Haftbefehl Kennst du das?

Ein vorgeblicher Drogenbaron und wirklicher Rap-Mogul veröffentlicht aus dem heimeligen Einfamilienhaus einer südhessischen Kleinstadt heraus ein Straßenrap-Album, das vor Authentizität zu platzen droht. Du weißt, dass es Haft ist.

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Ein Junge liegt im Bett, plötzlich platzt die kleine Schwester rein. Mama war einkaufen und schafft es mit den Tüten und vier mal sechs Flaschen Metzeral-Wasser nicht alleine in den dritten Stock. Noch dazu sind die Aufzüge wieder mal kaputt. »Kennst du das, kaputte Aufzüge?«. Alleine mit diesem Satz macht der Rapper Haftbefehl auf dem ersten Song seines neuen Albums gewaltige Bilderwelten auf. Graue, triste Hochhausfassaden spiegeln sich in den Pfützen vor dem Block, in der Einfahrt ein Leichenwagen, denn der Nachbar hat sich erhängt. Kennst du das? Die meisten in Deutschland wohl eher nicht. Denn Haftbefehl erzählt immer noch von den Verhältnissen in Gegenden, die im deutschen Mediendiskurs kaum auftauchen, wenn, dann als bloße Koordinaten für Polizeiberichte aller Art. So macht er auf diesem Lied, das auch glücklicherweise gleich den Namen »Kaputte Aufzüge« trägt, den Vergleich zum Villenviertel auf, zur »Doktorengegend, wo Professoren leben«. Orchideen und zwei Porsche vor dem Haus. Kennst du das? Vielleicht nicht aus der Kindheit, aber sicher aus den Träumen, die Popkultur und Politik weben.

»Kennst du das?«, das scheint eine Leitfrage des neuen Albums von Haftbefehl zu sein. Der Name »DSA«, kurz für »Das schwarze Album«, setzt dieses Projekt in direkten Kontext mit dem letzten Release des Offenbachers, dem »weißen Album«. Es erschien vor nicht allzu langer Zeit und fühlte sich an wie der gleißend helle Kokaintrip eines Superstars. Er protzte mit Ausgaben über 30.000,- Euro wöchentlich, mit dem Essen der Drei-Sterne-Restaurants, mit dem Rolls Royce Phantom und der Chopard am Handgelenk, gleichzeitig schien ihm das alles recht gleichgültig zu sein. Kennst du das? Ich nicht, wahrscheinlich niemand. Jetzt aber, »Das schwarze Album«. Es dreht sich um den Ekel vor sich selbst und der Welt, um Milieuschaden und Unmoral. Damit spricht er nicht nur als Verbündeter zu allen, die diese Dinge kennen, sondern vermittelt der deutschen Mehrheitsgesellschaft seine Lebensrealität ungeschönt.

Haftbefehl, bürgerlich Aykut Anhan, lebt heute mit Frau und zwei Kindern in einer südhessischen Kleinstadt in der Nähe seiner Mutter. Weder nach Gangster-, noch nach Rockstar-Leben hört sich das an. Klar, letztes Jahr gab es noch eine Geschichte rund um den Schuss ins Bein des Rappers, aber bis auf ein paar alte Freunde wird im Alltag des 35-Jährigen wenig aus den Geschichten wiederfinden, die er noch heute in seinen Liedern erzählt. »Normales Leben und Musik kann ich nicht verbinden«, sagt er an einer unscheinbaren Stelle in einer kürzlich veröffentlichten Doku über die Produktion seines neuen Albums. Dann merkt er noch kurz an, dass er sich vorübergehend eine Wohnung in seiner früheren Wohngegend angemietet hat, »um meine Musik zu machen«. So begibt er sich auch im zweiten Stück des Albums zurück in die Plattenbausiedlung, die seine Jugend so geprägt hat. In »Wieder am Block« wirkt alles zerbrochen. Der Körper, die Psyche, die Familie, der Bildungsweg und auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Bassdrum ist ebenso riesig und düster wie die gewaltigen Worte, die Haftbefehl wählt: »Ich fühle mich seit Wochen nicht mal tief in mein’n Knochen / Fremdwort bleibt ›Liebe‹ und ›Lachen‹, Herzen sind gebrochen«.

