DJ Screw Der Entschleuniger
Am 20. Juli wäre DJ Screw 50 Jahre alt geworden. ALL GOOD-Autor Philipp Killmann hat die Legende aus Houston portraitiert.

Selbst für aufgeschlossene HipHop-Heads ist Screw-Musik eher eine Liebe auf den zweiten Blick. Zu schräg mutet dieser bahnbrechende Stil auf den ersten an: Um etliche BPM verlangsamte Beats, über die Rapper rappen und Sänger singen, die sich anhören, als würden die Batterien eines Kassettenrekorders den Geist aufgeben. Doch rund 21 Jahre nach seinem frühen Tod ist der Zauber von Robert Earl Davis Jr. alias DJ Screw ungebrochen. Im Gegenteil. Sein Warenzeichen »Chopped & Screwed« ist weiter verbreitet denn je und findet als Stilmittel längst nicht mehr nur im HipHop statt. Am 20. Juli wäre DJ Screw 50 Jahre alt geworden.
Rapper Paul Wall bezeichnet den Sound von DJ Screw in einem Beitrag der Universität Houston als eine »Trance«, in die der Hörer versetzt werde. Als »einzigartig psychedelisch und ätherisch« beschreibt »The Guardian« die »Screw music«. Die »Red Bull Music Academy« vergleicht das Klanggebilde von DJ Screw mit der Luft in Houston, wo Robert Earl Davis Jr. den Großteil seines kurzen Lebens verbracht hat. Sein Sound habe die Hitze der größten Stadt von Texas reflektiert, das schwüle Klima wiedergegeben und die Langsamkeit des Autofahrens durch die endlos anmutenden Straßen der Stadt zelebriert, in der es einem teilweise vorkomme, als käme man nie ans Ziel: »Er machte die Musik, die sich anhört, wie Houston sich anfühlt.« So wie das Autofahren den Fluss der Zeit störe, weil der Fahrer statisch dasitzt, während alles um ihn herum schnell vorbeizuziehen scheint; und so wie Musik ein Ausdruck ihrer Umgebung und Kultur sei, dementsprechend passe DJ Screws Stil zu Houston, befindet ein Host des australischen Radiosenders »3RRR«. »Screw hatte einen Weg gefunden, die Zeit zu verlangsamen – er hatte eine neue Welt erschaffen«, schreibt Michael Hall wenige Monate nach dem Tod von DJ Screw in einem Portrait über die Houston-Ikone für das Monatsmagazin »Texas Monthly«. Der Journalist komme sich beim Anhören von Screw-Musik wie in einem »Fiebertraum« vor. »Erst hört es sich an, als würde irgendwas nicht stimmen […] Alles scheint zu sterben – die Stimme, der Beat, die Scratches, die Melodien. Es ist wie ein Rückzug in eine völlig neue Welt«, so Hall. Was nicht heißt, dass sich dem Hörer diese Welt gleich erschließt. In der Regel löst sie zunächst Skepsis oder schlicht Ablehnung aus. Bun B von den Underground Kingz (UGK) gab sein erstes screwed Tape zurück, weil er annahm, es sei kaputt, als er es abspielte und den für ihn gleichermaßen neuen wie befremdlichen Sound erstmals zu hören bekam.
Aber für denjenigen, der sich darauf einlässt, so wie im nächsten Anlauf auch Bun B, eröffnet sich ein unendlicher Kosmos. Und das auch ohne den Konsum des mit DJ Screw unweigerlich assoziierten Purple Drank, dem mit Codein- und Promethazinhaltigen Hustensaft versetzten Limonaden-Gebräu, das den Konsumenten in einen gleichermaßen entspannten wie euphorischen Gemütszustand versetzt und auf das noch zu sprechen sein wird.
Tatsächlich steht der Sound von DJ Screw auch ohne berauschende Zusätze für sich. Screw-Musik ist vielmehr selbst ein Sedativum, das bei den Zuhörenden seine ganz eigene beruhigende Wirkung entfaltet. Nicht nur aufgrund des stark gedrosselten, also »gescrewten« Tempos der oft mit viel Hall unterlegten Beats und Vocals, sondern auch durch ihren Sound, der vom warmen Klang des Vinyls sowie von den Kassettenaufnahmen geprägt ist. Schließlich war Screw noch ein DJ alter Schule, dessen wesentliche Werkzeuge aus zwei Plattenspielern und einem Mixer bestanden.
DJ Screw steht für Entschleunigung und ist gerade deshalb im digitalen Zeitalter, in dem nichts älter ist als der Tweet von vor fünf Minuten, aktueller denn je. Hektik ist bei Screw-Musik unangebracht. Jeder noch so kurze Song, den Screw gescrewt hat, ist länger, jeder noch so schnelle Rap oder Gesang langsamer und jede noch so ausschweifende Melodie noch ausladender. Sogar Too Short rappt gescrewt noch langsamer, Devin the Dude noch entspannter, Mane. Wer Screw-Musik genießen will, muss Zeit mitbringen. Arbeit und Alltag müssen warten. Aber neben der Entschleunigung wohnt der Screw-Musik noch mindestens ein weiteres antikapitalistisches Element inne. »An der Grenze zum Psychedelischen nimmt Chopped & Screwed-Musik den Songs ihren radiotauglichen Glanz, zerlegt ihre Beats und entstellt ihre Hooks«, schreibt Ben Westhoff in seinem 2011 erschienenen Buch »Dirty South: Outkast, Lil Wayne, Soulja Boy, and the Southern Rappers Who Reinvented Hip-Hop«. »Bedrohliche Songs hören sich noch bedrohlicher an, indem die Lyrics dir direkt um die Ohren gehauen werden und die Erzählungen von dem Chaos in der Hood sowie die Frauengeschichten unverblümt in den Fokus geraten.«
Selbstredend wurde DJ Screw zu Lebzeiten in aller Regel nicht im Radio gespielt. »Die Art und Weise, wie DJ Screw Musik gemacht hat, und die Gemeinschaftlichkeit dahinter waren eine kritische Vorgehensweise«, meint Robert Hodge, ein Künstler aus Houston, dessen Werke in die Anfang 2020 eröffnete Ausstellung »Slowed and Throwed: Records of the City Through Mutated Lenses« im Contemporary Arts Museum of Houston einflossen, in einem Beitrag des Berliner Kulturmagazins »032c«. »Seine Arbeit fand an der Basis statt, war demokratisch und ging regional viral. Wie wir wissen, hat die Musikindustrie diese Arbeitsweise abgewürgt, sodass sie nicht länger lukrativ oder legal für Musiker ist. Die Mixtape-Produktion war ein Weg, mit dem die Straße mit ihrem Einfallsreichtum die Musikindustrie überlistet hat.« DJ Screw war nicht auf das Radio angewiesen. Er war das Radio. Erst für Houston, später für das ganze Land und Jahre nach seinem Tod für die ganze (HipHop-)Welt. Wer war dieser Mann?
