King Kolera Der »conscious« Straßenrapper

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Falls HipHop je weggewesen sein sollte, jetzt ist er wieder zurück. Und zwar in Person von King Kolera. Nicht ohne Grund hat der Hamburger sein Album an HipHops 50. Geburtstag veröffentlicht. Mit »BantuGod« hat King Kolera alias Pachanga Papi nicht weniger als ein Epos abgeliefert, das vor gruseligen »Ganovengedichten« und smartem Street Knowledge, Five-Percenter-Terminologie und afrikanischer Geschichte und Spiritualität sowie von detailverliebten HipHop-, Film- und sonstigen Referenzen nur so strotzt. Höchste Zeit für ein Kennenlernen.

Ende September in Hamburg-Billstedt. An einem sonnig-warmen Dienstagnachmittag kommt King Kolera – gekleidet in schwarzem Hoodie, roten Shorts, grünen Socken und senfgelb-braunen Nike-Sneakern – leichten Schrittes und pünktlich auf die Minute zu dem verabredeten Treffpunkt an der Billstedter Hauptstraße. Dort hat sich der gleichermaßen schlanke wie hochgewachsene 35-Jährige für das ALL GOOD-Gespräch eine kleine afghanische Bäckerei ausgesucht. Er bestellt sich eine Pizza Margherita, dazu eine scharfe Sauce. An einem Tresen am Fenster nimmt der Pescetarier Platz, legt seine Brille ab. King Kolera erweist sich als ruhiger und offener Gesprächspartner, der stets den Augenkontakt zu seinem Gegenüber sucht. Beim Eintauchen in seine Geschichte gerät das rege Treiben in und vor der Bäckerei zu bloßem Hintergrundrauschen.

»Dank God for Kool Herc!« – »KOOLHERC«

»Das kann nicht euer Ernst sein!«, sagt King Kolera auf »BantuGod«, aber auch auf älteren Releases immer wieder und hörbar ungläubig. Er meint damit bestimmten HipHop, der für dope gehalten werde, aber in Wirklichkeit alles andere als dope sei, wie er, darauf angesprochen, erklärt. Und während hierzulande der diesjährige 50. Jahrestag von HipHop weitgehend sang- und klanglos an der »Szene« und ihren geschichtsvergessenen Protagonisten vorbeigeht, setzt King Kolera gleich mehrere Zeichen für die Kultur. Von seinem »BantuGod«-Album droppt er vorab als erste Single den Song »KOOLHERC«, mit dem er sich vor dem Pionier der Rap-Musik verneigt, der am 11. August 1973 in der New Yorker Bronx mit seiner Schwester die wegweisende »Back to School«-Jam veranstaltete: »Dank Gott für den Kokastrauch und Kool Herc!«, rappt King Kolera. Es war dieser Augusttag, der heute gemeinhin als HipHops Geburtstag gilt. Exakt 50 Jahre später veröffentlicht King Kolera sein epochales Album »BantuGod«.

In einer Zeit, in der viele Rap-Songs nicht länger sind als zwei Minuten, auch ganze Alben immer kürzer werden und ein inhaltliches Konzept dahinter nicht immer zu erkennen ist, schert sich King Kolera um etwaige an Algorithmen orientierten Marketingstrategien einen feuchten Kehricht und releast mal eben ein knapp zweistündiges Album mit Tracks, die auch mal sieben Minuten lang sein können. Auf »BantuGod« nimmt er den Zuhörer mit auf eine Reise durch seine Welt, die von dem Madrider Stadtbezirk Carabanchel über die angolanische Hauptstadt Luanda bis in den Hamburger Osten reicht.

