Dunkeldeutschland? Frankfurt, Brudi!

RHP, Azad, Haftbefehl – der beste Straßenrap, sind sich viele einig, kommt seit jeher aus Frankfurt. Auch unser Autor Laurens Dillmann ist in FFM großgeworden. Ein Text über Mainhattans dunkle Seitengassen, deutschen Straßenrap, hausgemachte Klischees, Katastrophenvoyeurismus und die eigene Zerstörungswut.

Ohne Titel3

Seit dem Emporkommen der Azzlacks ist ein Scheinwerfer auf die »Hauptstadt des Verbrechens« gerichtet. Die Bereiche, die wir denen erbauten, die wir unterdrückten, lagen schließlich lange genug im Dunkeln. Nun durchflutet Helligkeit das Bankenviertel und seine Nebengassen, lässt Rotlicht noch verlockender glitzern und uns verstehen, warum dieses Land und seine Bewohner sind wie sie sind. Hier fängt alles an, hier findet man Antworten auf Fragen, die auf der Haut brennen wie Kainsmale. Kaum eine Stadt Deutschlands ist so auf Kapitalismus getrimmt wie Frankfurt am Main, kaum eine Stadt kann bessere Geschichten und Erzähler vorweisen. Aus 170 Nationen stammen sie, treiben sich herum zwischen Apfelweinkneipen und toten Briefkästen. Ich bin dort geboren, 1991 im Schifferkrankenhaus in Sachsenhausen, direkt am eisernen Steg. Wie ist es da, zwischen all diesen Kulturen und Persönlichkeiten, blubberndem Heroin und vollen Konten? Und warum stammt der beste und gleichzeitig härteste Gangsterrap Deutschlands von hier?

Stadt des Zwiespalts

Franzaforta. Hier geht man ein und aus, wohnhaft in einer Stadt, die nur tagsüber die Millionengrenze knackt. So sehr sich der Hesse auch bemüht – kriminelle Energie kennt weder Nationalität noch Miteinander. In Frankfurt gibt es so etwas wie eine soziale Waagschale. Auf der einen Seite liegen Statussymbole, auf der anderen reine Sympathie. Man mag sich – oder eben nicht. Exemplarisch, dass es sich bei zwei der bekanntesten »asozialen Kanacken« um ein Duo handelt – schließlich ist der Frankfurter »ein zwiegespaltener Mensch«. Wer hier lebt und das gut, muss austarieren, mit wem er wie, wann und wo zu tun hat. Kaum eine deutsche Stadt zwingt seine Bewohner so beharrlich, zwischen zwei Seiten zu wählen. Wolkenkratzer oder Problembezirk? Hugo Boss oder Adidas? Abi-Feier oder Haram Para?

Neben Frankfurt liegt Option B: Offenbach. Nur einen Münzwurf entfernt, proletarisch und belächelt, Geburtsort des – neuerdings indizierten – Entdeckers von Celo & Abdi, Gründer des Musiklabels Azzlackz: Haftbefehl. »Der Künstler taufte sich auf den Namen des Dokuments, das ihn juristisch als Problemfall klassifizierte«, jubelte einst das Feuilleton im Zuge der Promo für »Russisch Roulette«. Ja, neben Mensch, Tier und Kultur ist im Rhein-Main-Gebiet auch Justitia zuhause und eifrig mit ihren Bewunderern beschäftigt – all die Groß- und Kleinkriminellen, die das Spiel mit dem Feuer lieben und die Stadtstraßen als Schauplatz ihres Schaffens verstehen. 170 Nationen, nicht mehr und nicht weniger. Gar nicht so romantisch, wie man sich’s vorstellt.

Ich bin Mittelstandskind. Mich interessieren die Geschichten derer, die sich für den Bodensatz des Systems halten – denn nirgendwo geht es so ehrlich zu. Karma is a bitch. Unverblümt. Intelligent, poetisch, aufs Du bedacht. Wer nichts hat, teilt am liebsten. Es ist auffällig, dass sogenannte »Problembezirke« oft die Gebiete einer Stadt sind, in denen noch etwas wie öffentliches Leben herrscht. Dass es in diesem Miteinander meist nur um den »gemeinsamen Nenner«, mit Vorliebe Geld, Fußball und Frauen geht, geschenkt. Gut leben wollen, ist schließlich noch kein Verbrechen. Eine dieser Frauen, Antonia Baum, hat vergangenes Jahr für die »FAZ« einen wunderbaren Beitrag über Celo & Abdi geschrieben: »Sie haben verstanden, dass sie unterhalten müssen, wenn sie wollen, dass man sie wahrnimmt, weswegen ihnen nun auch Angehörige der Flügel-Universitäts-Welt zuhören, denen in ihren beschützten Stress-Leben langweilig ist und die Lust haben auf Unterhaltung, die sich mit etwas anderem befasst als mit Fragen der Selbstsuche und Depressionen.«

Oben oder unten?

