Mine Privileg & Popkultur

Auch wenn alles eines Tages »Hinüber« ist: Die Pop-Musikerin Mine predigt aus radikaler Egoperspektive einen lebensbejahenden Nihilismus voller Achtsamkeit. Damit festigt sie ihre Position als noch viel zu unbekanntes Korrektiv des Pop-Mainstreams.

Mine

»Du magst Scheiße, doch es ist schon okay«, singt Mine auf ihrem neuen Album »Hinüber« in Bezug auf Menschen mit generischem Musikgeschmack. Die Wahlberlinerin kreiert Pop-Musik mit Anspruch und bewegt sich damit zwischen den Offiziellen Deutschen Charts, in denen schon drei ihrer Alben landeten, und der ewigen Anti-Haltung zum Mainstream. Mine verlangt nach Authentizität, von sich und von anderen. 2018 beschwerte sie sich im Interview mit »DIFFUS« darüber, dass Pop-Artists ihre Texte nicht selbst schreiben. Heute kann sie akzeptieren, dass Schlagerstars wie Vanessa Mai offen zugeben, sich für Songwriting nicht zu interessieren. Im Interview sagt sie: »Was ich nicht leiden kann: Wenn man sich hinstellt und so tut, als wär man voll der:die krasse Künstler:in und irgendwas über die persönlichen Erlebnisse hinter den Songs erzählt, aber dann hat den Song wieder Ali Zuckowski geschrieben. Da habe ich dann das Gefühl, die Zuhörer:innen werden verarscht.« Alexander »Ali« Zuckowski ist eine feste Größe der deutschen Songwriter-Sphäre, zu seinen Beteiligungen an Pop-Hits gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel. Dass das Pop-Geschäft meist romantisiert wird, ist auch Mine klar: »Die Musikindustrie ist eine Wirtschaft wie jede andere.«

Was Mine dem gegenüberstellt, klingt im Ansatz sehr HipHop: radikale Ego-Perspektive, ideenreiche Flows, persönliche Texte, Lust an der Sprache, Produktion und Features nur im eigenen kleinen Dunstkreis. Dazu kommt, dass auf dem eingangs zitierten Song »Audiot« mit Crack Ignaz und Dexter gleich zwei Rapper gefeaturet sind. Die meisten Pop-Sänger:innen präsentieren sich als unnahbare Stars, Mine findet einen musikalischen Umgang mit ihren Fans. Vor der Veröffentlichung ihrer Single »Unfall« animierte sie ihre Follower, die Partitur zum Lied herunterzuladen und selbst zu interpretieren. Heraus kamen 96 Versionen, die stilistisch von Techno über Metal bis hin zu Jazz reichten. Die Leitfrage: Wie hörst du den Song, wenn du ihn nicht kennst? Ein gefundenes Fressen für all die Hobbymusiker:innen, denen in dieser Zeit die Möglichkeit fehlt, mit anderen zu musizieren. Von der Resonanz war Mine überrascht: »Es war total krass, dass die Interpretationen so unterschiedlich wurden. Das finde ich super nice, weil ich selbst auch so einen breiten Musikgeschmack habe. Ich habe gemerkt: Ich ziehe genau so verschiedene Menschen an.« Während in den Charts im Zuge von Songwriting-Sessions und Datenanalyse tagtäglich Konzepte von Autorschaft aufgelöst werden, gibt Mine ihr Schaffen zur Interpretation frei.

