Schlechte Aussichten für Drake?
Lange angekündigt, mehrfach verschoben: Dann, als es endlich da war, schieden sich die Rap-Geister an Drakes viertem Studioalbum »VIEWS«. Das Album und die Single »One Dance« verkaufen sich so gut wie noch kein Drake-Release zuvor, während Kritiker und langjährige Fans sein jüngstes Erzeugnis als belanglos und redundant abtun. Ist Drizzy mit seinem kommerziell größten Erfolg auch an der Spitze seines Schaffens angelangt? Und viel wichtiger: Wie geht es weiter, nachdem man alle Rekorde gebrochen hat? Unsere Autoren Jan Wehn und Lukas Klemp spekulieren.
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Ich will ehrlich sein: Am Releasetag von »VIEWS« saß ich in den frühen Morgenstunden vor dem Rechner und habe das Album mit heftigem Herzklopfen und großem Grinsen auf dem Gesicht angemacht. Kindliche Weihnachtsvorfreude war nichts dagegen! Etwas mehr als eine Woche und gefühlte 30 Durchläufe später finde ich »VIEWS« schon irgendwie geil, ertappe mich aber auch dabei, wie sich dann und wann ein bisschen Enttäuschung breitmacht. Einerseits wirkt das Album auf mich ein bisschen wie das aufpolierte Best-of der bisherigen Drake-Diskografie für all jene, die den Popstar Drake erst seit »Hotline Bling« und seinem Apple-Deal kennen. Andererseits denke ich: »Ach, in drei Wochen und mit der im richtigen Verhältnis zusammengemischten Weißweinschorle werde ich ohnehin wieder meinem gewohnten Fanboytum frönen.« Wie geht’s dir da so?
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Mir geht es da ganz ähnlich wie dir. Qualitativ ist alles auf der Höhe seiner Zeit, aber es fehlt das i-Tüpfelchen, was »Take Care« und »Nothing Was The Same« ausgezeichnet hat. Ich glaube, dass Drake mittlerweile seine Sound-Nische gefunden hat und es sich dort bequem macht. Das hat den Vorteil, dass er und Noah »40« Shebib ihren gewünschten Sound perfektionieren konnten, bedeutet aber auch, dass sie gelegentlich auf der Stelle treten.
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Ja, vor allem nicht nur in Sachen Sounds, sondern auch inhaltlich. Ich frage mich aber, warum dieser Drakesche Dualismus aus Dicke-Hose-Talk und Drücken der Tränendrüse erst jetzt auf »VIEWS« bemängelt wird.
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Vermutlich weil jetzt jeder zweite Soundcloud-Rapper diesen Film fährt und irgendwer dafür hinhalten muss. Viel interessanter ist doch die Frage, warum »VIEWS« generell als Enttäuschung gesehen wird. Alle Kritikpunkte wie die leicht beschämenden Texte (»Chaining Tatum« etc.) lassen sich widerspruchslos auf alle Alben und Mixtapes von ihm anwenden. Und es war uns trotzdem herzlich egal. Was ist also passiert?
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Ist das mit den Soundcloud-Rappern so? Ich fand eigentlich, dass Drake mit seinem Sentimenti-Swag schon ziemlich allein auf weiter Flur stand. Vielleicht liegt es tatsächlich an der Fünf-Jahres-Regel, um die es in dem Text ging, den du mir neulich via Twitter geschickt hast. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass »VIEWS« eben den tatsächlichen Gemütszustand von Drake widerspiegelt. Er hat im Interview mit Zane Lowe gesagt, dass er keine fiktionalen Texte schreiben kann. Im Umkehrschluss bedeutet das, alles auf »VIEWS» ist nichts als die Wahrheit. Wir haben es mit einem einsamen Endzwanziger zu tun, der nur noch mit Mama und 40 abhängt und zum Einschlafen eine Xanax poppen muss. In Drakes Leben passiert nicht mehr so viel Spannendes wie noch zu Beginn seiner Karriere. Ist doch klar, dass er da einerseits immer noch von den Erinnerungen an das vorherige Leben zehrt und sich andererseits darin bestärken muss, dass das schon alles seine Richtigkeit hat und er ein toller Typ ist. Insofern ist dieses vermeintliche Auf-der-Stelle-Treten nur konsequent.