King Kolera breitet auf »BantuGod« sein Leben aus, das sich zum Großteil auf der Straße abgespielt hat. Mit seiner mitunter jungenhaft anmutenden Rap-Stimme schildert er in ausgeprägt bildhaften Texten und mit oft scheinbar willkürlich aneinandergereihten Assoziationen seine Geschichte, unterlegt von einem soullastigen und von schrägen Loops geprägten Klangteppich, der unschwer den Einfluss von Wu-Tang, vor allem von Ghostface Killah und Raekwon, und Mobb Deep erkennen lässt. Die internationalen Produzenten der eingekauften oder von Freunden zur Verfügung gestellten Beats bleiben im Dunkeln, seien aber auch, wie schon auf seinen Vorgängeralben, auf denen er vereinzelt selbst Tracks produziert hat, »keine big names«, wie er sagt.

Aber King Kolera arbeitet sich auf »BantuGod« nicht nur umfassend an seinen Straßenthemen, sondern auch an Geschichte und Spiritualität, konkret etwa an seinen afrikanischen Wurzeln und am einstigen Ndogo Reich vom Stamm seiner Vorfahren mütterlicherseits im heutigen Angola (»BABY JESUS«), an Weisheiten der Five Percent Nation (»SUPREME ROYALTY«, »DON QUIJOTE«, »KOOLHERC« u.a.), an der Gesellschaft (»ARMUT IN DEUTSCHLAND«), seinem Geburtsjahr (»1987«) und persönlichem Kampf gegen Windmühlen (»DON QUIJOTE«) oder seinem Traum von der ersten Liebe (»ARABELLA«) ab.

Alles gespickt von allerhand Skits, die beispielsweise aus einem in Deutsch, Spanisch und in Kimbundu gehaltenen Wortbeitrag seiner Mutter, Predigten des Hamburger Pastors Victor Akko, Sequenzen aus Filmen wie »Fresh« (1994) von Boaz Yakin oder der ab 2019 ausgestrahlten Hulu-Serie »Wu-Tang: An American Saga« und Reden des – nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Äußerungen umstrittenen – Nation-of-Islam-Anführers Louis Farrakhans bestehen. Eine ausgesprochene Detailverliebtheit, die auch in King Koleras atmosphärischen Videos sowie im Cover-Artwork zum Tragen kommt. Für Letzteres, das auf einem Foto basiert, das ihn als Baby auf dem Arm seiner Mutter zeigt, hat der bekennende Udo-Lindenberg-Fan etwa den Designer CXP alias Manuel Concepcion gewinnen können, der auch schon Cover für Sean Price, Conway the Machine oder Ghostface Killah entworfen hat.

Kurzum: »BantuGod« ist wie ein Film, der nie langweilig wird, weil es ständig etwas zu entdecken gibt, und knüpft in seiner Gesamterscheinung, ohne dass dies sein Alleinstellungsmerkmal schmälert, nahtlos an Alben wie die bis heute sträflich unterbewertete D-Flame-Platte »Daniel X – Eine schwarze deutsche Geschichte« (2002) an. Den Titel »BantuGod« hat sich King Kolera übrigens ausgedacht. Ein Bantu God, erklärt er, stelle ein »Wunderkind« dar, einen »spirituellen Avatar«, der geboren werde, »um eine Gesellschaft zu leiten und die Menschheit zu shiften« – unter Zuhilfenahme von traditionell-spirituellen Initiationsschulen und Lehren wie denen der Five Percent Nation. King Koleras Mittel zum Zweck sei darüber hinaus vor allem die Musik. Doch der Weg zum Bantu God war alles andere als leicht.

Wurde in Chaos geboren, kaputte Familienstruktur – »ESSENSGUTSCHEINE«

King Kolera kommt 1987 in Madrid als Sohn einer angolanischen Freiheitskämpferin der MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) und eines spanischen Soldaten mit deutschen Wurzeln unter dem Namen Wilder William Navarrete da Silva zur Welt. Seine Kindheit ist von Wohnortswechseln zwischen Spanien und Deutschland, Armut und häuslicher Gewalt geprägt. Als Nesthäkchen verbringt er drei Jahre seiner Kindheit bei den wohlhabenden Großeltern väterlicherseits im spanischen Salamanca, nach der Trennung seiner Eltern zieht er im Alter von sieben Jahren wieder zu seiner Mutter und seinen Geschwistern in Madrid. Sie hat mehrere Jobs gleichzeitig, um sich und ihre fünf Kinder durchzubringen. Das Jüngste schwänzt die Schule, treibt sich viel auf der Straße rum, fängt an zu klauen und entdeckt irgendwann Graffiti für sich. Aus seinem damaligen Graffitinamen wird später sein Rappername: King Kolera.