Die zehn Songs auf »Hinüber« sind emotionale Momentaufnahmen, Reflektionen persönlicher Prozesse und Auseinandersetzungen mit der eigenen Position. Dabei spielen zwischenmenschliche Beziehungen eine übergeordnete Rolle. »Mein Herz« beschreibt das Gefühl einer Trennung. Sie selbst sagt zum Song: »Als ich den Song geschrieben habe, war ich am Boden zerstört. Eine Freundin wollte nicht mehr mit mir sprechen, wir hatten einen Streit. Ich habe das nicht nachvollziehen können, war sauer und traurig, alles zusammen. In dem Moment habe ich den Text geschrieben, um loszulassen.« Die Anklage, die Person zerreiße ihr Herz, mag pathetisch und egoistisch sein. Ebenso wahr sind aber die Emotionen, die Mine in Lyrics verpackt. Dabei findet sie eine leichte, direkte Sprache, die avantgardistischer Pop häufig vermissen lässt. Eine große Stärke von »Hinüber« ist die Direktheit. »Dadurch, dass ›Hinüber‹ schon mein fünftes Album ist, muss ich immer wieder Grenzen sprengen, damit ich selbst etwas fühle. Beim ersten, zweiten Album waren die Texte noch sehr metaphorisch. Mittlerweile habe ich aber Lust, diese Grenze zu übertreten.«

Ein weiterer Song, der sich um kommunikative Schwierigkeiten dreht, ist »Elefant«. Der Beat ist eigentlich getränkt von Funk, die Inspiration für die musikalische Untermalung kam allerdings laut eigener Aussage durch das feine Tänzeln der Fahrstuhlmusik im Hintergrund einer deutschen Trash-TV-Sendung. Mit dem Songtitel ist die Prämisse gegeben, die allseits beliebte Metapher des gigantischen Rüsseltiers im Raum. Ein offensichtliches Problem, das von den Beteiligten dennoch nicht angesprochen wird. Eine Situation, die Mine verabscheut: »Ich bin immer ein Freund von Kommunikation, wenn es wirklich etwas zu sagen gibt. Ich rede gerne über Probleme und kann danach zusammen ein Bierchen trinken. Ich finde es in langen Beziehungen voll wichtig, offen zu sprechen – egal, ob in der Partnerschaft, auf der Arbeit oder in Freundschaften.« Das Faible für Metaphorik zieht sich durch »Hinüber« wie ein roter Faden. Nicht ganz zufällig: »Bevor ich ein Album schreibe, hole ich mir immer Input. Dieses Mal habe ich mir alle deutschen Sprichwörter aus dem Internet herausgeschrieben und nach der Herkunft geforscht. Das waren nur ein paar Tage, aber doch sehr intensiv. Ich mache das, um mich zu triggern und neue Sachen zu finden.«

Auch auf dem Titelsong, »Hinüber« lässt sich Mines Begeisterung für sprachliche Spiele gut beobachten. Jede Zeile macht ein neues Bild auf: Die Welt sitzt auf der Brust der Sängerin, das Meer ist aus Plastik, das Kind fällt in den Brunnen. Am Ende ist alles hinüber. Ein Lied voller Verzweiflung und Weltschmerz. Die Emotionalität des Openers springt sofort über, schon beim ersten Hören macht sich ein Gefühl der Wehleidigkeit breit. Er bildet eine Klammer mit dem letzten Lied des Albums, »Unfall«. Zwischen diesen beiden Weltuntergangshymnen finden all die kleinen und großen persönlichen Dramen statt. Die beiden Stücke entstanden »aus einer Weltschmerz-Ohnmacht«, sagt Mine. »Die Welt ist ein Unfall« singt sie mit schmerzzerreissender Stimme und formt diesen Song, wie auch den Rest des Albums, aus ihrer kleinen persönlichen Perspektive. »Wer hat stets genug für sich? / Wer starrt hungrig auf den Tisch?« Diese und weitere Fragen stellt sich Mine und reflektiert darin ihren Prozess, die eigenen Begünstigungen zu erkennen. Im Interview sagt sie: »Ich fühle mich, positiv gesehen, ungerecht behandelt. Weil ich so geil lebe, ich sitze in der Altbauwohnung, mir ist warm und ich habe immer etwas zu essen. Man muss sich bewusst machen: Mir geht es nicht so gut, weil ich mir das selbst erarbeitet hätte.« 2020 war ein Jahr, in dem Mine ihre Privilegien noch stärker verstanden hat als zuvor. Das möchte sie in ihre Kunst übersetzen: »Ich kann mich meiner Verantwortung gar nicht mehr entziehen. Mit dem Wissen kann ich nicht weiterleben wie vorher, dann wäre ich nicht im Reinen mit mir selbst.«