Robert Earl Davis Jr. kommt am 20. Juli 1971 zur Welt. Die meisten Quellen nennen das ländliche Smithville, Texas, als Geburtsort. Davon abweichend gibt der Journalist Michael Hall das nicht minder beschauliche Bastrop an, ganz in der Nähe von Smithville. Beide Orte liegen rund 200 Kilometer westlich von Houston. Robert Earl ist der Sohn des LKW-Fahrers Robert Davis Sr. und der Reinigungskraft Ida Mae Deary Davis. Die Ehe hält nicht, die Eltern leben bald getrennt voneinander. Robert Earl hat zwei Schwestern und einen Bruder. Seine Kindheit verbringt er größtenteils bei seiner Mutter. Sie leben, abgesehen von Zwischenstationen in Houston und Los Angeles, auf einer Farm in Smithville, das seinerzeit keine 4.000 Einwohner zählt. Nach Screws Tod hat Michael Hall Screws Mutter dort für ein Portrait ihres Sohnes im »Texas Monthly« besucht. Demnach ist Robert Earl ein durchschnittlicher Schüler. Eng befreundet ist er mit seinem entfernt verwandten Cousin Trey Adkins, sie fahren Fahrrad, spielen Videospiele. Von dem Spiel »Galaga« ist Robert Earl so besessen, dass er es irgendwann durchspielen kann. Als Kind will er zunächst in die Fußstapfen seines Vaters treten und Truck-Fahrer werden. Doch dann wird eine andere Leidenschaft in ihm geweckt: die Musik. Einerseits ausgelöst durch die große Musiksammlung seiner Mutter, die übrigens auch schon Musikkassetten aufgenommen und an Freunde und Bekannte verkauft hat, andererseits durch die DJs des HipHop. Die bekommt er zu Gesicht, als Ms. Davis ihn und Trey mit ins Kino nimmt, um den 1984 erstmals vorgeführten und später zum Klassiker avancierenden Film »Breakin‘« zu sehen. Auf dem Plattenspieler seiner Mutter fängt er an, die Platten von Bluesmusikern wie B.B. King und Soulsängern wie Johnny Taylor zu scratchen. Robert Earl mimt den DJ, sein Cousin Trey als Shorty Mac den Rapper. Letzterem verdankt er seinen Künstlernamen. Weil Robert Earl die exzentrische Angewohnheit hat, Platten, die er nicht mag, mit einer Schraube (engl.: screw) zu zerkratzen, damit sie nicht mehr abgespielt werden können, nennt Shorty Mac ihn DJ Screw. »Er hatte nur Musik im Kopf«, sagt seine Mutter im »Texas Monthly«.
Mangels langfristiger Perspektiven in Smithville holt Robert Davis Sr. seinen Sohn eines Tages zu sich nach Houston. Sie leben in einer Wohnsiedlung namens Quail Meadows in der Nähe des »William P. Hobby«-Flughafens, einem Arbeiterviertel im Süden der Stadt. Screw geht auf die Sterling High School in dem benachbarten Stadtteil South Park. Allerdings nicht lange. »Ich und Screw sind beide von der Schule geflogen«, schildert sein enger Freund Albert Driver alias Al-D The Lion der »Red Bull Music Academy« gegenüber. »Screw wurde mit etwas Gras erwischt und ist nie wieder zur Schule gegangen.« Das ist in der 8. Klasse. Stattdessen fängt er an, in einem Lebensmittelgeschäft zu jobben. Nebenbei macht er mit dem weiter, was ihm am wichtigsten ist: dem Deejaying. Sein Vater sähe es zwar lieber, wenn er weiter zur Schule ginge, aber es könnte ja auch schlimmer kommen. »Solange er in seinem Zimmer war und Musik gemacht hat, musste ich mir zumindest keine Sorgen machen, dass er sich draußen auf der Straße rumtreibt«, sagt Robert Davis Sr. in der 2006 erschienenen DVD-Dokumentation »The Untold Story«.