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»I made a career out of reminiscing«! Der Ansatz ist ja auch mehr als legitim, aber die Reaktionen zeigen, dass er sich jetzt an einem Wendepunkt seiner Karriere befindet. Was soll noch nach Teenie-Idol, Jungschauspieler, Rapper und Meme kommen? Klar, das Auf-der-Stelle-Treten ist irgendwo konsequent, aber »VIEWS« fühlt sich in seiner Länge wie eine Geduldsprobe an. Er gibt uns alles, was wir kennen und lieben gelernt haben. Die geisterhaft anmutenden Stimmfetzen, die minimalistisch klopfenden Drums, Drizzys Charme. Es ist alles da, aber man sucht nach dem roten Faden, der sonst so präsent war. Du stimmst mir doch zu, dass er nicht noch einmal das gleiche Album bringen kann, oder?
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Ah, guck: Da geht’s schon los und ich schalte in den bedingungslosen Fanboy-Verteidiger-Modus! Haha. Bevor wir uns jetzt hier in Rage reden, lass uns doch erstmal darüber sprechen, was uns an dem Album gefällt. Mir fällt da zum Beispiel sofort der Flow-Switch im letzten Drittel von »U With Me?« ein. Der Verse stammt ja vom vor ein paar Monaten von E. Batt geleakten »Views From The 6«-Track, aber Drizzy hat das Dingen fürs offizielle Release noch mal aufpoliert. Auch gut: »Weston Road Flows« mit Mary J. Blige im Endlosloop und einem nostalgischer Drake, der die Neunziger-Rutsche erst so richtig komplett macht. Apropos Samples: Ich mag sehr, wie Songzitate auf dem Album nicht unbedingt den Hauptanteil der Beats ausmachen, sondern in kleinen Schnipseln oder mit bis zur beinahen Unkenntlichkeit verzerrten Soundfetzen mit den restlichen Produktionskomponenten verwoben werden. In Kombination mit den Interview- oder Telefongesprächmitschnitten, Shoutouts und gesprochenen Song-Intros ergibt sich so neben dem eigentlich vordergründigen Zusammenspiel aus Beats und Texten ein samplebasierte Metaebene, die – wenn man jetzt richtig weit ausholen will – ein bisschen so etwas wie das Unterbewusstsein von Drake reflektiert.
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Es gibt natürlich einige tolle und einprägsame Momente auf dem Album. Das ultralaut knatternde Drumkit auf »Feel No Ways«, dass Malcolm McLarens erste Gehversuche im Hip-Hop/World Music samplet. Dann natürlich Popcaans verzerrte Stimme auf »Too Good«, die mal gerade eben sowohl Drake als auch Rihanna die Show stiehlt. Auch die von dir angesprochenen Stimmfetzen, die immer wieder kurz an die Oberfläche gespült werden, um dann wieder zu verschwinden. Drake und sein Team schneidern immer einen Blockbuster, ohne Frage. Man muss »VIEWS« vielleicht auch im Kontext der vorherigen Alben sehen. Wenn man sich das großartige Überraschungs-Mixtape »If You’re Reading This It’s Too Late« oder den Bangermarathon »What A Time To Be Alive« zu Gemüte führt, merkt man, wie filigran und zart »VIEWS« im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist. Und das sollte es ja auch sein. »VIEWS« ist Drakes Herzensangelegenheit, seine Ode an Toronto. Ich glaube, dass das viele Leute vor den Kopf gestoßen hat. Es hat schon seine Gründe, warum er auf Albumlänge »Pop Style« ohne Jay Z und Kanye macht. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
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Da bin ich komplett bei dir. Wo ich dir aber klipp und klar widersprechen muss, ist die These, dass dieses Album eine Ode an Toronto ist. Das Album wurde ja in letzter Minute noch von »Views From The 6« in »VIEWS« umbenannt – und nachdem ich das Album gehört habe, leuchtet das komplett ein. Auf dem Album hört man so gut wie nichts über die Stadt und die Leute in ihr. Es ist vielmehr, wie der Titel schon sagt, Drakes Sicht auf die Dinge: Den Beef mit Meek Mill, die Ghostwriting-Vorwürfe, seine verzweifelten Anbandelungsversuche mit den Popstarfrauen und Tennisspielerinnen dieser Welt auf der Suche nach der großen, echten Liebe und auch sein Verhältnis zu Mama und Papa. Aber sein Blick auf Toronto fehlt mir irgendwie. Ich dachte ja zu Beginn, er würde im Intro »Keep The Family Close« von seiner Heimatstadt sprechen, bis ich irgendwann dahintergekommen bin, dass er doch Nicki Minaj, Quentin Miller und Meek Mill meint. Deshalb ist meine Theorie ja, dass die Songs für den Sommer, von denen er im Zane-Low-Interview sprach, vielleicht auf einem Mixtape vereint und unter dem Titel »From The 6« raushaut – vielleicht sind das ja dann die energiegeladenen Leftovers, von denen man sich auf dem schon recht arg glattgebügelten und durchgestylten »VIEWS« ein paar mehr gewünscht hätte.