Der Song eröffnet einen kniffligen Konflikt: Mine erschließt das Leid der Welt aus dem Vergleich zu ihrer eigenen Situation und zentriert damit abermals die Perspektive einer privilegierten weißen Frau. Was sollte sie auch sonst tun? Schließlich schreibt Mine ihre Lieder aus einer extrem egozentrischen Perspektive. Viel schlimmer wäre es wahrlich, wenn sie für ein Lied über die Unfallhaftigkeit der Welt in eine fremde Rolle geschlüpft wäre. Das Musikvideo zu »Unfall« zeigt diesen Konflikt noch stärker auf: Im Photoshop-Stil setzt sich die Künstlerin in direkten Bezug zu allerlei globalen Krisen und Konflikten. Das erinnert im schlechtesten Fall an Werbekampagnen westlicher Kinderhilfsorganisationen, auf deren Bildern hungernde afrikanische Kinder abgebildet werden. Solche Bilder sollen vorrangig Mitleid erregen, das im Anschluss kapitalisiert werden kann. So kann man an dieser Stelle auch Mine vorwerfen, das Leid anderer zu Marketingzwecken auszubeuten. Das hängt auch mit der Struktur der Musikindustrie zusammen, in der die Kunst nie abgelöst vom Marketing und jeder Song ein Business Move ist.

Mine kann diese Kritik nachvollziehen und berichtet, im Vorfeld mit Freund:innen über eben diese Problematik gesprochen zu haben. Über Song und Video sagt sie: »Die Aufmerksamkeit, die ich generieren kann, nutze ich lieber, um Menschen zum Nachdenken anzuregen, als dass ich diese Themen ausspare, nur weil ein Teil dieser Aufmerksamkeit auch ins Marketing fließt. Wenn ich kreativ arbeite, denke ich nicht an Werbung. Ich will nichts ausschlachten, kein Wokewashing betreiben. Ich versuche, meine Mittel so zu nutzen, dass ich mich nicht selbst am Leid anderer bereichere. Trotzdem kann ich die Kritik nicht von mir weisen. Ein Musikvideo ist immer auch Marketing.« Schließlich folgen Song und Video sogar dem selben künstlerischen Verfahren. »Unfall« ist wohl zu lesen als Ergebnis eines unbeschwerten Egos, das sich durch das ständige Bombardement mit unerfreulichen Nachrichten aus aller Welt der eigenen Ohnmacht bewusst wurde. »Insgesamt ist es eine Zeit, die mich nicht unbedingt motivierend auf den Menschen blicken lässt«, sagt Mine. Und fordert gleich darauf mehr Empathie von anderen Privilegierten ein: »Die Welt muss wohl erst zur Hälfte untergehen, bis der Mensch bereit ist, eigene Privilegien aufzugeben. Wenn’s um den eigenen Arsch geht, können wir drüber reden. Solange schaut man lieber weg. Das ist eine Erkenntnis, die mich nicht mit Hoffnung überschüttet.«

Fragt man Mine nach dem Sinn des Lebens, erhält man folgende Antwort: »Der Mensch hätte sehr gerne eine große Wichtigkeit. Ich glaube, dass der Mensch sich selbst viel zu wichtig nimmt. Und ich glaube, dass es überhaupt gar keinen Grund gibt, warum wir hier sind. Wir werden hier reingeworfen, sterben wieder und es interessiert keine Sau. Deswegen glaube ich, dass es drauf ankommt, einfach eine gute Zeit zu haben. Und zu schauen, dass andere Menschen darunter nicht leiden.« Mine offenbart einen lebensbejahenden Nihilismus. Und damit erhält man auch die Grundvoraussetzung für »Hinüber«: Eben weil es kein übergeordnetes Ziel gibt, sollte man versuchen, sich und anderen ein gutes Leben zu ermöglichen. Mine spricht stets aus der Egoperspektive, ohne ihre Mitmenschen aus den Augen zu lassen. Damit schafft sie in ihrer Kunst ehrliche Wärme und Empathie. Auch das setzt einen Kontrapunkt zum Mainstream der Popmusik.