Mit 17 hat Screw seine ersten Jobs als DJ, erst bei Rollschuhbahnen, dann in Clubs. Sein Equipment teilt er sich mit seinem Freund Andrew Hatton alias DJ Chill. Bald legt er nicht nur auf, sondern nimmt auch Mixtapes auf. Einer öfter zitierten Legende zufolge entsteht die Screw-Musik durch einen Zufall. Demnach hängt Screw mit ein paar Freunden ab, als er versehentlich eine Platte zu langsam abspielt. Doch seinem Kumpel Toe gefällt es und bezahlt Screw sogar für eine Aufnahme. Das Tape macht die Runde und die Nachfrage steigt rasant. Es könnte aber auch etwas komplexer gewesen sein. Denn Screw war nicht der erste DJ, der seine Musik langsamer abspielte. Schneller als DJ Screw war damit Darryl Scott. Scott ist eine lokale DJ-Größe, die schon in den 1970er und -80er Jahren in den angesagten Clubs von Houston auflegte, seine vor allem mit Funk bestückten Mixtapes verkaufte und 1984 in South Park einen Plattenladen eröffnete. Er hatte bereits vereinzelte Songs, wie »White Horse« (1983) von Laid Back oder »Fresh Is The Word« (1985) von Mantronix, mit 33 RPM anstatt mit 45 RPM abgespielt, mit anderen Liedern gemixt und Gesangspassagen gedoppelt beziehungsweise »gechoppt«. Zu »choppen« bedeutet, zwei identische Schallplatten auf zwei Plattenspielern leicht zeitversetzt zueinander laufen zu lassen und unter Zuhilfenahme des Faders eines Mixers einzelne Song-Passagen doppelt beziehungsweise sich wiederholend abzuspielen. Vereinzelte Quellen nennen weitere DJs, die in Florida etwa zeitgleich die Technik des Verlangsamens von Tracks für sich entdeckten, Leute wie Disco Dave und die Discjockeys vom Jam Pony Express in Miami, die sogenannte »dragged mixes« erstellten.
Jahre später, Anfang der 90er Jahre, hatte Darryl Scott einen Günstling namens Michael Price. Der, schildert Darryl Scott in »The Untold Story«, wollte die Musik noch langsamer abspielen als sein Mentor und manipulierte dafür seinen Kassettenrekorder mit einem, nun ja, Schraubenzieher. »Was für eine Ironie, oder?!«, so Scott in Anspielung auf Screws Künstlernamen. Der Tageszeitung »Houston Press« gegenüber äußerte Scott 2001, dass Price und Screw sich später zusammentaten und gemeinsam auf Partys auflegten. Doch 1993 wurde Michael Price am Rande eines Glücksspiels getötet. Später, so Scott in »The Untold Story«, sei DJ Screw zu Scott in den Laden gekommen, um ihm seine neue Musik zu zeigen. »Als ich das hörte, drückte ich sofort wieder auf ›Stop‹, weil ich dachte, es gibt einen Bandsalat«, zitiert ihn 2010 »The Guardian«. »Ich fand, das war etwas zu viel.« DJ Screw hatte noch einen oben drauf gesetzt, die Musik mit einem Vier- oder Achtspurrekorder verlangsamt und damit mehr denn je das Tempo aus der Musik genommen. Auf seinem über Bigtyme Records erschienen Mixtape »3 N the Mornin‘, Part One« hat sich Screw übrigens selbst Laid Backs »White Horse« angenommen und es gescrewt. Ein Akt, der wohl als Ehrbekundung gegenüber DJ Darryl Scott gesehen werden kann.
In einem 1995 von Autor Bilal Allah geführten Interview für das HipHop-Magazin »Rap Pages« schildert DJ Screw persönlich, wie er zu seiner Technik fand. »Ich habe mit meinem langsamen Stil 1990 angefangen. […] Ich war zu Hause am Mixen, habe gekifft. Wenn du Gras rauchst, hast du keine Lust auf Hektik. Ich fing an, mit dem Pitch-Regler der Turntables herumzuspielen und schob ihn runter bis zum Anschlag. Ich fand, so hörte sich die Musik besser an.« Über seinen Sound sagt er: »Der Screw-Sound entsteht, wenn ich auf meinen Tapes Songs mixe, zu denen die Leute entspannen können. Langsame Tempi, damit du die Musik fühlen und verstehen kannst, was die Rapper sagen.« Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, sind seine eigenen Ansagen auf seinen Tapes doch oft derartig genuschelt, dass sie teilweise eher schwer zu verstehen sind. »Wenn ein Rapper etwas Wichtiges sagt«, so Screw weiter, »dann wiederhole ich es vielleicht zwei-, dreimal, damit du es auch mitbekommst, eben weil er dir was zu sagen hat. […] Aber der Screw-Sound entsteht auch, indem ich meine Partner anspreche, ihre Viertel ausrufe und solche Sachen.« Seine Partner bestehen aus einem Kollektiv, das im Laufe der folgenden Jahre als Screwed Up Click bekannt werden wird. Ein Haufen lokaler Rapper aus der näheren und weniger nahen Nachbarschaft von DJ Screw. Doch zunächst finden sich auf Screws Mixtapes vor allem bekannte Namen.
Die Mixtapes von DJ Screw spiegeln die Hits der Zeit wider. DJ Screw liebt Westcoast-Rap, der sich zuhauf auf seinen Tapes findet: von Spice 1 und 2Pac über Compton’s Most Wanted und Above the Law bis zu Dr. Dre und dem Rest von N.W.A. Sein Lieblingsrapper ist erklärtermaßen C-Bo aus Sacramento. Aber auch für Rapper aus Memphis, Tennessee (8Ball & MJG), aus Atlanta, Georgia (Kris Kross, Da Brat oder Goodie Mob), oder aus Chicago, Illinois (Do or Die), hat DJ Screw ein offenes Ohr, ebenso für Rap aus New York. Dem HipHop-Mekka huldigt er, indem er zeitgenössische Songs von B.I.G., Method Man, Nas, A Tribe Called Quest oder MC Lyte screwt, aber auch ältere Hits von Whodini, Run DMC, LL Cool J, Public Enemy oder Boogie Down Productions. Einer Überlieferung zufolge ist Screw auch der erste DJ, der Platten von Cash Money Records außerhalb von New Orleans, Louisiana, spielt. Nicht zu kurz kommen natürlich die Houston-Fraktion, allen voran die South Park Coalition, und Texas überhaupt. Mit UGK, den Underground Kingz aus Port Arthur, arbeitet er laut Bun B bereits zusammen, als er die Musik noch in normaler Geschwindigkeit mixt. Das Foto von Bun B, Pimp C und DJ Screw im Inlay des 1996 erschienenen UGK-Albums »Ridin’ Dirty« zeuge von dieser Zeit. Gemeinsam nehmen sie ein gleichnamiges Freestyle-Tape auf, das von Screw gechoppt und gescrewt wird. Gespickt sind die Screw-Kassetten aber auch immer wieder mit R&B, älteren Soul- und Funk-Liedern oder sogar Pop-Songs, sodass sich Phil Collins mit der gescrewten Version von »In The Air Tonight« an der Seite von Lil’ Kim, NWA oder Jay-Z in Screws Opus in bester Gesellschaft befindet.