Sein sechs Jahre älterer Bruder und ein paar Cousins fangen an zu rappen, das findet er »fresh«, mit etwa neun Jahren versucht er sich, in spanischer Sprache, selbst darin. Prägen wird ihn in dieser Zeit die Straßenrap-Crew CPV (Club de los Poetas Violentos) aus Madrid. Außer Rap sind es Pop-Musik, R’n’B, Funk, Rock der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre sowie Semba, eine traditionelle Musik aus Angola, die im Elternhaus zu hören sind. Der Vater kommt irgendwann zurück, für den jungen Wilder William folgt eine »sehr traumatische Zeit«, wie er sagt, die Eltern trennen sich erneut. Die Mutter zieht mit den Kindern nach Hamburg, da ist er elf Jahre alt. In »ESSENSGUTSCHEINE«, einem herzzerreißenden und von Charnells/4 4 Da Mess´ Straßenrap-Klassiker »Mein Leben« (1997) inspirierten Track vom »BantuGod«-Album, der auch eine Hommage an seine Mutter ist, schildert King Kolera seine schwere Kindheit schonungslos: »…Mama gab ihr Bestes, doch es reichte nicht / Nachts in Bars arbeiten und morgens putzen / Zu Hause traumatisierte Kinder, die nach Liebe suchten / Sexueller Missbrauch bis zu Gewalt im Haus / Hatten alle Probleme, such‘ dir gern eins aus!«

In der grauen Hansestadt fremdelt er mit der deutschen Kultur, die so anders ist als die spanische und angolanische, und macht da weiter, wo er in Madrid aufgehört hat: auf der Straße und mit HipHop. Aber nun mit anderen Prioritäten: kein Graffiti mehr, dafür mehr Rap – und mehr Straßenleben. Als er mit 16 Jahren mit seinen Freunden den Mafia-Film »Carlitos Way« (1993) von Brian De Palma sieht, geben sie ihm den Spitznamen Pachanga, der auch in seiner Musik immer wieder fällt. Die Bezeichnung Pachanga beziehungsweise Pachanga Papi oder auch Mami, erklärt er, habe ihren Ursprung in Südamerika und stehe für göttliche Energie, die eine Person an andere weitergebe. Seine Mutter will ihre Kinder davor bewahren, auf die schiefe Bahn zu geraten, nicht zuletzt, weil ihre Brüder in Madrid groß ins Drogengeschäft verwickelt waren.

Doch 2004 droht King Kolera eine mögliche Gefängnisstrafe für Vergehen, über die er sich ALL GOOD gegenüber nicht näher äußern möchte. Er taucht ab und zieht zu Verwandten mütterlicherseits in Manchester, England. Dort kommt er etwas zur Ruhe, macht eine Ausbildung in Music Technology. Inzwischen rappt King Kolera – der Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Englisch spricht und derzeit seine Muttersprache Kimbundu lernt – auf Deutsch und nimmt erste »Mixtapes« auf, die er auf heimlichen Besuchen in Hamburg unter die Leute bringt. Sein erstes »Tape« heißt »Kein Gegenmittel« und erscheint um 2006 auf selbstgebrannter CD.