Denn natürlich kennt Haftbefehl all das, wovon er spricht, noch immer. Der Straßenschaden, wie man die langfristigen psychischen Folgen eines Lebens, wie Hafti Abi es geführt hat, liebevoll nennt, verfolgt ihn offensichtlich auch noch heute. Einige Zeilen irritieren trotzdem, legt man Maßstäbe der Authentizität an: »Sprengstoff- und Morddezernat hängt am Arsch / So wie das LKA«, rappt Haftbefehl auf dem Titel »Lebe Leben«. Nicht zuletzt wegen solchen Aussagen sieht sich der Rapper regelmäßig mit Zweifeln konfrontiert, ob er in seiner jetzigen Lebenssituation die Straße noch ebenso authentisch verkörpern könne wie zu Zeiten seines Debütalbums »Azzlack Stereotyp«. Als Gast beim »Reflektor Podcast« erklärt er, es handelt sich hierbei um eine Geschichte, die nun zehn Jahre zurückliegt. Nun seien die Ermittlungen verjährt und es sei ihm rechtlich möglich, Anspielungen an den damaligen Vorfall in seinen Texten einzubeziehen. Konkret handelt es sich wohl um den Fall des Ömer H., der als Türsteher eines Frankfurter Clubs nach einer Auseinandersetzung am Ostermontag 2011 zunächst wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. 2014 wurde der Urteilsspruch nach Neuverhandlung des Prozesses zur Körperverletzung mit Todesfolge gewandelt, das Strafmaß sank auf sechs Jahre Haft. Ömer H. tauchte mehrfach in Musikvideos von Haftbefehl auf: Zunächst im Video zu »Glänzen«, das als Teil der Reihe »Halt Die Fresse« auf dem Kanal von »Aggro TV« erschien und Haftbefehl zu dieser Zeit große Aufmerksamkeit einbrachte. Im November 2014 war Ömer H. ein zweites Mal auf Youtube zu sehen: Im Video zu »Lass Die Affen Aus Dem Zoo«, passenderweise eine Hymne auf die Gewalt der Straße. Im Lied »Lebe Leben« folgt kurz nach der Anspielung an diesen tragischen Fall die Zeile: »Sie kennen keine Moral / Du kennst Frankfurt, Chab«.

»Jedes Wort, jeder Satz ist wahr, Bruder!«, so hörte man Haftbefehl auf einem Interlude inmitten des Tracks »1999 Pt. 5 (Mainpark Baby)« noch letztes Jahr sagen. Es scheint, als hätte der Rapper einen neuen Zugang zum Prinzip der Authentizität gefunden. Haftbefehl, das ist nicht mehr der Gangsterboss aus Offenbach, das ist ein südhessischer Familienvater und Geschichtenerzähler mit Lebenserfahrung. So erklärt er in der zuvor erwähnten Folge des »Reflektor Podcast«, dass jede seiner Zeilen reale Entsprechungen habe. »Ihr könnt euch sicher sein […], dass jeder Satz, den ich sage, […] jeden Tag in Deutschland passiert.« Das hat nichts zu tun mit der Spaltung von Kunstfigur und Privatperson, Haftbefehl rappt über die Realität, die er kennt. Der Wahrheitsgehalt in der Kunst Haftbefehls ergibt sich nicht aus dem Abgleich mit dem individuellen Leben des Künstlers, sondern aus den Widersprüchen, die sie aufreißt. Die Widersprüche in den Texten selbst, die Widersprüche zu Good Vibes-Pop und die Widersprüche zur Lebensrealität derjenigen, die »DSA« konsumieren.

