MF Grimm Narben und Süßkram
MF Grimm ist eine Untergrundgröße in der US-HipHop-Szene – nicht nur wegen seiner Zusammenarbeit mit DOOM. Vor mehreren Jahren hat er ein fiktives Süßigkeitenimperium erschaffen, in dem ein martialisches Lebkuchenmännchen all jene drangsaliert, deren Zuckergussfarbe sich von der eigenen unterscheidet. Damit zieht der Rapper, Produzent und Comic-Buchautor eine Parallele zu rassistisch motivierten Gewalttaten und zeigt, wie absurd diese eigentlich sind – ohne sie verharmlosen zu wollen.
Das Ziel ist nah, so nah wie je zuvor, die Freude unbeschreiblich. Aufbrechen in ein neues Leben, endlich. Das Gesicht schlägt noch Lachfalten, da bügelt sie der nächste Augenblick schonungslos glatt. Der langersehnte Traum – verpufft, von jetzt auf gleich, wie eine Sternschnuppe am Himmel.
1994, ein Blizzard wütet durch die Straßen Harlems. MF Grimm, bürgerlich Percy Carey, steigt mit seinem Halbbruder und Manager Jansen Smalls ins schneebedeckte Auto am Straßenrand. Die beiden sind auf dem Weg zu Atlantic Records, um einen Platten-Deal mit dem Label-Riesen einzutüten. Sie sind fest davon überzeugt, HipHop-Geschichte zu schreiben. Doch so weit kommt es nicht. Noch bevor Smalls den Motor startet, fliegen Bleikugeln durch die Autofenster. Smalls stirbt, Carey überlebt. Sieben Einschussstellen zeichnen seinen Körper. Von der Brust abwärts gelähmt, ertaubt, erblindet und mit kollabierten Lungenflügeln wird er ins Krankenhaus eingeliefert. »I couldn’t breathe no matter how hard I tried«, schreibt er im autobiografischen Comic »Sentences: The Life Of M.F. Grimm«. Zwar kehren seine Sinne zurück. Die Lähmung und ein Rollstuhl aber sollen ihn für den Rest des Lebens begleiten.
Der heute 50-Jährige wächst bei seiner Mutter und seinen zwei älteren Schwestern an der Upper West Side in Manhattan, New York auf. Zum Vater hat er keinen Kontakt. Ein paar Blocks von seinem Appartement entfernt finden die Dreharbeiten zu einer der berühmtesten Kinderserien der Welt statt – der Sesamstraße. Der junge Carey kommt über Morgan Freeman ans Set, ungefähr vier Jahre lang steht er als Kinderdarsteller vor der Kamera.
Mit 14 packt ihn die HipHop-Kultur – zack, schon ist er infiziert. Besonders die DJs und die MCs haben es ihm angetan. Aber auch jene Crews, die weniger mit Worten als vielmehr mit Magazinpistolen fuchteln. »I’d be lying if I said I wasn’t drawn to the lifestyle that the gangsters lived«, heißt es im Comic. Immer wieder gerät er in Scharmützel. Sie suchen ihn, er sucht sie. Auf Prügeleien und Diebstahl folgt der Schulverweis folgen Schusswechsel mit rivalisierenden Gang-Mitgliedern. Nicht selten geht es dabei um Drogen.
Mit deren Vertrieb kennt sich Build and Destroy – so Careys erster Künstlername, ehe er den Sensenmann (The Grimm Reaper) spielt und man ihm mad flows (MF) bescheinigt – bestens aus. Denn vor seiner Zeit im Rollstuhl teilt er nicht nur Studio und Bühne mit dem HipHop-Trio KMD um Rapper Zev Love X – der später zu MF DOOM wird – sowie weiteren namhaften MCs wie Kool G Rap, KRS-One, Lord Finesse oder 2Pac. Carey ist auch Teil eines Drogenimperiums, und Ende der 90er Jahre hat ihn das Geschäft mit den illegalen Substanzen wegen horrender Krankenhausrechnungen und fehlender Job-Skills zurück. Die Kohle: fließt wie verrückt wie seine Verse. In der Folge fungiert er als Executive Producer für DOOMs »Operation: Doomsday«, einer von vielen Meilensteinen im goldenen HipHop-Jahrzehnt – das in den USA aber auch von ebenjenem Terror der Straßen-Gangs und Polizeigewalt überschattet wird.