Wer in Frankfurt lebt, lernt wie beiläufig, den Taler zu ehren, wirtschaftlich zu denken. »Wir überspannen hier den Bogen ohne Pause/ Ständig Drogen am verkaufen/ So lange bis wir hausen wie die oberen 10.000«, so Hanybal, Ägypter, Frankfurter und Azzlack-Member. Das Streben nach Ruhm und Reichtum, das hier gefühlt jeden antreibt, geschieht im Zeitalter des privaten Gesamtkunstwerkes, das gefälligst ernst genommen werden will. Doch die Stadt am Main, amerikanisch geprägt, produziert in dieser Traumfabrik Fließbandbösewichte in einem Comicstrip auf ewiger Suche nach Geld und Anerkennung. Der Fakt, dass PEGIDA-ähnliche Zustände hier zum Scheitern verurteilt sind, bedeutet nicht, dass das Stadtbild frei wäre von Anzeichen des ominösen »Rechtsrucks«, der momentan durch Land, Europa und Welt geistert. »Dunkeldeutschland« kann an jedem Ort existieren – in den Köpfen seiner Bewohner, die alle ihre eigene, individuelle Auffassung von Leben und Freiheit haben – komme, was wolle. Es wirkt, als nehme Frankfurt in diesem Wirrwarr einen besonderen Platz ein, weil es in seiner Vielfalt Widersprüche aufeinander prallen lässt, mit sich selbst austrägt und kommuniziert. Im Interview frage ich Nimo, was er einem PEGIDA-Anhänger auf die Aussage »Alle Ausländer sind gleich« entgegnen würde. »Dann haben sie doch eigentlich recht«, sagt er nach kurzem Überlegen. »Ausländer sind Menschen. Menschen sind alle gleich.«

Nicht jeder ist mit Anfang 20 schon so weise. Wem über Jahrzehnte eingetrichtert wird, er sei so wie er ist: fehl am Platz, übernimmt die vermittelte Botschaft vielleicht eines Tages. Wer sich selbst als »asozial« bezeichnet, offenbart auch Scham über die Verletzung, nicht dazugehören zu dürfen. Erich Fromm, ebenfalls Frankfurter, taufte dieses Verhaltensmuster »destruktiver Charakter«. Wer seine Umwelt als feindselig und übermächtig wahrnimmt, geht leichter dazu über, sie zu zerstören. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, mit anzusehen, wie Menschen sich auf genau das reduzieren, mit dem man sie auszugrenzen versucht. Klischees werden von allen Parteien derart stilisiert (»Azzlack Stereotyp«), bis sie irgendwann zu einem integralen, zentralen Stützpfeiler der Identität werden. Man wird zu der Figur, die man vorgibt, zu sein. Ein gut gespielter Gangsterboss wird zum Gangsterboss – und damit ganz konkret verantwortlich für seine Rolle. Bin ich denn nun verantwortlich für mein heiles Mittelstandleben?

»Jungs mit schwarzen Haaren…«

»kommen auf deine Partys nicht rein!« Der Kapitalismus rülpst Diamanten, kann aber weder Manieren noch Gastfreundschaft vorweisen. Auch ich wurde in die ominöse »Flügel-Universitäts-Welt« geboren, via goldener Fußfessel ans Kleinbürgertum gekettet, über dessen innere Zerrissenheit mein Brate Hermann Hesse mit dem »Steppenwolf« eine so schöne Geschichte schrieb. Auch ich wurde am Wochenende von meinen Eltern auf die Straße geschickt, um das aus dem Gehweg sprießende Unkraut mit dem Flammenwerfer zu entfernen. Ich spreche von der Parallelgesellschaft, die den »asozialen Kanacken« erfunden hat. Als Beschimpfung. Outet man sich in diesem warmen, behüteten Nest als leidenschaftlicher Fan von Straßenrap, wird man eher misstrauisch beäugt. Doch das breit gestaffelte Publikum der Azzlackz beweist: Auch in der sogenannten Mittel- und Oberschicht ist es möglich, einen Blick in die Hinterhöfe zu werfen. Auch hier lernt man Filme wie »La Haine«, »City of God«, »Juice« oder eben Straßenrap zu lieben, verstehen und wertzuschätzen. Vielleicht hat mich die Lebenslotterie in eine bessere Ausgangsposition gespült als manch anderen. Doch ich kann und will nicht ständig wegsehen, nur weil mein Wohlstand der Grund ist, wieso es anderen schlecht geht. Man kann Mitglied einer sozialen Identitätsgruppe sein, ihre unterdrückenden Muster dennoch in sich ablehnen, sich nicht mehr damit identifizieren. Das Hierarchiedenken, das »die da unten« anprangern, herrscht »da oben« nämlich oftmals gar nicht mehr. Humanisten gibt es in allen Schichten, Formen und Farben.