Eklig und düster ist diese Welt, die Haftbefehl diegetisch aufbaut. Sie ist ein Drogensumpf, wie etwa im Lied »Crackküchen«, auf dem Haftbefehl auch schon wieder fragt: »Was wisst ihr schon von Flex ticken?« Kennst du das? Die Welt von »DSA« ist aber auch ein Ort der Paranoia, etwa auf »Kokaretten«. In ihr gibt es selbstreflektive Momente wie »4 Kanaken«, in dem Haftbefehl sich fragt: »Leichen auf Leichen / Was ist aus uns geworden?«. Und der Rausch ist quasi Dauerzustand: Weiße Linien auf dem Rücksitz, Kokaretten in der Marlboropackung und Crack im Kochtopf. »Du weisst dass es Haft ist« wirkt wie der musikgewordene Höhenflug der Kokain-Arroganz. Haftbefehl murmelt die Wörter, als wäre der Kiefer schon taub und lässt jegliches gesundes Verhältnis zu Gewalt und Emotion links liegen. Im Singsang heißt es »Was für in die Fresse hau’n? / Hau‘ dem Amo Messer in den Bauch«. Der Gefühlstod ist deutlich spürbar. Nachdem die ersten Titel mit ihren plakativen Schilderungen noch die Lebensrealität der Straße zugänglich gemacht haben, verliert Haftbefehl nicht lange nach der Rückkehr an den Block jeglichen empathischen Bezug zu sich und seiner Umwelt. Wo »24/7« als Zenit dient, ist »Du weisst dass es Haft ist« vielleicht ein erster Tiefpunkt. Das darauffolgende »Lebe Leben« zelebriert dann ganz offen das Leben im Falschen, der Songtitel wiederholt sich wie ein Mantra, das gleichzeitig den eigenen Erfolg feiert und die Unmoral legitimiert. Und auf dem vorab veröffentlichten »Offen / Geschlossen« schafft es Haftbefehl, all diese Facetten in wenigen Zeilen zusammenzuführen: »Nachdem ich meine Babys schlafen lege / Jag‘ ich weiter draußen Knete, all-in, als hätt ich tausend Leben / Offenbacher Chabba, ja, ich bin ciao im Brain /Drauf seitdem ich dreizehn bin, ich hab‘ es mir nicht ausgewählt / Ich hab‘ das Taş, das Staub, das Schnee / Und wasch‘ mir die Schmauchspur’n aus der Seele«.

Emotionsausbrüche finden auf »DSA« nicht nur textlich oder instrumental statt, jede Gefühlsregung schlägt sich sofort in der Stimme nieder. Und generell, die Stimme des Rappers: Früher immer episch, immer aggressiv, die Aussprache hart und trocken. Die rechtskonservative »Welt« schrieb einst von einer »heißen Kartoffel« in seinem Mund, heute weiß Haftbefehl sein Sprachorgan unfassbar vielseitig einzusetzen. Auf »Du weisst dass es Haft ist« und in der Hook des Songs »24/7« ist die Stimme hoch und locker, dahingemurmelt die Worte, die Vortragsweise fast humorvoll, auf »Kaputte Aufzüge« melancholisch und auf Autotune. Autotune findet auch extensiven Einsatz, wenn Haftbefehl aus den »Crackküchen« berichtet, trotzdem ist die Präsentation unfassbar hart und druckvoll. Immer wieder klingt Haftbefehl betäubt, seine Vortragsweise auf »4 Kanaken« erinnert fast an den magischen Moment, an dem Kanye West mit Drähten im Kiefer »Through The Wire« eingerappt hat – Mumble Rap ohne all den kindischen Hedonismus und den glitzernden Quatsch drumherum. Und dann schreit sich Aykut Anhan auf Liedern wie »Lebe Leben« und »Kokaretten« einfach wieder die Seele aus dem Leib, ganz so, wie die Fans es lieben.