Aber auf den Screw-Tapes kommen nicht nur seine persönlichen Musikvorlieben und Stimmungen zum Ausdruck. Er nimmt auch Aufträge an, sammelt die gewünschten Playlisten zettelweise in einem Schuhkarton und arbeitet sie nach und nach für 10,- US-Dollar das Stück ab. Der Preis steigt, wenn der Auftraggeber bestimmte Shout-outs von DJ Screw wünscht. Der Preis steigt weiter, wenn der Auftraggeber die Shout-outs selber vornimmt, wie Bun B 2016 in dem Monatsmagazin »Houstonia« schreibt. Screw arbeitet rund um die Uhr, bringt teilweise mehrere Tapes die Woche unters Volk. Die Mixtapes mit der gedrosselten Musik treffen den Geschmack der Dealer. »Ein paar Hustler fingen an, Screws Musik in ihren Autos zu pumpen«, zitiert die »Red Bull Music Academy« Al-D. Die Dealer sind die Trendsetter. Sie haben die tollsten Autos, sogenannte »Slabs«, bunt lackiert mit »candy paint« und mit seitlich weit herausragenden Felgen, den »swangers«. In ihren aufgemotzten Karren fahren sie gemächlich ihre Lieblingsmusik spazieren. Und die finden sie in den frühen 90ern in Form der Screw-Tapes, den 100- beziehungsweise 120-minütigen Maxell XL-II-Kassetten, die aufgrund ihrer grauen Farbe »gray tapes« genannt werden. Robert Earl Davis Jr. hat seinen ersten Hype.
Unterdessen etablieren sich in der Wohnung, in der Screw nach wie vor mit seinem Vater lebt, nächtelange Live-Sessions. Als LKW-Fahrer, der tagelang unterwegs ist, wird Robert Davis Sr. davon in der Regel nicht gestört. Der DJ legt die Beats vor, über die die Rapper freestylen. Die Resultate baut Screw in seine Mixtapes ein. Als erster Rapper, der auf einem Screw-Tape landet, gilt C-Note. Es folgen die übrigen Jungs von den Botany Boyz sowie Fat Pat und dessen Bruder Big Hawk, Lil’ Keke, Big Moe, Big Pokey, Al-D, Mike D und viele weitere, allesamt Rapper von der Southside. Sie rappen über das, was sie in ihrer jeweiligen Nachbarschaft sehen und erleben, über Konflikte mit der Polizei und über Freunde oder Verwandte im Gefängnis, über die »Slabs«, die sie gerne hätten, das Gras, das sie rauchen, den Syrup, den sie trinken, und den Spaß, den sie haben. Letzterer ist den Screw-Tapes deutlich anzuhören. »Die Freestyles gaben einen lebendigen und ungefilterten Einblick in eine Kultur, die sich im Umfeld der Rapper entwickelte und die sie spontan wiedergaben«, schreibt Autor Lance Scott Walker in seinem Screw-Portrait für die »Red Bull Music Academy«. Zwischendurch kommentiert Screw bei den Sessions, wer gerade kommt oder geht, nuschelt eine Ansage oder seine Lieblingsfloskel »You know what I’m sayin‘« ins Mikrofon; von besonderem Unterhaltungswert ist im Übrigen auch, wenn Screw in seinen Mixes die Punchlines von Rappern wie Jay-Z oder Eazy-E kommentiert. All das nimmt er in der Originalgeschwindigkeit der Songs auf und drosselt die Aufnahme erst im Nachhinein mit dem Mehrspurrekorder.
Derweil wird die Screwed Up Click immer größer. Als sich DJ Screw eines Nachts eine neue Platte anhört, ist er völlig aus dem Häuschen. Er weckt seine Freundin Nikki Williams. »Er sagte, Nikki, komm her, das musst du dir anhören!«, erzählt sie Walker. Es geht um den Song »Swangin’ & Bangin’« von Houston-Rapper E.S.G. »I fucked her last night, fried out, jammin’ my Screw tape«, rappt E.S.G. da. »Screw hatte Tränen in den Augen, so aufgeregt war er. […] E.S.G. war der erste, der Screws Name in einem Song erwähnte. Das war eine sehr große Sache.« DJ Screw hat seinen nächsten Buzz und die Screwed Up Click mit E.S.G. bald ein neues Mitglied. Ein Hype, der sich zunehmend darin äußert, dass sich vor Screws kleinem ebenerdigen Haus in dem Stadtteil Golfcrest, wo er inzwischen mit seiner Freundin wohnt, in den frühen Abendstunden lange Warteschlangen bilden, die sich durch die gesamte Nachbarschaft ziehen, wenn er seine Tapes verkauft. Die Polizei vermutet einen Drogenumschlagplatz und führt wiederholt Razzien durch – ohne je zu finden, wonach sie sucht.