Zum Glück kriegt‘ ich Knowledge of Self, sonst wär mein Trigger-Finger schlimmer – »SUPREME ROYALTY«

In England findet King Kolera auch zu Knowledge of Self, also zu der Selbsterkenntnis, als Schwarzer Mann ein Gott zu sein, ein Godbody, Gott in Menschengestalt. Die Formulierung Knowledge of Self geht auf Elijah Muhammad (1897-1975), den langjährigen Kopf der Nation of Islam, die Bezeichnung Godbody auf die Five Percent Nation zurück. »Ich war immer ein Denker, habe mich für Religion und Geschichte interessiert«, sagt King Kolera. Er sucht das Gespräch, lernt in Manchester ein paar Schwarze Muslime mit einem, wie er sagt, »erweiterten Verständnis des Koran« kennen, sieht sich Film-Dokumentationen an, beginnt zu lesen: die Autobiografie von Malcolm X, Bücher von Elijah Muhammad und Malachi Z. York, dem Gründer der Nuwaubian Nation. »Das hat mir die Augen geöffnet«, sagt er. Während sich prominente US-Rapper wie Chuck D von Public Enemy, Ice Cube oder Jay Electronica zur Nation of Islam hingezogen fühlen oder fühlten, stehen oder standen andere wie Jay-Z, MF Doom, Prodigy von Mobb Deep oder Posdnuos von De La Soul den Nuwaubians nah oder waren Teil von ihnen.

Über die Nation of Islam jedenfalls erfährt King Kolera eines Tages von der Five Percent Nation. »Irgendwann bin ich einfach aufgewacht und war kein Eighty-Fiver mehr«, erzählt er, »da war ich so 18, 19 Jahre alt.« In der Lehre der Five Percent Nation, die 1964 in Harlem, New York, aus der Nation of Islam hervorging, sind 85 Prozent der Menschheit taub, stumm und blind, zehn Prozent kennen die Wahrheit, aber unterdrücken die 85 Prozent, während fünf Prozent die Wahrheit kennen und rechtschaffen sind: die Five Percenter. Sie wissen, dass der Schwarze Mensch Gott und der weiße der Teufel ist und versuchen, den 85 Prozent die Augen zu öffnen. Die Five Percent Nation, auch bekannt als Nation of Gods & Earths, hat HipHop maßgeblich geprägt, vor allem im New York der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre. Mitglieder wie das World Famous Supreme Team, Rakim, Big Daddy Kane, Lakim Shabazz, Brand Nubian, Poor Righteous Teachers, Busta Rhymes oder der Wu-Tang Clan etablierten Five-Percenter-Terminologie, wie die Grußformel »Peace«, »Word« oder »cipher«, im HipHop.

Jetzt bin ich der God, Digga! – »BABY JESUS«

Mit dem neuen Wissen über die Five Percent Nation hört King Kolera HipHop nun mit anderen Ohren. »Ich habe meine ganze Jugend über Wu-Tang gehört, plötzlich habe ich all ihre Texte wirklich verstanden«, sagt er. Er selbst sieht sich zwar als Gott beziehungsweise Godbody, aber nicht als Teil der Nation of Gods & Earths. »Ich bin von ihr aber schon krass beeinflusst und jemand, der versucht, sein Leben nach diesen Prinzipien zu leben.« Das bedeutet für ihn vor allem, Verantwortung für sich und sein Tun zu übernehmen und righteous zu sein, also rechtschaffen. Als Gott auf Erden und Ursprung der Menschheit habe er eine besondere Verantwortung und stehe in der Pflicht, »auf die Erde aufzupassen und die Unwissenden zu unterrichten«.

Doch wie verträgt sich die angestrebte Righteousness mit dem Straßenleben? »Als God entscheidest du selbst, welchen Weg du gehst«, sagt er. »Nur weil du Knowledge of Self hast, heißt das nicht, dass du auch den righteous Weg gehst. Du kannst trotzdem teuflische Sachen machen. Ich würde nicht sagen, dass dich das nicht zu Gott macht – aber es macht dich auch nicht zu 100 Prozent righteous.« Den der Five Percent Nation zugrundeliegenden Antagonismus zwischen dem Schwarzen Gott und dem weißen Teufel betrachtet er einerseits »historisch«, also im Sinne der Five Percent Nation beziehungsweise Nation of Islam, wonach der weiße Mensch vor 6.000 Jahren von Yacub mittels genetischer Manipulation geschaffen wurde. Andererseits als Sinnbilder für die Gegensätze von Gut und Böse, Positivität und Negativität, die in allen Menschen, egal, ob schwarz oder weiß, bestehen und dort miteinander ringen. »So wie Yin und Yang«, sagt er.