Vor kurzem gab ich dem 19-jährigen Milad aus Afghanistan eine Deutsch-Nachhilfestunde. Seine Eltern haben ihn losgeschickt, er kam zu Fuß über den Iran, Türkei, Bulgarien, Ungarn, München, bis er schließlich in der Stadt am Main angelangte, einem der Dreh- und Angelpunkte des modernen Kapitalismus. Und mir gegenüber sitzend sagt er: »Why would you leave your family and homecountry for other reasons than fear?« Ja, wer erwartet eigentlich andere Gründe für solche Torturen, und wer beklatscht soziale Ausgrenzung? Ob man sich nun für links, rechts, oben oder unten hält, die akute Stimmung in unseren Breitengraden lässt sich leicht herunterbrechen: Du bist mir unheimlich. Das Ergebnis davon sieht man nicht nur in Rapvideos, sondern auf der kalten Straße, die wenig Betten, aber viele Gäste hat. Obdachlose, Flüchtlinge, Verrückte – und Massen an Langfingern, Chivatos und Gaunern, aus deren Bauchtäschchenwelt die Azzlackz so brillant zu erzählen wissen. Geschichten über Hinterhöfe gibt es viele, die asozialen Kanacken erzählen sie in einer Sprache, die deutscher Rap zuvor nicht kannte. Die Angst nicht dazuzugehören, ist dabei der gemeinsame Nenner zum Rest der Welt. Hinterhof und Wolkenkratzer ganz nah beieinander. Geniale Idee. Völkerverbindend.

Miteinander sprechen ist wichtig, um zu überleben. Gangsterrap und Journalismus sind bloß zwei Kommunikationsangebote von vielen. Letztlich sind wir auf das angewiesen, was wir eigenständig produzieren: Wörter, Sätze, Meinung. »Das ist Goebbels Modus Propaganda/ bis das ganze Land uns kennt«. Die Azzlackz, besonders in der frühen Phase ihres Aufstieges, sendeten ein Gesprächsangebot nach dem anderen. Zwar durchsetzt von Wut auf die »oberen 10.000«, aber in so eigensinniger und detailverliebter Sprache, dass damit ein Großteil der HipHop-interessierten Mittelschicht aus ihrer innerdeutschen Isolation gelockt wurde. Sprache verbindet, trennt, kann alles sein. Leuchtend bis tiefschwarz und letztlich Kunst. Kunst ist Kommunikation mit der Außenwelt, macht das offenbar, was man sich im Miteinander nicht zu sagen traut. Und sie ist automatisch gut und berechtigt, wenn sie ein Ausdruck des Menschen ist. Auch wenn man sie braucht, um »den Hass herauszulassen«, wie Nimo es ausdrückt. »Du wirst doch von jeder Seite gefickt, ist doch egal, was du machst. Zumindest in meinem Alter, in meiner Lage.«

Verdunkelungsgefahr

»Mein Vater sagt immer auf Berberisch zu mir ›Ihr lauft schief, ihr seid krumm, ihr wollt immer das, was schlecht ist – es zieht euch magisch an.‹« »Das ist diese Zwickmühle. Man führt dieses Leben, aber trotzdem schämt man sich dafür. Man ist nicht stolz darauf.« Sätze aus dem Jahr 2012. Dieses Leben ist mittlerweile sicher ad acta gelegt. Die Portemonnaies der Azzlackz dürften gefüllt sein, voller als früher, doch noch immer überquellend von Geschichten über die Lage »ganz unten«. Doch auch wenn eine Handvoll Sprachverliebter es »geschafft« hat: FFM bleibt Zuhause tausender »toter Seelen« – oder nennen wir sie doch einfach Menschen. Menschen, die womöglich zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Wie Milad aus Afghanistan, der nicht arbeiten darf, alle paar Wochen durch die Turnhallen tingeln (»They’re kicking us like balls«) und unter dem Damoklesschwert des »Zurück« leben muss. Grüße an den Görli in Berlin, Clausnitz, die Insel Lesbos und jeden anderen Ort, an dem Menschen schwere Einschnitte erdulden oder ihr Leben lassen müssen. Morgen wird es besser heißt auch, man hält sich über Wasser. Wie soll man sich in einer Stadt zurechtfinden, wo man den Hang zum Grauen zur Marke gemacht hat?

