WEIL Flexen mit Fühlen

Als die Kulturwelt im Frühjahr 2020 stillstand, musste es für Anton Weil weitergehen. Statt in Theater und Film fremde Narrative zu beleben, erzählt er auf »Groll« seine eigene Geschichte. Das Debütalbum des Kreuzbergers ist geprägt von der Sehnsucht nach Lebendigkeit und dem Kampf gegen die emotionale Verkümmerung.

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»Im Lambo Diablo GT, le le le / Le le le / Le le le« tönt es aus den Lautsprechern des Breakdancers. Während Capo und Nimo noch erklären, dass Frankfurt am Main nicht Miami Vice sei, drehen sich die Gondeln im Kreis und um die eigene Achse. Als einziger Fahrgast hat Anton Weil Platz genommen, der sich mit den Gondeln dreht und dabei glücklich wirkt. Sicher sitzt auch er im Nassen, denn hier auf dem Berliner Rummel Ende August ist alles nass, ein Schauer jagt den nächsten. Die Heiterkeit der bunten Lichter, schrecklicher Evergreens und rennender Kinder ist längst in einen grauen Schleier gehüllt. Wir befinden uns an einem Ort, der nur zum Spaß existiert – und endlich hat niemand mehr Spaß.

Unser Spaziergang über den Rummelplatz führt uns zur XXL-Krake, zur Grillhütte, zur Cocktailbar und zum Schießstand. Anton erinnert sich an die Kindheit, mit seinem Vater auf dem Jahrmarkt, er bekommt zehn Mark in die kleinen Hände gedrückt und muss wirtschaften. Heute könnte man hier für dieses Geld bloß ein einziges Fahrgeschäft genießen. Das Vereinende in der Kindheit sei gewesen, »dass die Eltern aus der Arbeiterklasse kamen, dass man nicht viel Geld hatte«. Er wuchs in Kreuzberg 36 auf, später in 61, dann wieder in 36. In einer Altbauwohnung mit viel Platz für wenig Geld, mit einer lauten Kneipe im Erdgeschoss und Kohleheizung im Winter. Der Vater sammelte Schallplatten, die Mutter stellte Kassetten zusammen, im Kinderzimmer liefen Ton Steine Scherben, Die Prinzen und Benjamin Blümchen. »Ich bin schon behütet aufgewachsen«, sagt Anton, der unter dem Namen WEIL am 17. September sein Debütalbum veröffentlicht. »Ich habe mich immer sicher gefühlt.«

Das änderte sich im Alter von 14 Jahren, erzählt Anton im Riesenrad. Plötzlich hatten einige Kids Handys, andere zogen sie ihnen ab. Im Bus musste man sich unterordnen, wollte man keinen Ärger bekommen. Die On-Off-Beziehung von Antons Eltern zerbrach ein weiteres Mal, seine Mutter bekam die Diagnose Lymphdrüsenkrebs. Nach Chemotherapien und Rezidiven, Bestrahlungen und Wiedererkrankungen beschließt seine Mutter, den Kampf aufzugeben, um wenigstens im Tod ein wenig Menschlichkeit zu behalten. »Meine Mutter war in meinem Aufwachsen immer die starke Figur. Alles, was ich bisher als Halt hatte, wurde in diesem Moment gebrochen.«

Die Reaktion des Jugendlichen war eine typische: »Mein Herz spricht nicht mehr, doch dafür brichts nicht mehr«, singt WEIL auf »Das Wetter«. Er versank in einer Depression und statt sie anzugehen, nahm er sie als wohlig vertraute neue mentale Heimat an, wie er in »Atme Dich« singt: »Hier ist nichts mehr, was ich sehen muss und nicht sehen will / Hier ist’s dunkel und still«. Zu dieser Zeit fühlte WEIL sich wie unter der Wasseroberfläche: Noch kann er auftauchen und atmen, aber irgendwann zieht der Druck des Wassers ihm zum Grund. Er gab die Verantwortung für sich selbst auf, in einem Jahr hatte er fünf Mandelentzündungen. »Das war genau der Weak Spot, am Hals, wo es meine Mutter auch erwischt hat.« Beziehungen zerbrachen in dieser Phase an der emotionalen Kälte des Künstlers: »Lieber weniger fühlen, dann sind die schlimmen Dinge nicht so schlimm. Aber die schönen natürlich auch weniger schön. Es ist sicher traurig, mit jemandem zusammen zu sein, der Sachen eher so okay gut findet.«