Stark traumatisiert, doch trotzdem fokussiert – »DON QUIJOTE«

In dem Glauben, dass seine Straftaten verjährt sind, kehrt King Kolera 2008 wieder nach Hamburg zurück, doch er hat sich getäuscht. Er muss sich doch noch vor Gericht verantworten, kommt aber noch mal ohne Strafe davon. Ungefähr in dieser Zeit gründet er auch sein Label 23 Mucke und fokussiert sich fortan auf die Musik. Die 23 im Namen hat mit Numerologie im Allgemeinen und den Supreme Mathematics der Five Percent Nation im Besonderen zu tun. »Die 23 begleitet mich seit meiner Kindheit und ist auch sehr prägnant, was das Historische, das Spirituelle und das Wissenschaftliche angeht«, sagt King Kolera. Er kam am 23. Oktober zur Welt, der Anfangsbuchstabe seiner beiden Vornamen, W, ist die 23. Letter des Alphabets und eine menschliche Zelle besteht aus 23 Chromosomenpaaren.

»Ich dachte, wenn die Nummer so krass in meinem Leben stattfindet, macht es nur Sinn, wenn ich mein Label nach ihr benenne«, führt er aus. Auch an den Mystery-Thriller „Number 23“ von Joel Schumacher aus dem Jahr 2007, der, wie der Titel schon sagt, nicht zuletzt um die 23 kreist, hat er bei der Namenswahl gedacht. »Im Leben gibt es keine Zufälle, irgendwie ist alles mathematisch arrangiert«, sagt King Kolera. »Oft ist es sogar offensichtlich, aber die Leute sehen es halt nicht. Sie beschäftigen sich nicht mal mit sich selbst, nicht mal mit ihrem eigenen Namen oder Geburtstag, dabei sind das Sachen, die eigentlich sehr wichtig sind und dich ausmachen, wenn du geboren wirst.«

Mach Mucke nur für Ganoven und Insassen – »DON QUIJOTE«

Über 23 Mucke bringt er zunächst Mixtapes in Umlauf, auf denen er über Instrumentals von beispielsweise The Alchemist oder Boom-Bap-Beats rappt, 2014 erscheint »Geld, Macht und Neid (Die 7 Todsünden)«. 2016 und 2017 entstehen nicht zuletzt unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise die EPs »Genug ist genug«, Teil 1 und 2, für die er etwa mit alten Hamburger Hasen wie Short Lord und Jah Rose zusammenarbeitet und die auch über Streaming-Portale veröffentlicht werden. Die Beats sind größtenteils boom-bapig, die Texte drehen sich vor allem um schwarze Geschichte und Selbstermächtigung (»Afrikan Drum« oder »Black Panther Halbschwarzer«), Sozial- und Kapitalismuskritik (»Militant« oder »Stadtrandbezirk Kinder«) und Biografisches (»Blut, Schweiß und Tränen«).

Mit diesen beiden Minialben, erzählt King Kolera, verschafft er sich erstmals über Hamburg hinaus ein wenig Gehör, handelt sich für den Track »Carbon 7« sogar Props von der US-amerikanischen Neosoul-Queen Erykah Badu ein – und kommt in den Ruf, ein conscious Rapper zu sein, den er aber schnell wieder abzuschütteln versucht: »Verwechseln mich mit conscious Rappern wegen zwei EPs / Zirkuliere durch die Gosse wie russischer FSB«, rappt er im Folgejahr in »Robert Dinero & Al Bandido«. Auf Nachfrage sagt er, er feiere zwar conscious Rap, aber habe sich selbst »nie dazu berufen« gefühlt. »Ich halte auch nichts von solchen Labels, aber wenn, dann würde ich mich am ehesten als Straßenrapper mit Consciousness bezeichnen, mit Knowledge of Self, so wie Wu-Tang damals.« In erster Linie gehe es ihm darum, »Hamburg-Ost so gut wie möglich musikalisch darzustellen und einen Soundtrack für unsere Viertel zu generieren«, sagt er. »Vor allem für die Leute, die noch aktiv im Straßenleben und in dem Lifestyle oder Milieu verwickelt sind, das man als Unterwelt bezeichnet.«