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Wie ist denn deine Einstellung zu dem großen Dancehall-Einfluss auf dem Album? Hatte erst ein bisschen Angst vor Airhorns, aber es passt ja tatsächlich viel besser, als man es sich eingestehen möchte. Ob die Rhythmen auf Instant-Hits wie »One Dance« und »Controlla« oder die vielen Patois-Schnipsel, die über das Album verstreut sind, jamaikanische Musik ist überraschend nahtlos in Drakes Kosmos eingefügt worden. Obwohl es ungewohnt ist, ihn »Cock up yuh bumper« sagen zu hören.
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Ich habe Dancehall immer gehasst, aber muss gestehen, dass ich Dank Drake dann doch Gefallen daran gefunden habe. »Controlla« gefällt mir übrigens noch ein ganz kleines bisschen besser als »Hotline Bling«. Wohingegen es mir auf »Too Good« mit Rihanna dann doch ein bisschen zu viel wird. Die Patois-Schnipsel, die du ansprichst, hat Drake auch auf »If You’re Reading This It’s Too Late« immer mal wieder eingeflochten. Da ist dann vielleicht doch mehr »6« mit drin, als ich eben meinte. Was mir bei »VIEWS» übrigens richtig auf den Senkel geht, ist Drakes Haltung gegenüber Frauen. »Child’s Play« ist an passiv-aggressivem Kinderquatsch mit Aubrey echt kaum zu überbieten. Ich meine: Schlüssel von der Luxuskarre verstecken, damit die Dame nicht mehr damit losdüsen und Tampons holen kann? Come on…
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Da sprichst du was an. Drake gefällt sich mittlerweile viel zu sehr in der Rolle des selbstbemitleidenden Pimp, der ja ach so viel tut und doch immer wieder von den bösen Frauen enttäuscht wird. In »Redemption« heißt es »Why do I settle for women who force me to pick up the pieces«, dann wieder »They slow down the vision«. Gerade letzter Punkt ist seltsam, da wohl niemand widersprechen wird, dass die Ex stets der Motor von Drakes Musik war. Wenn Drake nur die Wahrheit textet, wie er selber im Zane-Lowe-Interview behauptet, hat seine Karriere ihm nicht unbedingt dabei geholfen, ein gesundes Frauenbild zu entwickeln.
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Voll! Zu Beginn war die misogyne Tendenz – oder zumindest irgendein Problem mit Frauen – in seiner Musik auch noch nicht so stark ausgeprägt. Das ging erst langsam los und gipfelte dann im letzten Jahr in »Hotline Bling« und Drakes Obsession für »good girls«. Dazu gab es auch mal einen sehr guten Artikel bei »Fusion«. Für Drake ist die Sache klar: Er ist ein guter Mann, der Frauen gut behandelt, weil seine Mutter ihn gut erzogen hat und er überhaupt nur mit Frauen aufgewachsen ist und deshalb weiß, was Frauen wollen. Das Ding ist halt: Drake ist Einzelkind und bei seiner Mutter großgeworden. Und er war Kinderschauspieler. Solche frühen beruflichen Ambitionen entwickelt man ja in den seltensten Fällen selber, sondern geht in die Richtung, weil die von einem überzeugten Erziehungsberechtigten da kräftig mithelfen und einem ständig erzählen, wie besonders man ist. Und daraus resultiert dann eben auch so ein albernes Anspruchsdenken. Ich finde es wirklich eine Frechheit, wenn Drake auf dem von dir schon angesprochenen »Redemption« über seine Ex-Freundinnen spricht und sich fragt, was sie denn in seiner Position tun würden und ob sie ihre Entscheidung, sich von ihm zu trennen, manchmal vielleicht doch bereuen. Die genannte Erika ist übrigens diejenige Dame, die Drake 2012 verklagt hat, nachdem er ihren Telefonmonolog mitgeschnitten und auf »Marvin’s Room« verwendet hat. Anstatt aus der Geschichte zu lernen und vielleicht mal so etwas wie reife Reflexion zu zeigen und dieses namentliche Anklagen der Verflossenen ohne deren Chance auf Äußerung unterlässt, macht er direkt damit weiter.
