King Vision Ultras »SHOOK WORLD«, das Label PTP und die NY-Rap-Renaissance
Nicht wenige wollen in King Vision Ultra sowie dem Tape-Label und Kollektiv PTP New Yorks vermeintliche Rap-Renaissance erkannt haben. Pasqual Solaß hat sich dem Phänomen genähert.

Hole 44 — Hermannstrasse, Neukölln — 2. März. Es ist arschkalt und die Leute am Eingang sind schon zu Beginn des Abends genervt vom Knallen der schweren Tür, die zum Konzertsaal führt. Sehr spät erst schwappt das Publikum rein, um Algiers zu sehen. Zu spät, um mitzubekommen, dass das blaue Tape auf dem Merchtisch — weswegen ich eigentlich ins Hole gekommen bin — seit geraumer Zeit über die PA läuft, während Rookies und Soundleute auf der Bühne rumbasteln. Die Titel »Please Leave (Nu Surveillance State Gentrifier Tears)«, »Paper Chase (snippet)« und »Media Training« schneiden durch den Raum. Die Wenigsten der Wenigen, die sich nach der Vorband an der Bar rumdrücken, ahnen, dass sie gerade auch Algiers hören, zusammengeschnitten, collagiert und mit hundert anderen Samples, field recordings, found-footage, Spoken-Word- und Rap-Performances zu einer flächigen und granulierten, zerfaserten Textur verwoben.
Ich warte also, bis der Mensch hinterm Merchtisch seine Geldbörse gefunden hat, zahle, dann lese ich auf der Kassette den im Handstyle des legendären New Yorker Graffiti-Artists GESHU RYB geschriebenen Album-Titel: »SHOOK WORLD«. Ich weiß das im übrigen alles, weil ich seit Wochen Künstler:innen folge, Podcast-Interviews höre, während ich mit dem Kinderwagen unterwegs bin, mich in eine, wie man sagt, sogenannte Szene einarbeite und das lose Netz aus Personen, Gruppen, Features, Labels, und anderen multimedialen Kollaborationen zu rekonstruieren versuche, in dem manche bereits New Yorks vermeintliche Rap-Renaissance erkannt haben wollen.
Da gibt es die backwoodz studioz Crew um billy woods, E L U C I D (die zusammen das Duo Armand Hammer bilden), PremRock, Curly Castro (die zusammen das Duo ShrapKnel bilden), Akai Solo und neuerdings auch SKECH185, die sLUms community um MIKE (der auch als Producer DJ Blackpowder arbeitet), Slauson Malone, Standing On The Corner, KeiyaA, dann gibt es frei flottierende MCs/Producer wie Earl Sweatshirt oder Navy Blue, die mit nahezu allen zuvor genannten auf irgendeine Weise schon zusammengearbeitet haben. Kommen dann noch die Producer August Fanon, Kenny Segal, Preservation, Roper Williams, Messiah Musik, Child Actor und andere frequent collaborators wie Fatboi Sharif, Moor Mother, Pink Siifu oder Quelle Chris hinzu, franst das ohnehin lose Netz aus und reicht weit über New York City hinaus. Keineswegs Zentrum, aber einen ziemlich dicken Knoten in diesem Netz, habe ich noch nicht genannt: das Label und Kollektiv PTP — Purple Tape Pedigree aka Power Through People aka Protect The Peace, laut Bandcamp-Seite »counter-industrial purveyors of weaponized media and information«.
PTP wird seit 2015 vor allem für die ausgefallenen und schnell vergriffenen Kassetten geschätzt, die Geng PTP — der selbstgewählte Eigenname streicht den Einzelnen schon wieder durch — nicht nur mixt und mastert, sondern auch designt. Jede Kassette wird, auch wenn ein Projekt schon mit anderem Artwork auf anderem Format veröffentlicht wurde, noch einmal neu in Zusammenarbeit mit den Künstler:innen entworfen – J-Card, Case und auch die Kassette selbst. Bei PTP ist auch das blaue Tape vom Algiers-Merchtisch, »SHOOK WORLD«, das Album von King Vision Ultra Ende Januar, und damit genau einen Monat vor Algier »SHOOK« erschienen.
Ginge sowas, dann hätte ich mir vor Monaten geraten, bei PTP mit meinen Recherchen anzufangen. Auf der PTP-Bandcamp-Seite hätte ich Tapes von nahezu allen bisher erwähnten Künstler:innen gefunden, und vor allem auch diejenigen, die »SHOOK WORLD«, zu dem machen, was es ist: eine textliche, konzeptuelle, eine politische Herausforderung in Sound. Amani, Desde, Dreamcrusher, LaTasha N. Nevada Diggs, Lord Kayso, maassai, Nakama., No Land, um nur einige aus der PTP family zu nennen.
Kurz bevor Algiers auf die Bühne kommen, rauscht noch der Song »Vampire Tourbillon« featuring Bigg Jus ins mittlerweile ziemlich volle Hole. Das elementare Sample kommt von »An Unknown Infinite«, das vorherige King Vision Ultra-Album, das er zusammen mit amani geschrieben hat. »SHOOK WORLD« ist bereits sein viertes Album. GENG PTP, Tausendsassa, ist auch King Vision Ultra.