Mit »GRMG & VINTAGE« erscheint im August 2018 über Bandcamp.com sein erstes Street-Album, wie er es nennt, mit illustren Gästen wie Absztrakkt, Megaloh und dem Hamburger 23-Mucke-Schützling und auch auf »BantuGod« stark vertretenen Kero City von Stylezhood sowie sogar Feature-Parts von Ghostface Killah und Raekwon, an die er über einen Bekannten aus England kommt. Schien sich King Kolera auf seinen vorangegangenen Releases noch auszuprobieren und auf der Suche nach seinem eigenen Flow und Style zu sein, kristallisiert sich auf »GRMG & VINTAGE« nunmehr seine ureigene Handschrift heraus, die er selbst als »minimalistischen grimey Straßenrap« bezeichnet, mit Beats, skurrilen Loops und Soul-Samples wie man es von US-Künstlern wie dem Wu-Tang Clan, Mobb Deep, The Alchemist, Roc Marciano oder aus dem Camp von Griselda Records kennt. Wobei er beteuert, diesen Stil bereits »vor 15, 20 Jahren« gefahren und auf seinen Mixtapes auch vereinzelt eingestreut zu haben, nur dass er lange Zeit das Gefühl gehabt habe, dass diese Machart in Deutschland, anders als heute, keiner verstehen würde.

Im Juni 2021 veröffentlicht King Kolera, ebenfalls über Bandcamp.com, gleich zwei weitere Street-Alben, »Godfather of Hamburg« und »Bumpy Johnson« – inspiriert von dem 1997 erschienenen US-Film »Harlem N.Y.C. – Der Preis der Macht« mit Laurence Fishburne. Brachte King Kolera auf »GRMG & VINTAGE« mit dem des mehrfachen Mordes überführten Sektenführer und Musiker Charles Manson auf dem Cover, Titeln wie »Iron Maiden« und »Metallica« sowie Heavy-Metal-Samples seine musikalischen Rock-Wurzeln zum Ausdruck, huldigt er auf »Godfather« und »Bumpy« Soul-Legenden wie Curtis Mayfield und Barry White, HipHop-Koryphäen wie Coke La Rock und Ice-T sowie nebst amerikanischen Gangster-Ikonen unter anderem auch Hamburger Kiez-Größen wie Waldemar Dammer († 1985) oder Thomas »Karate Tommy« Born (1951-2015). Der Sound der beiden Alben ist neben Soul- und Funk-Anleihen vor allem von Jazz geprägt. Letzteres Stilmittel gipfelt in dem monumentalen Song »Miles Davis«. Die Texte handeln überwiegend von düsteren Gangstergeschichten und dem Leben auf der Straße. Als Gäste treten unter anderem der New Yorker Rapper Tragedy Khadafi (ehemals Intelligent Hoodlum), Kalusha aus Berlin sowie Afrob in Erscheinung.  

Damals lief ich vor Bullen weg, heute lauf ich Siegerrunden – »OLYMPIA P«

Alles in allem ein offensichtlich detailverliebtes Schaffen mit einer ausgeprägten Vorliebe für die New Yorker HipHop-Ästhetik der Neunzigerjahre, das im August dieses Jahres mit dem gewaltigen »BantuGod« seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. King Kolera bezeichnet es als sein »erstes richtiges Album«. »Die Resonanz war echt gut«, sagt er zwar. Doch bei den (Hip-Hop-)Medien stieß »BantuGod« bislang auf wenig bis gar kein Gehör. Was King Kolera vor einigen Wochen dazu veranlasst hat, auf seiner Instagram-Seite einen wütenden und inzwischen wieder gelöschten Post gegen die HipHop-Medien zu verfassen.