Fünf Jahre nachdem er beinahe draufgeht und die Labels ihr Interesse an einem Künstler mit Handycap verlieren, setzt er sich also ins Sonnenlicht seines Freundes DOOM. Denn Executive Producer hin oder her, der Mann mit der metallenen Gesichtsmaske schreibt und produziert jeden Song auf besagtem Klassiker selbst – die gleichnamige Hit-Single verzeichnet Spotify-Plays im zweistelligen Millionen-Bereich. Dagegen hinken die Aufrufe von Careys Solo-Songs größtenteils deutlich hinterher. Wie auch immer, die zwei schreiben die Geschichte des Underground-HipHop fort. Aus heutiger Sicht stehen sie irgendwo auf den Seiten zwischen Old School und Autotune – zwischen Quotes, Wie-Vergleichen und Doubletime-Raps, die zu einem beträchtlichen Teil dem minimalistischen, zeitlosen und etliche Male verwurschtelten BoomBap-Drumpattern-Untergrund von Skull Snaps’ »It’s A New Day« aufliegen. Careys erste Single »So Whatcha Want, N****!« gehört auch dazu. Einstiegsreime: »I make more noise than a chainsaw, insane / pain caused, then drained just to give your brain more / I’ll write rhymes with no strain, wet rappers like / rain, bust caps like John Wayne, ›Shaft‹, or ›Shane‹«.
Schließlich holen den Rapper die Drogenverkäufe ein, im Millennium-Jahr, in dem die Split-»MF EP« – vier Lo-Fi-Songs von Carey, drei von DOOM – droppt, wandert er hinter Gitter. Dort entstehen, klar, weitere Texte und ja, sogar Beats – dem selbsternannten HipHop-Grandmaster gelingt es, eine Drummachine hinein zu schmuggeln. Die Ergebnisse hält er nach dreijähriger Reuezeit im Knast auf »Digital Tears: E-Mail From Purgatory« unter dem Pseudonym Superstar Jet Jaguar fest. Unterdessen erscheint 2002 sein Solo-Debüt »The Downfall Of Ibliys: A Ghetto Opera« auf Day By Day Entertainment, Careys eigenem Label. Zuzeiten hat er unter anderem Count Bass D oder Rodan, Ex-KMDler und später Teil des HipHop-Kollektivs Monster Island Czars, unter Vertrag. »Special Herbs & Spices Vol. 1« markiert die letzte Kollabo zwischen Percy Carey und Daniel Dumile, so DOOM eigentlich. Dann überwerfen sich die beiden – bei Geld hört die Freundschaft auf. DOOM fusioniert jetzt mit Danger Mouse, während Carey exklusive Interview-Schnipsel zu seiner Person und seiner Gangster-Vergangenheit zwischen alte, aber auch bislang unveröffentlichte Rap-Songs schiebt (»Scars & Memories«). 2006 antwortet er auf DOOMs »El Chupa Nibre«-Provokation und verwandelt sich in ein Lebkuchenmännchen (»American Hunger«) – inspiriert vom Süßigkeitenladen »next door«, als er noch ein kleiner Knirps ist und zu Hause wohnt. Der Dopamintempel weckt schöne Erinnerungen, aber auch seine lebhafte Fantasie, wie er im Interview verrät.
So ist es mehr Wirkung als Zufall, wenn er nur ein Jahr später auf »The Hunt For The Gingerbread Man« ein ganzes Süßigkeitenimperium errichtet. Und das nicht aus Jux und Dollerei. Carey hat ein Ziel, will damit paradoxes menschliches Verhalten sichtbar machen. »The reason I decided to use candy cakes and cookies«, erklärt er, »was to show people how silly it is to fight and kill each other over being different as people. We’re biologically different to a degree, but there are specific components that make us all human and alike, so I chose to discuss taboo topics in the form of pastries, so it was easier for people to digest without losing its actual potency. It’s just candy, but we’re not.« In buntes Bonbonpapier gewickelte hässliche, gesellschaftssprengende Themen rund um Diskriminierung und Gewalt also. Weniger anstößige, weil süße Kunst – und dennoch anstoßend.
Jetzt, lange nachdem Carey seinen Frieden mit dem im letzten Jahr verstorbenen DOOM geschlossen hat, ist »The Hunt For The Gingerbread Man 2: Get The Dough« erschienen. Das intolerante Lebkuchenmännchen ist zurück, hat Bock auf Stress und ballert wild um sich – mit einer Bananenbrot-AK und massig Knallzucker. »Some dough is sour, so watch your backs.«