»Groll« zeugt von WEILs Kampf gegen die emotionale Bankrotterklärung. Seine Arbeit als Schauspieler begünstigte diesen Prozess massiv, er fand neue Zugänge zu Emotionalität. »Ich konnte tiefe Liebe spielen, Naivität und Überraschtheit, aber auch Rollen mit meinen negativen Gefühlen füllen. Die hatten plötzlich einen Wert.« Doch wo das Theater feste Handlungen und Figuren vorgibt, kann WEIL in der Musik sein eigenes Narrativ formen. Er erzählt seine Lebensgeschichte, von Armutserfahrungen und Drogenkonsum, von Beziehungen, die längst zu Ende sind, obwohl niemand sie beendet, vom Drang nach Veränderung. Worte, die immer wieder im Raum stehen: Beenden, Stehenbleiben, Weitergehen. Aus existenziellen Krisen entspringen die Kernfragen von »Groll«: »Was bleibt? Was geht? Wohin gehe ich?« Sie zu beantworten, ist Teil des Kontrollgewinns, Teil des Ringens mit der Ohnmacht.

Es ist fast symbolisch, dass »Groll« im ersten Lockdown der Pandemie, in einer Phase weltweiter Stagnation entstand. Nach wochenlangen Theaterproben in Köln fielen Premiere und Vorstellung aus, der unbeschäftigte Künstler verbarrikadierte sich in der Folge im Studio des Producerduos Dienst&Schulter, das Album nahm finale Form an. Deren Signatur ist auf dem Album deutlich zu spüren, etwa, wenn die psychedelisch anmutende E-Gitarre auf »Atme Dich« grelle Wellen schlägt. Ebenso tut es der Produktion gut, dass WEIL seine eigenen Inspirationen von Frank Ocean über Haftbefehl bis Rio Reiser einfließen ließ. Die Kollaboration, auch mit Valentin Hansen und Antoni Radtke, erlaubt ihm, ebenso eingehende Balladen wie moderne Trap-Anleihen in das Werk aufzunehmen, stimmlich zwischen Flüsterton und verzerrtem Schrei zu changieren. Auf der ständigen Suche nach Abwechslung ruft WEIL seine komplette performative Palette ab.

Besonders fällt in diesem Kontext »Fühlé« auf. Die Vorabsingle setzt mit ruhiger Stimme ein, der laute Refrain wiederholt den Titel immer wieder und erinnert dabei an deutsche Trap-Hymnen aus der Zeit, als man noch »Cloud Rap« sagte. Damals rappten LGoony und Juicy Gay über »Sace Sace«, Rin und Yung Hurn wollten »Bianco«. Das Muster war einfach: Das Wort mit dem größten Flexpotenzial wird in der Hook wiederholt und wiederholt und so kleinlich ausgesprochen, dass es im Kopf bleiben muss. WEIL nimmt dieses Prinzip auf und presst es durch seinen eigenen Filter. Denn nicht die großen Markennamen oder Modedrogen, sondern das Fühlen ist der größte Flex. Das Lied hat etwas Triumphierendes, weil es scheint, als hätte WEIL endlich die emotionale Wüste verlassen, übermannt von Endorphin.

Mittlerweile sitzen wir etwas abseits des Rummels auf einer Biergarnitur. Was das schönste Gefühl sei, frage ich Anton. »Ich habe eine große Sehnsucht nach Lebendigkeit. Dieses intensive Gefühl, zu merken, wie schön es ist, am Leben zu sein.« Er erzählt von jugendlicher Adrenalinsucht, nachdem er die Angst vorm Breakdancer überwunden hat. Davon, wie die Suche nach Lebendigkeit ihn in den Rausch, in Schmerz und Verliebtsein geführt hat. Und von einem Albtraum, in dem er überfahren wird und während er durch die Luft fliegt, denkt: »Warum jetzt schon? Ich war doch noch gar nicht fertig.« Die Angst vor der Vergänglichkeit, die ihm durch den Tod der Mutter in jungen Jahren für immer eingebrannt wurde, treibt Anton an. »Was man erleben kann, will ich erleben«, sagt er. »Was man spüren kann, spüren. Ein reiches, intensives Leben, an dessen Ende man sagen kann: Ich habe nichts verpasst«. WEIL möchte etwas schaffen, das über seine Lebenszeit hinausragt, darauf deuten die Zeilen aus »Onmyway«, dem Outro des Albums: »Hab immer wieder Hoffnung, dass was geht / Ich noch irgendetwas schaff’, wofür ich steh’ / etwas hinterlasse, was mich überlebt / Doch ich steh’«. Hinfallen, Aufstehen, Stehenbleiben, Weitergehen – und wieder von vorn.