Tenor: Obwohl er bereits einen umfassenden Musikkatalog vorzuweisen habe, nun auch noch mit einem so richtungsweisenden Album und zudem mit Feature-Gästen wie Szene-Größen Megaloh und Lakmann One sowie einem Cameo von Deutschrap-Pionier Torch im »SUPREME ROYALTY«-Video aufwarte, interessierten sich die HipHop-Medien nicht dafür. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf: Welche HipHop-Medien? Die langjährigen meinungsbildenden Magazine »Backspin« und »Juice« gibt es nicht mehr und die eine oder andere verbliebene oder gar neue Online-Plattform hat gar nicht erst den Anspruch, noch die ganze und zugegebenermaßen immer heterogener werdende Szene abzubilden, sondern setzt Prioritäten, indem sie sich etwa wahlweise auf die Dokumentation von Sparten, wie beispielsweise Straßenrap, Trap, New Wave oder gar Gossip, beschränkt.

Wie es um die deutsche HipHop-Medienlandschaft bestellt ist, wurde indes bereits 2018 klar, als sich das eine oder andere schon seinerzeit nur noch leise den Ton angebende Medium in die Nesseln setzte, indem es Prezidents umstrittenes Album »Du hast mich schon verstanden« gründlich missverstand, aus vermeintlicher Wokeness heraus verriss und den Whiskeyrapper voreilig an den Pranger stellte. Ein unfreiwilliger Offenbarungseid. Apropos Prezident: Auch der des Straßenraps unverdächtige und ungekrönte King of (Deutsch-)Rap aus Wuppertal ist auf »BantuGod« mit einem Feature vertreten. Wie kommt’s? »Man erkennt einfach große Künstler«, antwortet King Kolera, »und ich bin ein Fan davon, Welten zu connecten, die auf den ersten Blick vielleicht nicht so viel miteinander zu tun haben. Aber genau das ist halt HipHop, denn daraus entsteht wieder was Freshes.«

HipHop, führt King Kolera aus, das ist für ihn »die Liebe zur Kultur, die wir leben, sich nichts sagen zu lassen von Leuten, die sich nicht auskennen mit dem, wo du herkommst, aus wenig das Beste zu machen und die geistige Sprache der Unterdrückten«. Hip-Hop bedeutet für ihn außerdem, »sich nicht an die Regeln zu halten und Grenzen auszutesten, weil nur so kreiert man was Neues«. Darüber hinaus ist HipHop für King Kolera etwas Spirituelles. »So war es im HipHop ja eigentlich auch gedacht«, sagt er. In seiner Kultur sei es sehr wichtig, die Vorfahren zu ehren, weil sie die Verbindung zu Gott darstellten, ihm und den Seinen Wissen aus einem anderen Kosmos vermittelten »und uns leiten«, sagt er. »Du musst wissen, wo du herkommst, und verwurzelt sein wie ein Baum, damit du weißt, wohin du gehst, und in Richtung Sonne wachsen kannst.« Aus diesem Grund lege er auch so viel Wert darauf, dass die Leute, die anderen die Türen geöffnet haben, zumindest ihre Props bekämen. »Damit sie nicht in Vergessenheit geraten oder schlimmstenfalls sogar disrespected werden – das dulde ich nicht.« Was erklärt, weshalb er in Songs und Interviews keine Gelegenheit auslässt, Old-School-Legenden wie Torch oder Straßenrap-Pioniere wie Charnell aus Berlin, Azad aus Frankfurt am Main oder auch Bacapon aus Hamburg zu erwähnen.

Rechtsstaat pure Illusion wie der Zauberer von Oz – »UNIVERSAL JUSTICE«

Das Interview neigt sich dem Ende entgegen. King Kolera kauft sich noch eine Dose Mezzo Mix, tritt vor die Tür der Bäckerei. Was er mit dieser Straßenecke, die er sich für das ALL GOOD-Gespräch ausgesucht hat, verbinde? »Viel crime«, antwortet er. »Hier gab es Schießereien und Stechereien – aber auch schöne Erfahrungen.« An der Ecke auf der anderen Straßenseite zum Beispiel, am sogenannten »Bunker«, einem großen roten Wohnblock, hätten sie früher gerappt. Nicht auf Jams. »Wir wussten gar nicht, dass es so was gibt«, sagt der heutige Kunstsammler. »Leute wie wir haben da nicht stattgefunden.« Hier am Bunker treffe sich am Wochenende die Jugend, vor allem in den Abendstunden. »Die einen machen hier dann ihr Ding, die anderen chillen einfach«, sagt King Kolera.