Bleibt nur Selbstschutz als wärmster Mantel von allen. In Frankfurt ist man en vogue. »FFM – schnelles Geld in der freien Marktwirtschaft«. Die Kunst, es präzise auf den Punkt zu bringen, ist einer der Gründe, warum hunderttausende »Mittelstandskinder« sich einst in die Musik der asozialen Kanacken aus Mainhattan, aber auch deren Pendants in Rest-»dunkel«-deutschland verguckt haben. Soziologisches Entertainment von der Straße für den Rest des Planeten. Google Maps schießt Portraits, Protagonisten berichten von Schüssen. Und doch schmerzt die Erkenntnis fast körperlich, dass da eigentlich nur fehlende Lebensqualität vermarktet wird. In Deutschland herrscht Verdunkelungsgefahr – nicht nur in den »neuen« Bundesländern. Was tun wir eigentlich jetzt, wo die Auswirkungen von Gewalt und Hass sich allmählich in Strömen von Menschen manifestieren, die um ihr Leben fürchten? Gewalt befruchtet sich selbst, in einem ständigen Kreislauf von Traumata, Rache und neuer Gewalt. Wollen wir ewig Benzin ins Feuer gießen?

Visa Vie hat in ihrer neuen Sendung einen mutigen, weil ehrlichen Satz gesagt: »Ich bin Katastrophenvoyeur und muss mir so etwas angucken. Dann bin ich auch noch in meiner Angst bestätigt.« Sie spricht über ein Video, in dem zwei Pitbulls »einen Typ zerfleischen«. Das schöne und stolze Tier geht als fester Bestandteil am Set von Rapvideos gerne viral. Die Bildgewalt eines gebleckten Gebisses ist kaum zu übertreffen. Haftbefehls »Lass die Affen aus’m Zoo« gelang das mühelos – ein Remix der archaischen Brutalität, die offensichtlich auf weiten Teilen der Straße herrscht. Du bist mir unheimlich? Wo gehobelt wird, fallen Zähne. Doch nicht die Härte im Umgang, oder dass es mich eines Tages selbst erwischen könnte, beunruhigt mich. Begegnet man Menschen mit einem Lächeln, macht man normalerweise die Erfahrung, dass sie es einem nicht aus dem Gesicht prügeln wollen. Etwas anderes ist bemerkenswert: Gewalt berührt ihre Zeugen per se. Dass wir uns jedes neue virale Video, das mit schockierenden Inhalt wirbt, ansehen, obwohl wir längst und insgeheim wissen, was uns erwartet, ist das eigentliche Fragezeichen, das uns allen auf der Stirn brennt. Stell dir vor, es ist Gewalt, und keiner sieht hin. Das Ende von Mord und Totschlag einzuläuten kann nur funktionieren, wenn wir erkennen, dass wir nach Jahrhunderten, gar Jahrtausenden institutioneller Unterdrückung an einem Punkt stehen, an dem wir – rein theoretisch – nicht mehr kämpfen müssen. Wir könnten aufhören, Waffen herzustellen, damit uns die Munition ausgeht. Wir könnten Verständnis haben. Die Praxis dagegen folgt noch dem Prinzip der Rache. Pumpt nicht in uns allen tief eingeschlossen ein Herz, das Brutalität verabscheut? Wir sollten uns vor unserer eigenen Zerstörungswut fürchten, nicht voreinander.

Halt die Kamera drauf!

»Es dreht sich doch nur alles um Gewalt oder Sex«, sagte einst Grandpapa Torch. Reich ist er damit nicht geworden, Kollegah schon. Vielleicht hat Karriereleiterklettern auch mit einer gehörigen Portion Schauspieltalent und Unternehmergeist zu tun. Ließ der Halbkanadier – und Hesse – doch neulich verlauten, das wahre Gesicht eines Mannes erkenne man, wenn er reich ist. Paradox, dass Rap so oft davon handelt, wie schwer es war, an Geld zu kommen, und dem königlichen Gefühl, es wieder auszugeben. Wer nichts hatte, hat am liebsten. Ich, ganz deutscher Biedermann, mag den Gedanken nicht, kaufen zu sollen, kaufen zu müssen, wenn ich ein Produkt, wenn ich Kunst mag. Mich stört das überall prangende Nike-Logo, das seine Träger immer ein Stück zu Kopien von Cristiano Ronaldo und Lionel Messi macht. Identität, ein Auslaufmodell. Die Kuh, die Deutschrap momentan melkt, möchte ich nicht sein. Ihre Zitzen müssen höllisch brennen. Auch die Azzlackz sind und waren nie frei davon. De facto heißt das: Dieselben Menschen, die Selbstjustiz an Pädophilen üben mit der »Kalash« fuchteln, entdecken ihre Zuneigung für QVC und das Kamerarotlicht. Dieselben Menschen, die »das System« anprangern, operieren mit den Mechanismen ihrer einstigen Unterdrücker. Nur, um wie beim Fußball aufzusteigen, den verhassten Bodensatz zu verlassen.

