederum einen Part beisteuern durfte. Und wer sich »Ça« von MATA Wangala & DJ Hustla anhört, kann sich sogar aussuchen, ob er dabei eher an »Xhep« von Azet und Albi oder lieber an »Sip« von Luciano erinnert werden möchte. Dass Luciano durchaus mal ins Nachbarland lauscht, belegt auch das Feature mit Kalash Criminel auf »Weiß Maskiert«.
Ebenfalls stark von Rap aus Frankreich geprägt ist Takt32, der eine Zeit lang in einem Vorort von Paris gelebt hat und seitdem Vokabeln wie »Banlieue«, »Poto« oder »Ouesh Ouesh« in seine Texte einflechtet. In seinem Umfeld bewegt sich zudem auch Le First, dessen Vater aus Frankreich stammt, weshalb der gebürtiger Berliner lange Zeit nur auf Französisch rappte. Zwischen 2009 und 2014 veröffentlichte er die Trilogie »French Connections«, für die er befreundete Künstler auf Songs versammelte, um eine Brücke zwischen deutschsprachigem und französischem Rap zu schlagen. Und dass Fler sich gerne von französischem Rap inspirieren lässt, ist fast schon eine Binsenweisheit. Seit Jahren bemüht er sich, Booba für ein Feature zu gewinnen, und zumindest mit Kaaris konnte er bereits eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Form eines Remixes für sich verbuchen. Für »Neue Deutsche Welle 2« pickte er zudem fünf Beats vom französischen Producer Therapy und ließ Videos vom französischen Regisseur Chris Macari drehen.
Plastik-Palmen und Pariser Poesie
Die neuesten Bewegungen von Frankreich nach Deutschland wurden bisher wahrscheinlich am intensivsten rezipiert. MHD und sein Afrotrap sind nach wie vor in aller Munde, denn auch 2020 stellten sommerliche Klänge, die sich irgendwie zwischen Dancehall und Afrobeat ansiedeln, noch einen festen Bestandteil der einschlägigen Playlists dar. Auch mehrere Jahre nach dem ersten Teil von »Palmen aus Plastik« wird Deutschrap noch stark von jenem Sound dominiert, den RAF Camora und Bonez MC für Deutschland massentauglich machten – jeder Urlaubsort, den ein Modus-Mio-Newcomer über Afrobeat-Rhythmen auf eine Luxusmarke oder einen Fußballer-Namen reimt, ist Zeuge davon. Wie sehr Bonez und RAF sich dabei nun wirklich von MHD inspirieren ließen und ob man »Ohne mein Team« nun als ehrwürdige Hommage oder als dreiste Kopie verstehen sollte – geschenkt.
Fakt ist jedoch, dass Raf sich mit der französische Rap-Szene bereits seit seiner Jugendzeit intensiv beschäftigt hat. Nachdem ihm seine Cousine das Tape »Les Tentations« von Passi gezeigt hatte, saugte er auch die Alben von IAM, NTM und Lunatic in Windeseile auf. Parallel dazu studierte er die französische Kultur in jeglicher Dimension: Er las französische Bücher wie »Le Horla« von Maupassant, schaute französisches Fernsehern und stellte die Sprache seines Handys auf Französisch um. Selbst seinen Kleidungsstil richtetet er gezielt an Vorbildern aus Frankreich aus. Parallel dazu tauchte er immer tiefer in die französische Rap-Welt ein und entdeckte besonders Booba für sich, studierte dessen Delivery, Wortwahl und Flow. Mit deutschsprachigem Rap hingegen konnte er für sehr lange Zeit nur wenig anfangen, weshalb auch seine ersten Versuche am Mic auf Französisch stattfanden. Jahre später folgte der Wechsel zur deutschen Sprache, doch der französische Einschlag war nie weg. Während »Ohne mein Team« Debatten darüber entfachte, wie stark der Einfluss von MHDs »Afro Trap Pt. 5« letztlich war und wo genau nun eigentlich die Grenze zwischen Biting, Hommage und Inspiration verläuft, führt Raf selbst bis heute Booba als seine größte Inspiration an: »Meine Art zu rappen kommt zu 100 Prozent von ihm.«
Mittlerweile ist man in Frankreich ohnehin schon wieder einen Schritt weiter. Zwar sind auch dort noch allerlei Nachbeben des Afrotrap-Hypes zu spüren, doch sind mit PNL schon längst die nächsten Superstars aus dem Banlieue in die Charts aufgestiegen. Der Sound ist dabei ein klarer Gegenentwurf: melancholisch gesäuselte Straßenpoesie statt engagiert vorgetragene Trap-Flows, dazu betont minimalistische, apathisch verlangsamte Soundflächen statt tanzbarer Afrobeat-Rhythmik. PNL erobern keine Tanzflächen, sie brechen Herzen – im Ernstfall sogar das von Drake, dessen Anfrage, einen Song des Duos remixen zu dürfen, sie kurzerhand ablehnten. Es war derselbe Song, der es wohl auch Alpa Gun und Monkey41 besonders angetan hatte.