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Für mich wäre dieses ausgeprägte Ryan-Gosling-Syndrom definitiv das, was er in den nächsten Projekten ändern muss. Irgendwann bin dann auch ich raus. Eine Sache, die er wiederum etabliert hat, kann er meinetwegen bis ans Ende wiederholen: Der soulige und mit geneigtem Kopf vorgetragene Abschlusstrack. »The Ride«, »Paris Morton Music 2« und auch »30 For 30 Freestyle« haben sich zuletzt zu meinen persönlichen Highlights von ihm gemausert. Auch der Titeltrack »Views« haut uns wieder die ultimative Reflektionskeule über den Kopf. Wenn Drake auf einem Gospel-Sample innerlich seine Jugend in Torontos Straßen durchgeht (also doch!), dann glaube ich noch an ihn. Während wir übrigens darüber sprechen, ob sich Drakes Relevanz dem Ende neigt, bricht »VIEWS« alle Rekorde und »One Dance« toppt die Charts. »I might take a breather but I won’t ever leave you!« Er hat wohl Recht.
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Bei den Outros stimme ich dir voll und ganz zu. Die kann er. Wobei ich sagen muss, dass mich das »VIEWS«-Intro mit seinem James-Bond-Theme-Charakter und Tuxedo-Swag schon vom ersten Mal an krass genervt hat. Der »Nothing Was The Same«-Opener mit dem dreifach verdrehten Whitney-Houston-Sample bleibt für mich bis heute unerreicht. Und, ja, du hast recht: Das Dingen geht gerade so richtig durch die Decke. Aber ob er wirklich nicht geht? Auf »Weston Road Flows« heißt es doch: »The most successful rapper 35 and under. I’m assuming everybody’s 35 and under. That’s when I plan to retire, man it’s already funded.« In Kombination mit neuen schauspielerischen Ambitionen könnte Drizzy in fünf Jahren nach dem nächsten Solo- sowie einem Best-of-Album reinhauen. Vorstellbar?
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Klar, für mich ist das absolut vorstellbar. Drake war schon immer der Rapper, der sich nach außen die meisten Gedanken über seine Karriere gemacht hat. Für mich sind seine Alben auch nie wirklich Statements, sondern Bestandsaufnahmen oder Etappen auf seinem Weg. Dementsprechend weiß er, dass er auf dem absoluten Höhepunkt seiner Karriere ist. Dass da Pläne für den Ruhestand auftauchen, nachdem man mit einer eigentlich salopp rausgeschmissenen Non-Album-Single wie »Hotline Bling« immer noch zahllose Köpfe zum Umdrehen gebracht hat, ist ja mehr als verständlich. Andererseits gehört es ja zum allseits beliebten Rap-Kanon, seinen Ruhestand im Vorfeld anzukündigen, nur um zu zeigen, dass man könnte, wenn man denn wollte. Ich glaube aber, dass sich Drake jetzt erstmal ein Release-Päuschen gönnt. Verdient hätte er’s.
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Tatsächlich sind ein paar der besten Drake-Songs Give-Aways gewesen, oder? »Hotline Bling«, »Marvin’s Room«, »0 to 100/The Catch Up«,… Wenn er schlau ist – und bisher hat Drake eigentlich nur raffinierte Moves gemacht – dann haut er wirklich mit Mitte 30 rein und ist von da an auf seinem Will-Smith-Grizzle. Aber bis dahin: Bitte, bitte keine Pause! Wir brauchen schließlich die Tracks mit Kanye und die für den Sommer angekündigten Songs! Wie gesagt: Ich hoffe ja auf die exorbitante Emo-Keule in Form des Leftover-Mixtapes »From The 6«. Bis das oder etwas Vergleichbares kommt höre ich sicher gelegentlich noch mal in »VIEWS» rein. Aber im besten Fall läuft mein eigenes Best-of-Drake-Mixtape – und auf dem finden sich von der aktuellen Platte nach gut zwei Wochen leider nur »U With Me«, »Controlla«, »Redemption« und vielleicht noch »Weston Road Flows«.