Über das Houstoner Label Bigtyme Recordz von Russell Washington, der auch schon UGKs Debüt-EP »The Southern Way« veröffentlichte, erscheinen 1995 die ersten drei offiziellen Mixtapes von DJ Screw, die sich in ihrer Machart und Konzeption noch mal um einiges von seinen üblichen und im Wochentakt an den Mann oder die Frau gebrachten Tapes abheben, die zu einem Großteil aus mehr oder weniger schlicht aneinandergereihten, gechoppten und gescrewten Tracks bestehen. Dagegen sind »3 N The Mornin’, Part One« sowie »3 N The Mornin’, Part Two« und »All Screwed Up, Bigtyme Vol. II« komplexe Kunstwerke. Die Tracks sind hier nicht nur gechoppt und gescrewt. Vielmehr handelt es sich um teils vertrackt ineinander gemixte Instrumentale und Acapellas. »All Screwed Up, Bigtyme Vol. II« enthält etwa das grandiose »Tell Me Something Good«, für das Screw das Acapella von UGKs »Tell Me Something Good« mit Art of Noise’ »Moments of Love« unterlegt, oder auch den Kritiker-Liebling »My Mind Went Blank«, für das er Aaliyahs »Gangster Child-Remix« von »At Your Best (You Are Love)« mit den Vocals von Point Blanks »My Mind Went Blank« versieht. Doch Aufmerksamkeit weit über die Stadtgrenzen von Houston hinaus verschafft dem inzwischen 24-Jährigen insbesondere das in seiner Gesamtheit seichtere Mixtape »3 N The Mornin’, Part Two« mit dem zum Untergrund-Hit avancierenden Track »Pimp Tha Pen«. »I’m draped up und dripped out, know what I’m talkin’ about / Three in the mornin‘, gettin‘ the gat out the stash spot«, rappt Lil’ Keke da etwa die später viel zitierten beziehungsweise gesampleten Worte. Die Screw-Tapes, so bekräftigen es viele seiner Zeitgenossen, sind seinerzeit wie das Radio. Sie sind eben gewissermaßen das Radio. Mit DJ Screw als Sender. Was dort gespielt wird, das zählt. Das weckt nicht nur die Begierde von immer mehr Rappern, die sich mit einem Cameo auf einem Screw-Tape einen Namen machen wollen, sondern auch die der Major-Labels, die DJ Screw gerne unter ihren Fittichen sähen. Doch der lehnt dankend ab. Entweder alle von uns oder keiner, soll seine Begründung gewesen sein.
1996 landet DJ Screw seinen größten Hit und das ausgerechnet mit einem über 35 Minuten langen Song voller Freestyle-Raps. Der gescrewte Beat ist im Original das von Jermaine Dupri produzierte, mit einem Sprach-Sample von B.I.G. versehene und im selben Jahr erschienene Lied »Da Streets Ain’t Right« von Kris Kross. Der Song heißt »June 27« und ist nach dem Geburtstagsdatum von Screws Kumpel DeMo benannt, der sich auf dem Beat zur Feier des Tages neben den anderen Rappern Big Moe, Bird, Key-C, Yungstar, Big Pokey, Kay-Luv und Haircut Joe die Klinke in die Hand gibt. Neben dem zugrundeliegenden grundpositiven Vibe sind es vor allem die gesungenen Refrains von Big Moe und die Flows von Screw-Tape-Debütant Yungstar, die den Track zu etwas Besonderem machen. In die Geschichte eingehen wird auch Big Pokeys Line »Sittin’ sideways, boys in a daze«, die neun Jahre später für den Chorus von Paul Walls Hit-Single »Sittin‘ Sidewayz« verbraten wird. »Es wurde das sich am besten verkaufte Screw-Tape aller Zeiten, wahrscheinlich ist es inzwischen Platin gegangen«, schreibt Walker. »Es ist ein Zeugnis der Magie, die um Screw herum geschah.« Rund anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung des »June 27«-Tapes eröffnet DJ Screw am 2. Februar 1998 in South Park, Houston, seinen Laden »Screwed Up Records & Tapes«, in dem ausschließlich Screw-Tapes verkauft werden. Aus den »gray tapes« werden transparente und professionell beschriftete Kassetten. Der Preis für seine Tapes steigt geringfügig an. Denn nun zahlt Screw auch Steuern. Und schafft Arbeitsplätze. Einer besorgt die Massen an Leerkassetten, ein anderer repariert beschädigte Screw-Tapes und so weiter.
Während Rapper aus der Screwed Up Click erste Plattenverträge bekommen und später zu Stars werden, bleibt DJ Screw bescheiden. Obwohl er dem Vernehmen nach sehr gut mit seinen Mixtapes verdient – verschiedenen Quellen zufolge bis zu teilweise mehrere Tausend Dollar am Tag –, gönnt er sich wenig. Er hat lange kein Auto, trägt vorzugsweise Dickies-Hosen und Fubu-Shirts und seine Schuhe so lange, bis seine Füße an den Seiten rauslugen, wie Hall schreibt. »Man sah ihm nicht an, dass er im Rap-Game war«, zitiert die »Houston Press« Anfang 2001 Screws Cousin Chris Cooley. »Er verhielt sich wie jemand, der an einer Tankstelle arbeitet, als hätte er einen ganz normalen Job. Und wenn er dann jemand Großes sah, einen Rapper oder so, dann freute er sich wie ein Fan. Wann immer ihm jemand sagte, er sei ein Star, zeigte er nur in den Himmel und sagte: ›Nein, Mann, die Sterne sind da oben.‹« Er ist sparsam, aber großzügig. »Manchmal riefen ihn Leute aus dem Gefängnis an, denen er Geld schickte«, zitiert das »Texas Monthly« Screws Mutter. »Und wenn ich was dazu sagte, antwortete er, die wollen nur reden, Mama. Er konnte nicht ›Nein‹ sagen.«