Kassetten-Philologie
Ich werde jetzt einiges über die blaue Kassette schreiben, wegen der ich insgeheim zum Algiers-Konzert gegangen bin. Es gibt natürlich viel mehr über »SHOOK WORLD« zu sagen, aber ich glaube, man kann Entscheidendes über das Tape, sein Engagement, seine Einflüsse, und sogar seinen spezifischen Sound lernen, wenn man sich ihm über sein Gehäuse nähert. Das scheint mir auch nicht fernab von der Absicht Gengs zu liegen, der immer wieder Entwürfe, Kontext und Trivia zu seinen Designs postet. Nur so konnte ich zum Beispiel vorab wissen, dass die blaue Kassette die exklusive Algiers-Tour-Version oder»outside edition« des »SHOOK WORLD«-Tapes sein wird.
Die J-Card, also das gefaltete Kunstdruckpapier, das im Kassetten-Gehäuse (Norelco-Case genannt) steckt, ist äußerlich wie gesagt blau bedruckt. Dieses bestimmte Blau ist nicht unwichtig, weil es ein erster Verweis auf zwei weitere, und signifikant ältere blaue Tapes ist: DJ Kid Capris Mixtape »12/3/91«, auf dem dessen Set vom titelgebenden Datum zu hören ist, und DJ Evil Dees Mixtape »Last Day Of School, First Day Of Life!!!« von 1995. Beides sind, wie gesagt, DJ-Mixtapes, also wiederum Sets, die auf Block Parties und in kleineren Clubs gespielt wurden, wo Musik gesampelt, überblendet, kompiliert, geteilt und weitergeben wurde.
Die DJs oder Mixtape Hosts sind gewissermaßen die PA-Announcer für ihren Mix und performen dabei ihre je eigene trademark Stimme. Eine ausgereifte Praxis kreativer Aneignung, kein simples Erstellen von Playlisten also. »SHOOK WORLD« ist unter anderem auch eine Hommage an diese Mixtape-Tradition, mit der Geng aufgewachsen ist, wie er in Interviews betont. Dementsprechend ist das Intro von einem Kid Capri-Set auf »SHOOK WORLD« zu hören, oder etwa das Stilelement des Mixtape Hosts, die wiederkehrende Stimme Franklin Fishers alias Frank Algiers’.
Das vielleicht auffälligste Detail auf der J-Card sind neben dem schon erwähnten Handstyle sicherlich zwei Comicfiguren, Hund und Katze, die Arm in Arm den Betrachter:innen zuwinken. Etwas verpixelt in der unteren rechten Ecke, muss es sich dabei wohl um die »coded message thru meme« handeln, wie Geng in einem Insta-Post schreibt. Ziemlich illiterat was Memes angeht, recherchiere ich eine ganze Weile ergebnislos umher. Schließlich frage ich bei Geng nach. Der gibt mir, super nett und approachable, wie er ist, den entscheidenden Wink. Über den Link zu Know Your Meme erfahre ich: Was fehlt, ist die Meme-Caption unter den tierischen Freunden. Auf »Engrish« steht da: »BORN TO DIE / WORLD IS A FUCK / KILL EM ALL 1989 / I am trash man / 410,757,864,530 DEAD COPS«. Was davon könnte nur die »coded message« sein?
So richtig abgefahren wird es aber, wenn man das Case öffnet, die Kassette herausnimmt, und die Innenseite der J-Card zu Gesicht bekommt. Beim ersten Anblick wird sofort deutlich: hier geht es um Text, Texte, Texturen. Und weil der Platz auf so einer J-Card rar ist, und es doch viel zu sagen gibt, sind die Buchstaben besonders klein, und drängen sich zuweilen eng zusammen, was wiederum geradezu zum Sich-Versenken einlädt. Ich halte mir das Papier nah vors Gesicht und lese, entziffere:
»made with gratitude to the 80’s/90’s NYC mixtape form, this is an album about preserving self and home (PROTECTING THE PEACE) amidst the constant threat of colonial violence from those who arrive just to leave (when it becomes ‘difficult’), those who refuse to acknowledge and respect the traditions and the histories of the people who have lived through and built this city upward… and continue to do so. this is an album about chosen family and honoring the lineage of the land. this is a NYC story of many NYC stories. this land was never ours to begin with.«
Direkt unter dem Zitat befindet sich die Schwarz-Weiß-Fotografie eines Dobermans. Der Foto-Künstler Richard R. Ross hat die Aufnahme so bearbeitet, dass der Wachhund, anders, als man es vielleicht erwarten würde, dafür aber ungemein vielsagender, gleißend und unterschiedslos weiß ist. Wiederum eine politische Message, die den zitierten Text weiter präzisiert.