Zur Stimme gehört die Sprache, und mit Abhandlungen über den Sprachgebrauch des Offenbachers könnten einige Sammelbände gefüllt werden. »DSA« ist ein ekliges, ein depressives und dreckiges Album. Die Sprache, die Haftbefehl verwendet, ist immer noch der ungeschönte Straßenslang, den der Rapper in den vergangenen Jahren in der gesamten Breite der Gesellschaft und auch im Duden etabliert hat. Dazu gehört auch nach wie vor sexistische und ableistische Sprache. Haftbefehl lässt sich sogar dazu hinreißen, das Z-Wort auszusprechen, eine rassistische Fremdbezeichnung für Sinti:zze und Rom:nja. Ungeschönt ist das, aber eben auch unsensibel. Denn an diesen Stellen geht es um Drogenabhängigkeit, um Suizid und Prostitution. Themen, die andere Künstler:innen meist nur mit allersanftesten Samthandschuhen anfassen. Für Haftbefehl sind diese Dinge Alltag, er beschreibt sie mit seiner alltäglichen Sprache. Eine unsensible Sprache für sensible Angelegenheiten. Haftbefehl hätte ohne Probleme auf die ein oder andere überaus sexistische Zeile verzichten können, es hätte der Wirkkraft von »DSA« nicht geschadet. Auch hier eröffnen sich komplexe Problematiken, denen dieser Artikel nicht gerecht werden kann. An Haftbefehl machen sich Konflikte aller Art auf, der Rapper ist eine ambivalente Symbolfigur. Und was seine Texte offenbaren, ist niemals auserzählt.

Zum Ende des Albums wird es düster, fast apokalyptisch. Kurz zuvor ging es mithilfe von Milonair und Trap-Queen Haiyti auf dem potenziellen Street-Hit »Cripwalk aufm Kopf« noch eingängig und ignorant daher, nun blicken Haftbefehl, Schmyt und Bausa dem Weltuntergang entgegen. »Leuchtreklame« behauptet den Sprint der Menschheit in die falsche Richtung. Im Refrain von Schmyt ist immer wieder von einer ominösen Frage die Rede, die allerdings unbenannt bleibt. Es ist wohl die Frage von Folgen und Führen, während Schmyt »in Gott oder Teufels Namen« den Lichtstrahlen der beleuchteten Werbeflächen hinterher fährt. Die Frage wird so mystifiziert, dass dahinter kaum mehr ein einziger, simpler Satz stecken könnte. Ob sich die Menschen überhaupt hinterfragen, das ist die Krux. Haftbefehl und Bausa lassen in ihren Parts wenigstens durchsickern, dass ihnen das Elend der Welt bewusst ist, während sie ihre jeweiligen Batzen zählen. Ganz in der Verzweiflung angekommen scheint Haftbefehl auf »EMSF«, dem letzten Lied des Albums. Jetzt liegt nicht mehr nur sein individuelles Leben in Scherben, das ganze Land braucht einen Exorzist. Geblendet vom Satan, vom Morgenstern, gibt Haftbefehl die Hoffnung auf das Paradies auf. Die Taubheit im Rachenraum des Rappers scheint noch hörbar, gleichsam ist da so viel Schmerz in seiner Stimme. Zum Abschluss von »DWA« fragte sich Haftbefehl noch, ob er nun wohl sterbe. Jetzt lebt er Leben. Er sang: »Auf der Suche nach Gott, denn sie geben mir Hölle« und zelebrierte damit abermals den Kampf zwischen Engel und Teufel. Auf »DSA« schwört er den Predigern ab, er macht Mut, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Glücksmomente sind Errungenschaften, eigene Dämonen sind nicht mehr Ausgeburt der Hölle, sondern fest verankert im Alltag, im Benz, in der Crackküche, am Block, im Vollrausch – Depressionen, kennst du das?