Die Titel seiner Tapes muten oftmals poetisch an. Ein Mixtape hat DJ Screw mit »Wineberry Over Gold« betitelt. Ein Ausdruck seines zunächst offenbar nicht besonders ausgeprägten Geschäftssinns? Den Bootleggern, die sich zunehmend an seinen Tapes bereichern, und den DJs, die ihrerseits anfangen, gescrewte Mixtapes rausbringen, weiß er jedenfalls erst mal nicht mehr entgegenzusetzen als eine Ansage, die er 1995 dem HipHop-Magazin »The Source« gegenüber macht: »Ein Screw-Tape ist es nur, wenn ich es gescrewt habe.« Umso stärker ausgeprägt ist sein Arbeitsethos. »Er hat nie relaxt«, sagt seine Freundin Nikki Williams im Gespräch mit der »Red Bull Music Academy«. »Screw war es egal, ob du seinen Namen erwähnt hast oder nicht. Solange er etwas machte, für das er Leidenschaft empfand, kümmerte es ihn nicht, ob er damit Geld verdiente. Er machte nie eine Verschnaufpause. Er wollte immer nur Musik machen.« Wohl nicht ohne Grund heißt sein 1998 über Jam Down Records erscheinendes Mixtape »All Work, No Play«. »Ich kenne niemanden, der so bescheiden war wie Screw«, befindet Bun B 2015 im Interview mit dem »Billboard«-Magazin. »Ich meine, ihm lag die ganze Stadt zu Füßen, alle Rapper flehten ihn an, eine Plattenfirma zu gründen und sie rauszubringen, aber er machte das alles nicht für Geld oder Fame. Screw liebte die Musik.«
Bun Bs UGK-Kompagnon Pimp C soll DJ Screw mal als den Kool Herc von Texas bezeichnet haben. Abwegig ist das nicht. Während die New Yorker HipHop-Orthodoxie für den Dirty South seinerzeit höchstens ein Naserümpfen übrig hat, entwickelt DJ Screw davon unbeeindruckt mit seinem »Chopped & Screwed«-Stil eine eigene Version der Kultur, die dem Süden nach dem Miami Bass aus Miami, Florida, den Geto Boys und dem Rap-A-Lot-Imperium in Houston, Texas, den Schöpfungen von Tausendsassa Jermaine Dupri sowie Outkast aus Atlanta, Georgia, zu nachhaltiger Bedeutung verhelfen wird, so wie etwa zeitgleich Three 6 Mafia oder 8Ball & MJG aus Memphis. Vielleicht war DJ Screw sogar so was wie der Afrika Bambaataa von Houston. Da ist zunächst das Grundprinzip: ein DJ, der einen Haufen MCs um sich schart und diese in Live-Sessions zum Freestylen animiert, also HipHop in Reinform. Und dann ist da noch das Mantra »Peace, Unity, Love and Havin‘ Fun«, das der Zulu-King, der die vier Elemente des HipHop zusammengefügt und damit der Gang-Gewalt Einhalt geboten hat, rezitierte und Jahre später im Umfeld von DJ Screw ihren Widerhall findet. »Ohne Screw wäre ich wahrscheinlich auf der Straße, im Gefängnis oder tot«, zitiert das »Texas Monthly« C-Note.
Viele der Rapper der Screwed Up Click wohnen in verschiedenen Stadtteilen. Doch bei DJ Screw kommen sie zusammen. Darunter auch ehemalige Kleinkriminelle; manche sind es noch. In der DVD-Dokumentation »Soldiers United for Cash« sagt er wenige Wochen vor seinem Tod mit Blick auf Freunde, die getötet wurden oder im Gefängnis landeten, über seine Zukunftspläne: »Ich mache weiter meine Musik und versuche ein paar dieser Cats aufzuwecken.« Wenn es unter seinen Besuchern Ärger gibt, sorgt Screw dafür, dass sie sich entweder wieder vertragen oder gehen müssen, schreibt Walker. »Screw empfand niemandem gegenüber Hass«, sagt Will-Lean von den Botany Boyz in einem Beitrag der Universität Houston. »Wenn du auch mit jemandem auf der Straße Beef hattest, bei Screw zu Hause gab es keinen Beef. Screw brachte die Leute zusammen.« Was die Rapper eint, ist, dass sie allesamt auf der Southside der Stadt leben. Und die rivalisiert mit der Northside. Eine Rivalität, die sich bei den MCs gelegentlich in Spitzen äußert. An anderer Stelle aber teilweise auch in Gewalt und Raubüberfällen mündet. Der Legende nach gerät das erste Screw-Tape nur dadurch auf die Northside, weil irgendwann ein Auto von der Southside gestohlen wird, in dessen Tapedeck sich eine seiner Kassetten befindet. »Screw und ich führten mal ein Gespräch, als diese Northside-/Southside-Sache gerade einen Höhepunkt erreichte«, zitiert das »Billboard«-Magazin 2015 OG Ron C von der Northside. »Screw sagte, er habe kein Problem mit der Northside. Er spreche zwar nur für sich, nicht für die Rapper oder so, aber er habe kein Problem, und das war cool. Das war eines meiner schönsten Erlebnisse mit DJ Screw.«
In den wenigen Videoaufnahmen, die es von DJ Screw gibt, wirkt er meist etwas entrückt. Das fällt besonders in einem Video auf, in dem er neben seinen ungleich geistesgegenwärtiger, redseliger und vitaler wirkenden Freunden Al-D, Big Hawk und KoldJack in Erscheinung tritt. Ist er da breit vom Syrup? Oder ist er einfach nur ein introvertierter Typ? Vielleicht beides. Zeitgenossen beschreiben ihn als friedliebenden Menschen und stillen Tüftler. An Hinweisen auf einen stattlichen Syrup-Konsum mangelt es aber auch nicht. Im Booklet seines Mixtapes »3 N The Mornin‘« gibt es eine Anleitung, wie in »zwei einfachen Schritten« ein Screw-Tape zu hören sei. »1. Triff dich mit deiner Clique und bring dich auf ein anderes Level, indem du Syrup, Gin oder sonst was trinkst und Gras rauchst; was auch immer dich auf dieses Level bringt. 2. Hau das Tape rein und get screwed out!!!« Im selben Jahr, in dem das Mixtape erscheint, distanziert sich Screw, wie später auch noch bei anderen Gelegenheiten, von dem Bild, wonach seine Musik untrennbar mit Drogen im Allgemeinen und Syrup im Besonderen verknüpft sei. »Manche Leute denken, dass ich meine Tapes für Drogenfreaks oder so mache. Aber meine Tapes sind für jedermann«, sagt er im »Rap Pages«-Interview. Nichtsdestotrotz frönen DJ Screw und die Screwed Up Click selbst durchaus munter dem Syrup und machen in ihren Songs daraus auch keinen Hehl. »Sippin‘ Codeine« heißt ein Screw-Tape, »Syrup & Soda« ein anderes, »Syrup Sippers« ein weiteres.