Aktuell scheint Großbritannien mit seiner Variation des US-amerikanischen Drill-Sounds zumindest zeitweise einen Fuß in die Tür bekommen zu haben, was sich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bemerkbar macht. Wie nachhaltig der Trend ist, bleibt jedoch vorerst noch abzuwarten. Gleichzeitig kommt der Import der neuen Sound-Entwürfe aus Frankreich hierzulande bislang nur schleppend voran. Zwar finden sich hier und da einzelne Songs, auf denen ebenfalls von allerlei Stimmeffekten begleitet das eigene Leid besungen wird, doch hierbei einen offensichtlichen PNL-Einfluss herbeidichten zu wollen, wäre derzeit noch übertrieben. Mit der eigenen Verletzlichkeit tut sich Deutschrap nach wie vor ein wenig schwer, wobei es zumindest vereinzelte Anzeichen für einen Umbruch gibt: Das Beat-Klischee aus Geige und Klavier gehört mittlerweile der Vergangenheit an und auch lyrisch bröckelt langsam, aber sicher die Fassade des gefühlskalten Superstars. Von der Banlieue-Poesie der PNL-Brüder ist man aktuell jedoch noch weit entfernt – auch wenn beispielsweise Ufos »Wave« schon durchaus an die Schwermut der Pariser Brüder erinnert. Ein klarer Einfluss ist dennoch bisher nicht eindeutig ausmachen.
Möglicherweise kommt nächste Trends ohnehin eher aus Marseille als aus der französischen Hauptstadt. Schon 2017 sagte RAF Camora in einem Interview mit dem Journalisten Malcolm Ohanwe voraus, dass neben dem »Straßen-Cloudrap« von PNL auch der Dance-lastige Soundentwurf von Jul die Zukunft sei. Hört man sich das letzte Album »Zenit« des Wieners an, so könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, er habe die Afrotrap-Rhythmen eines MHD nun gegen die House-Anleihen im Stile eines Jul ausgetauscht. Dass Juls Crew Ghetto Phénomène auf den Songs »Puta Madre« und »Fratello« mit RAF zusammengearbeitet hat, kann als weiterer Beleg der Neuausrichtung angesehen werden. Auch der Autoscooter-Sound von Apache 207 oder Hava schlagen, ebenso wie das schon etwas ältere »Lambo Diablo GT« von Nimo und Capo, musikalisch eine ähnliche Richtung ein. Doch wie zuvor bei PNL gilt auch hier: All dies ist noch mit Vorsicht zu genießen – ein klarer Trend sieht wahrlich anders aus.
Vielversprechende Newcomer in dieser Hinsicht stehen jedoch ebenfalls schon in den Startlöchern. Der Dortmunder Schlakks hat beispielsweise seinen Aufenthalt in Marseille auf einer EP vertont, die er nach der Hafenstadt benannt hat. Ulysse aus Karlsruhe switcht immer wieder zwischen Deutsch und Französisch hin und her, ebenso wie YONII aus Stuttgart, der zusätzlich auch arabische Passagen einbaut. Albi X wiederum hat mit Christ D.Q & Melo eine EP auf Deutsch, Französisch und der kongolesischen Amtssprache Lingála aufgenommen und zudem ein Feature auf dem Titelsong von Hayitis Album »Toulouse« beigesteuert. Diese wiederum gab kürzlich in einem Interview an, mit ihrem Musiker-Dasein in Deutschland zu hadern, da sie »in Frankreich [längst] ein Mega-Star wäre«. Und auch der Sound von Yung Kafa und Kücük Efendi dürfte sich zum Teil aus französischen Vorbildern speisen, zumal Kafa einst in Paris gelebt und dort als Model gearbeitet hat. Die Basis dafür, dass Deutschrap auch in den kommenden Jahren immer mal wieder zu seinem französischen Nachbarn linsen wird, ist also bereits vorhanden.