Und wenn man zu diesem seelischen Ausverkauf getrieben wird? Wenn die Wahrheit eben hässlich ist? Wenn Gangsterrap uns nicht mehr außer Rothschild-Theorien und Videostatements zu bieten hat? The Revolution will not be televised – mag sein. Doch zuerst haben wir – wir als Gesellschaft – die Aufgabe, uns vom Suchtfaktor der Selbstinszenierung zu lösen. Ohne den schweren Rucksack an Vorurteilen, der auf unseren Schultern liegt, ließe sich auch wieder leichter aufeinander zugehen. »Es gibt nichts, was uns hindert/ Wir machen eure Kinder behindert – mit unseren Strophen«, rappt Nimo in der ersten Single seines neuen Mixtapes. Und nebenbei wird mit jeder Videoauskopplung »die Welt ein bisschen schlechter«. Die Mentalität RTL muss schließlich auch irgendwie in die Köpfe geraten – daran kann unmöglich nur RTL mitwirken. Bigotterie to the fullest – verpackt in feinstem Entertainment. Ist wohl so ‚ne menschliche Spinnerei, nicht bloß Erkennungszeichen der Azzlackz. Wer das nicht wahrhaben will, spreaded das Word. Vielleicht hat es dir der Teufel geflüstert, aber der endet ja nicht grundlos auf dieselbe Silbe wie »Zweifel«.

»Die da oben« oder »Wir in uns«?

Das Schlimmste, was Menschen sich jemals angetan haben, war das Errichten von Strukturen, in denen man sich auf begrenzte Kategorien reduzieren konnte – was geistiger Versklavung gleichkommt. In Frankfurt – überall – passiert so viel gleichzeitig, dass man ohnehin kaum mitkommt. Reizüberflutung. Rotlicht. Wie Armut und Reichtum existieren wir nebeneinander, uns liebend und hassend. Die Welt der Frauen ist hart, die Welt der Männer härter. Dass sich hinter den Azzlackz – und Milliarden anderer – ein menschliches Schicksal verbirgt, verdrängen nicht nur die, die auf Feministinnen und Flüchtlinge einhacken. Klischees sind hausgemacht: »Die Flüchtlinge« gleichzeitig »Die Frauen«, »Die Bullen«, asoziale Kanacken. »Ich konsumiere Medien nicht gerne. Das macht mir keinen Spaß. Da steckt keine Liebe drin. Das ist Wirtschaft. So viele Hirnficks. So wenig Liebe.« So formuliert es mein guter Freund Josua – geborener Frankfurter. Er beherrscht die Kunst, Dinge auf den Punkt zu bringen.

Mittlerweile spannt sich um das, was wir als »Realität« empfinden, ein breitgefächertes Netz aus Images, Markenbildung und Verpackungen, die nicht vorhandenen Inhalt preisen. Da kann man auch schon mal von einer hohlen Erde ausgehen, wie zuletzt in »Hang the Bankers« auf Haftbefehls »Unzensiert«. Wenn man dieses Spiel der Hierarchien, Abgrenzungen und Schuldzuweisungen ablehnt, fühlt man sich zwischen all den Codewörtern selbst ganz fremd. Vielleicht bin ich deutsch, verkopft, steif, ein Erbe Johann Wolfgang von Goethes und Aykut Anhans. Ich verstehe weniger von Familie, Zusammengehörigkeitsgefühl und Respekt als Menschen aus anderen Teilen der Erde. Doch vielleicht liebe ich ja die Vielfalt, weil ich deutsch bin. Vielleicht auch nicht. Wer weiß schon, was Nationalgefühl und Patriotismus mit ihren Träger anstellen. Wer hingegen verstehen will, woher all der Hass und die blinde Wut aus den Bäuchen der Herzlichsten stammen, werfe einen angstlosen Blick auf Frankfurt am Main, auf die Hochhäuser, Seitengassen und Rotlichtviertel. Es ist eine offene Stadt – musikalisch, künstlerisch, harmonisch. Wenn man hinsieht und sich auf seine dreckigen Ecken einlässt. Dort schlummern die Perlen der Kultur.