Ross hat bereits 2018 zusammen mit Geng den dokumentarischen Fotoband »Silent Weapons« über PTP veröffentlicht. Darin enthalten sind Szene-Fotos eines selbst-ernannten »new underground«, die Auftritte von Armand Hammer, Dis Fig, King Vision Ultra, L’Rain und weiteren Acts dokumentieren. Gesammelt wurde für Organisationen, die sich für die Abschaffung der Kaution und der damit zusammenhängenden Untersuchungshaft einsetzen. Das »Cash bail« benachteiligt ganz klar BIPoC und arme Weiße, die sich den eigenen Freikauf nicht leisten können, demnach trotz Unschuldsvermutung im Gefängnis sitzen.
Geng schreibt mir, dass er an das Album-Cover von Algiers »Shook« gedacht hat, als er das Ross-Foto eingefügt hat. Darauf ist ein schwarzer Hund zu sehen, der, im Schneesturm ein schwere Stahlkette — shackles —, mit der er womöglich angekettet war, mit der Schnauze aufzuheben scheint.
Franklin Fisher, der Sänger der Post-Soul-Punk-Band aus Atlanta, ist nicht nur Mixtape Host, die Band ist auch insofern Host von »SHOOK WORLD«, als Algiers die Stems, also die originalen Aufnahmen, die Spuren ihres Albums, sozusagen aus dem Studio King Vision Ultra geschickt und zur freien Verfügung gestellt haben, so dass dieser so etwas wie eine New-York-Edition von »SHOOK« ausarbeiten konnte. Beide Alben teilen die sie auszeichnenden Elemente Kollaboration, Genre-Mixturen, Soundscapes urbaner Räume, und vor allem der Fokus auf Rap und Spoken-Word-Performances.
Dabei reichen sich »SHOOK« und »SHOOK WORLD« politisch die Hand: Gegen gentrifizierenden Neo-Kolonialismus, rassistische Polizeibrutalität, die prekären Lebensbedingungen von BIPoC-Communities unter kapitalistischen Verhältnissen, das Wiedererstarken des Faschismus, sind sie zugleich aber auch empowernde Zeugnisse gemeinschaftlicher Zusammenarbeit, gegenseitiger Hilfe und Fürsorge, eingedenk vernakulärer künstlerischer Traditionen und der Widerständigkeit des Alltäglichen.
Um aber wieder auf die Kassette zurückzukommen: Unter einem gewissen Blickwinkel kann auch die politische Bedeutung der Kassette deutlich werden. Denn unter den Tonträgern ist die Kassette nicht nur der günstigste und in der Produktion für Underground-Künstler:innen am Erschwinglichsten, und zwar auch mit komplexem Artwork. Die Kassette ist zugleich leicht und klein, und wird damit gerade an von Gentrifizierung betroffenen Orten, wo es an allen Ecken und Enden an günstigem Raum mangelt, zu ersten Wahl. Kassetten seien, so Geng in Episode 53 des »Fly Fidelity«-Podcasts, »more affordable on every level … especially in New York, where space is limited.«
Damit hat das Tonträger-Format direkt etwas mit dem vielleicht vordergründigsten politischen Einsatz von »SHOOK WORLD« zu tun. Auf dem Album sind immer wieder field-recordings von New-Yorker-Szenen, Gesprächen zwischen Passant:innen, Strassenpredigten, Baustellenlärm, vorbeifahrende Züge usw. zu hören. Auf »Please Leave ((Nu Surveillance State Gentrifier Tears)« sind es aber auch die Audiospuren von YouTube-Videos, auf denen reiche Touristen und hörbar wohlhabende »Gentrifier« New Yorker:innen provozieren, sich über die hygienischen Zustände in der U-Bahn beschweren, oder Neo-Safari-Touren durch die »gefährlichsten Nachbarschaften« geben, während sie ihre rassistischen, neokonservativen Ansichten, zum Besten geben und Anwohner:innen aburteilen.
In einem Interview mit dem »Call Out Culture«-Podcast spricht Geng über das Phänomen des AirBnB-Nachbarschafts-Hoppings: Gentrifier probieren vorerst verschiedene Nachbarschaften zeitweise aus, bevor sie sich für eine entscheiden. Nicht nur ist das ein lukratives Geschäft für die Eigentümer:innen, die mit der regulären Vermietung ihrer Apartments weniger Geld machen würden. Der Wohnraum wird für die Communities, die mit weniger auskommen müssen, akut knapper durch die Bereitschaft der Gentrifier, bis zu 3.000 Dollar Monatsmiete für ein Studio-Zimmer zu zahlen, wenn sie sich einmal für ein Viertel entschieden haben.
Wie könnte mich das kaltlassen, wie könnte ich nicht im Gegenzug an Berlin denken, die Stadt, in der ich lebe, in der absurde Mieten für teilweise lächerlich wenige Quadratmeter oder sanitärmäßig untragbare Wohnungen gezahlt werden müssen, und selbst Zugezogene wieder raus aus Neukölln wollen, weil — da hätte ich mein eigenen field-recording aufnehmen können — es irgendwie zum konsumierbaren Simulakrum verkommen sei? Das ist natürlich nur etwas, das nur Zugezogene behaupten können, während sie mit der Aussage zigtausende Leute übern Haufen bügeln, die dort jeden Tag leben. Gilt nicht auch hier die »SHOOK WORLD«-Message: »Please Leave«?