Selbst wohnt der Familienvater inzwischen nicht mehr in Billstedt, er sei aber noch häufig hier. Der Ruf des Stadtteils eilt Billstedt voraus. »Konflikt-Stadtteil Billstedt« lautet die Überschrift eines Artikels der »Hamburger Morgenpost«. Die Einwohner Billstedts sind laut Statistischem Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein (Stand: 2020) jünger, die Arbeitslosigkeit ist höher als im Hamburger Durchschnitt. 60 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund, jeder fünfte Billstedter bezieht Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld.

Gewalt in Hamburg, nicht jeden kannst du retten – »DON QUIJOTE«

An diesem späten Dienstagnachmittag herrscht an der Billstedter Hauptstraße friedliche Feierabendstimmung, an den Tischen vor den Lokalen sitzen kleine Gruppen von Männern und Frauen zusammen, über die Gehwege huschen spielende Kinder. Zu Fuß geht es in die angrenzende Washingtonallee. Dort hatte King Kolera seine erste Wohnung, erzählt er und zeigt auf den ersten Stock der Hausnummer 101. »Da war ich 23«, sagt er. Da ist sie wieder, die 23. Auf dem Hinterhof des »Bunkers« spielen ein paar Jungs Fußball. »Hier sind alle traumatisiert«, sagt King Kolera. Er selbst habe bis vor gar nicht allzu langer Zeit, auf Anregung seiner Frau, für ein Jahr eine Psychotherapie gemacht. »Ich war eigentlich immer der Typ, der gesagt hat, ich brauch das nicht, aber im Prinzip ist das schon eine coole Sache, und ich habe ein paar gute Jewels daraus gezogen«, sagt er. Die Gesellschaft jedenfalls grenze die hier lebenden Menschen aus, die Erwachsenen seien am Schuften, am Strugglen und entsprechend frustriert, die besonders Leidtragenden seien aber die Kinder.

Ob er sich eine gerechte Gesellschaft vorstellen könne? »Nicht in diesem System«, antwortet er und fügt hinzu: »Im Kommunismus mit dem Staat als einzigen Unterdrücker aber auch nicht.« Das hiesige System sei ja extra so konstruiert, dass es Arme und Reiche gebe – ohne Arme keine Reichen -, anstatt auf den »universellen Gesetzen« aufzubauen, die etwa auf gegenseitigem Respekt basierten. Aber sind die »universellen Gesetze« nicht im Grundgesetz verankert, demzufolge die Würde des Menschen unantastbar ist? Das stehe da zwar geschrieben, aber die Realität sehe anders aus, sagt er. Das sei nur ein Trick, um die Menschen in dem Glauben zu lassen, dass alles in Ordnung sei. Deshalb versuche er, zumindest in seinem Umfeld für Frieden und Positivität zu sorgen, in seiner Familie sowieso, aber auch unter der Jugend allgemein, weshalb er auf Anfrage auch schon Sozialarbeit in Jugendzentren geleistet habe. »Die Kinder und Jugendlichen hören eher auf jemanden, der selbst einen Straßenhintergrund hat als auf einen Pädagogen, der das nicht hat«, sagt er.

Auf einer Verkehrsinsel posiert King Kolera für ALL GOOD noch fürs Foto. Am Ende der Horner Landstraße hinter ihm ist in der Ferne der Fernsehturm zu sehen, die langsam untergehende Sonne färbt den Himmel orange. Dann verabschiedet sich King Kolera, sagt »Peace« und verschwindet auf der Billstedter Hauptstraße in dieselbe Richtung, aus der er Stunden zuvor gekommen war.