Tatsächlich scheint das Lean, wie der Syrup auch genannt wird, dem Genuss der Screw-Musik noch einmal eine besondere Würze zu verleihen. »Es ist alles«, antwortet Mike D dem »Texas Monthly« auf die Frage, wie wichtig Syrup für die Screw-Musik sei. Ein anderes, namentlich nicht genanntes Mitglied der Screwed Up Click, sagt: »Mit Syrup hört sich die Musik einfach perfekt an.« Der seinerzeit 43 Jahre alte Autor Michael Hall unterzog sich für sein Portrait von DJ Screw einem Selbstexperiment, nahm den Hustensaft wie üblich mit Limonade gemischt zu sich und legte dann den Screw-Klassiker schlechthin auf, »June 27«. Die Rechnung ging offenbar auf. »Ich fühlte es. Alles ergab Sinn«, schreibt er. Richtig ist aber auch, dass der Syrup nicht von Anbeginn der Screw-Musik eine Rolle im Leben ihres Schöpfers gespielt hat. »Als ich Screw das erste Mal traf, trank er Bier«, erzählt Big Hawk in »The Untold Story«. Will-Lean sagt im Gespräch mit der »Red Bull Music Academy«: »Mit Syrup haben wir vielleicht Mitte ‘94 angefangen. Viele denken, Screw hätte seine Musik so langsam gemacht, weil wir Syrup tranken. Aber das ist falsch! Wir tranken Olde E 40s.« Fakt ist, Syrup ist ein uralter Bestandteil der Straßenkultur von Houston. Schon die Großväter der Screwed Up Click und die Musiker zur Hochzeit des Blues tranken codeinhaltigen Hustensaft, den sie noch mit Bier oder Wein vermischten im Gegensatz zu ihren Enkeln, die die verschreibungspflichtige Medizin mit Sprite oder anderer Limonade vermengen.
Ende der 90er Jahre legt DJ Screw zunächst doch noch ehrgeizige Geschäftsambitionen an den Tag. Er will landesweit Läden eröffnen und vergrößert sein Studio, indem er es in ein Lager in Southwest, Houston, verlegt. Er hat vor, eigene Beats zu produzieren. Ein erster Schritt in diese Richtung kann in dem 1998 erschienenen Album »Screwed For Life« gesehen werden. Dafür schließt sich Screw mit Fat Pat, Big Hawk und Kay-K zu der Gruppe Dead End Alliance zusammen und tritt dabei im Wesentlichen als Co-Executive Producer in Erscheinung. Doch wenig später hat Screw einen schweren Verlust zu verkraften. Sein enger Freund Fat Pat, der erste Star der Screwed Up Click, der gerade sein Solo-Debütalbum »Ghetto Dreams« fertiggestellt hat, wird im Februar 1998, zwei Tage, nachdem Screw seinen ersten Laden eröffnet, erschossen. »Die meisten Leute, die Screw kannten, sagen, er habe Pats Tod nie verkraftet«, schreibt Walker.
Screw zieht nach Missouri City, einen Vorort von Houston. Der nur 1,70 Meter große DJ nimmt immer mehr an Gewicht zu, während seine Produktivität abnimmt. Zwar gibt er 1999 im »Murder Dog« Magazine noch an: »I’m gonna screw the world up. It’s screwed up, but it ain’t finished.« Doch im selben Jahr soll er nur noch ein Dutzend Tapes veröffentlicht haben, im Jahr 2000 noch weniger. Nicht zuletzt sein ungesunder Lebensstil – der Verzehr von Übermengen seines geliebten Fried Chickens, wenig Bewegung und lange Nächte, vom Syrup ganz zu schweigen – fordert zunehmend seinen Tribut. Mehrmals liefern ihn seine Freundin Nikki und sein Freund Al-D mit Verdacht auf Herzinfarkt in die Notaufnahme ein. »So wie Screw die Musik verlangsamte, so verlangsamte er auch sich selbst mit verschiedenen Substanzen, insbesondere Codein«, schreibt Hall. Am 16. November 2000 wird Robert Earl Davis Jr. alias DJ Screw tot im Badezimmer seines neuen Studios aufgefunden. Er wurde nur 29 Jahre alt.
Seither wird das über 350 Mixtapes umfassende Werk von DJ Screw von der Droge Syrup überschattet. Patricia Restrepo, die Kuratorin des Contemporary Arts Museum of Houston, sieht darin sogar Rassismus. »Ich halte es für eine Herabsetzung seines Könnens, nicht anzuerkennen, dass er ein avantgardistischer Künstler war, der all diese Lieder improvisiert hat, ich halte das für ein sehr rassistisches Rendering seines Talents«, so Restrepo im »032c«-Magazin. »Ja, Lean war Teil dieser Kultur, aber Screw war eine kreative Kraft, die nicht darauf beschränkt werden sollte.« Die Museumsausstellung »Slowed and Throwed« trägt ihren Teil dazu bei, Screws Werk ins rechte Licht zu rücken. Viele seiner Freunde sehen die Ursache für den Tod von DJ Screw indes nicht in dessen Syrup-Konsum und verweisen auf seine Herzprobleme, auf Stress und seine ungesunde Lebensweise. Doch die Realität spricht eine andere Sprache. Einige Wochen nach dem Tod von DJ Screw zitiert das »Texas Monthly« aus dem Autopsiebericht. Demnach starb Screw an einer Codein-Überdosis, sein Blut wies zudem Spuren von Valium und PCP auf. Er bleibt nicht das einzige prominente Todesopfer des Syrups. Auch beim Tod von Pimp C 2007 soll Codein eine Rolle gespielt haben. So auch im Todesfall von Screwed Up Click-Mitglied Big Moe (1974-2007).
Screw ist tot, doch sein Vermächtnis besteht fort. Aus der Screwed Up Click gehen gleich mehrere Rap-Stars, wie beispielsweise Lil’ Flip oder Z-Ro, hervor. Angehörige von DJ Screw führen sein Geschäft »Screwed Up Records & Tapes« bis heute als Familienbetrieb weiter und Screws »Chopped & Screwed«-Technik ist sowieso nicht mehr aus der Welt zu denken. Zunächst ist es ausgerechnet die Northside, die Screws Machart mit am Leben erhält. Schon Ende der 90er Jahre fingen Michael »5000« Watts und OG Ron C an, Screws Stil zu adaptieren. Ihr Label Swishahouse schließt zumindest bis zu einem gewissen Grad eine Lücke, die durch Screws Tod entstanden war, und bringt mit Künstlern wie Slim Thug oder Paul Wall Stars hervor, die mit der Musik von DJ Screw aufgewachsen sind und an dieser Tradition festhalten. Von den zahlreichen Mitgliedern der Screwed Up Click ganz zu schweigen. 2009 verneigt sich der kanadische Rapper Drake vor Screw in Form seines Songs »November 18th« mit einer eigenen Interpretation von »June 27«. Anfang der 10er Jahre ist es A$AP Rocky aus Harlem, der sich freizügig an Elementen von Screws Stil bedient, dem »originator« damit huldigt und somit zur längst überfälligen Versöhnung von HipHops Geburtsstätte New York mit dem über Jahrzehnte belächelten Dirty South beiträgt. 2018 erweist Houston-Rapper Travis Scott dem verstorbenen DJ mit dem Track »R.I.P. Screw« die Ehre. Auch in Deutschland kommen spätestens seit Anfang der Nullerjahre immer wieder Rapper, DJs und Produzenten auf den Geschmack, wie sich an ihren oft als »zerhackt und runtergeschraubt« bezeichneten Songversionen zeigt. Erst vor wenigen Monaten hat der Silk Mob eine »mobbed & silked«-Fassung ihres Albums veröffentlicht.
Aber die Screw-Musik findet nicht nur im HipHop immer mehr Anhänger. Inzwischen schlagen sich Anleihen des »Chopped & Screwed«-Stils auch in genrefremden Musikrichtungen wie Witch House, Vaporwave, Cumbia, Country und natürlich im Pop nieder. Zudem finden sich seit einiger Zeit unter dem Hashtag »Slowed & Reverb« allerhand Remixe von Songs, indem sie verlangsamt und mit Hall versehen werden. »Durch das langsame Tempo entsteht ein sehr intimes, persönliches Klangbild, welches Erwartungen umkehrt und somit einen neuen Blick auf das Werk ermöglicht. […] Vielen Hörer*innen hilft der entspannte Vibe der Remixes außerdem bei Depressionen und Angstzuständen«, heißt es in einem im Februar erschienenen Beitrag des »SRF« (Schweizer Radio und Fernsehen), bevor die Brücke zu DJ Screw als Urheber dieses Stils geschlagen wird.
Ein Großteil des Nachlasses von DJ Screw ist inzwischen an der Universität Houston archiviert. Erneute Aufmerksamkeit erfährt DJ Screw im Frühjahr 2020, als der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd bei einer Festnahme von einem weißen Polizisten erstickt wird, was weltweit Schlagzeilen macht und Massenproteste gegen Rassismus nach sich zieht. Floyd war Mitglied der stetig wachsenden Screwed Up Click und als Rapper als Big Floyd auf einzelnen Screw-Tapes vertreten. Es war nicht der einzige tragische Todesfall eines Mitglieds der Screwed Up Click. Mehrere weitere Mitglieder wurden erschossen oder kamen auf andere Art und Weise viel zu jung zu Tode. Big Hawk (1969-2006) wurde wie sein Bruder Fat Pat erschossen, Mr. 3-2 (1972-2016) ebenfalls, Big Mello (1968-2002) kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
DJ Screw wäre am 20. Juli 50 Jahre alt geworden. Das Ausmaß des Erfolges seiner Musik, die sich über die ganze Welt verbreitete, hat er nicht mehr erlebt. In diesem Jahr deutet sich an, dass sein runder Geburtstag noch mal ungleich mehr Aufmerksamkeit auf sein Erbe lenken wird, als es im Vorjahr anlässlich seines 20. Todestages der Fall war. 2020 wurde die »Slowed and Throwed«-Ausstellung eröffnet, begleitet von mehreren Podiumsdiskussionen mit Angehörigen, Freunden und sonstigen Wegbegleitern von DJ Screw. Mit »All Screwed Up« erschien ein Kurzfilm, der einen Lebensabschnitt von DJ Screw nachzeichnete. Für 2021 steht eine Reihe von Veröffentlichungen an. Will-Lean hat eine Tribut-Platte angekündigt, mit »Chopped & Screwed: The Final Mixtape« steht eine neue Dokumentation ins Haus und Autor Lance Scott Walker will eine Biografie über DJ Screw veröffentlichen.
Und dann ist da noch das umfangreiche Opus von Robert Earl Davis Jr. alias DJ Screw selbst, dessen Erschließung im Detail einer kleinen Lebensaufgabe gleichkommt. Es ist eine musikalische Reise vor allem durch die 90er Jahre. Der Hörer erhält die Chance, sämtliche Klassiker jener Zeit noch einmal neu kennenzulernen, und zwar in der Chopped & Screwed-Version. Etliche weitere Tracks, besonders aus dem vom Gros der Rap-Medien lange vernachlässigten Dirty South, gilt es gänzlich neu zu entdecken und das gleich in zweifacher Ausführung: erst chopped & screwed und hinterher im Original. Das Vermächtnis von DJ Screw ist ein Geschenk. Es lädt die Hörenden dazu ein, die (HipHop-)Welt mit anderen Ohren hören.