Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: September 2021

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im August mit Nali & Samon Kawamura, Injury Reserve und Ichon.

VISUALIZING SEP21
Wir sind ehrlich mit euch: Im September haben wir uns für eher merkwürdige Videos entschieden. Obwohl, eigentlich steigen wir seicht ein: Denn der Berliner Newcomer NALI liefert ein Video direkt aus Lagos, Nigeria, um seine Kollaboration mit dem Produzenten Samon Kawamura gebührend zu begehen. Aber dann, Ichon und die Liebe. Der französische Sänger und Rapper spielt mit unseren Erwartungen und gibt seinen romantischen Momenten immer einen neuen Twist, sodass man bald nicht mehr weiß, wo das Set aufhört und das Musikvideo anfängt. Dann ist da Calman, der den Prenzlauer Berg durch einen digitalen Shredder jagt, den Blick auf das Viertel ebenso dystopisch wie unmenschlich gestaltet. Dabei klingt der Song doch so warm! JASSS hingegen, auch based in Berlin, möchte endlich wieder etwas spüren und erkundet die umliegende Welt, in die sie einbricht, folglich ganz physisch: Sie rennt gegen eine Wand. Injury Reserve spielen mit Isolation, ständiger Beobachtung und dem ewigen Leid des Entertainers. Und für das letzte Video dieser Ausgabe sprechen wir explizit eine Triggerwarnung zu den Themen Blut und Geburt aus. Marina Herlop begibt sich mit unbeschreiblichem Gesang in das Revier gebärender Kühe. Wirklich düster, dieser September.

Die offizielle Playlist zur Kolumne findet ihr hier.

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  • NALI & Samon Kawamura »Big Gas« (R: Logo »Logor« Oluwamuyiwa)

    Till: Ich liebe die Stelle bei 1:55, mit dem Tuch der Black Excellence. Ich erkenne auf jeden Fall Tupac, Biggie und MLK.

    Charlie: Oben noch Fela Kuti. Und rechts daneben Mandela?…

    Till: Da weiß man auf jeden Fall schon, in welcher Liga sich NALI verortet. Kurz zum Background: NALI kommt aus Berlin und ist Sohn einer nigerianischen Regisseurin. Dieses Jahr hat er bereits eine EP mit MotB veröffentlicht, der auch für BHZ und RAPK produziert – Er ist also aus dem Kontext der Berliner New Wave bekannt. Sein Bruder Xaver rappt auch. »Big Gas« ist die erste Single seines Debütalbums, das im Dezember erscheinen wird. Das ganze Projekt ist in Zusammenarbeit mit Samon Kawamura entstanden, der wiederum ein ganzes Stück älter und vor allem für seine Arbeit mit Freundeskreis, Max Herre und Genetikk bekannt ist. Die letzten Monate hat NALI wohl in Nigeria verbracht und hat für »ASCHE« von den Erfahrungen in Lagos gezehrt. Dort wurde auch dieses Video gedreht.

    Charlie: Das Video fängt an mit diesem Drohnen-Shot über Lagos. Dann wird man durch den schnellen Zusammenschnitt wie durch einen Sog in das Leben der Hauptstadt katapultiert. Diese beschleunigten Montagesequenzen begegnen uns häufiger im Video und kondensieren ein wenig die Eindrücke. Zunächst liegt NALI auf einem Transporter, alles wirkt ein wenig in den Fiebertraum eingebettet, der womöglich in diesem Moment auf der Ladefläche durch seinen Kopf kreist. 

    Till: Bemerkenswert ist, wie wohl und dem Ort verbunden er sich dort fühlt. Das Video zeigt schon, dass er in Lagos eben auch ein kreatives Netzwerk hat. Regie geführt hat beispielsweise Logo Oluwamuyiwa, ein nigerianischer Künstler, der sogar an Beyoncés »Black is King«-Film mitgearbeitet hat. Trotzdem hebt er sich von seinem Umfeld gewissermaßen ab: Einerseits durch die ständige Positionierung im Mittelpunkt, andererseits aber auch schon durch Kleidungsstil und Gestik.

    Charlie: Er wirkt teilweise wie ein Fremdkörper in der Umgebung. Vor allem dadurch, dass er in Einstellungen rappt, die sonst als dokumentarische Alltagssituationen gestaltet sind. Die Performance ist dem enthoben.

    Till: Es gibt viele Einstellungen, die zwar inszeniert, aber so gefilmt sind, als wären sie dokumentarisch. NALIs Performance mittendrin ist eigentlich das Indiz der Inszenierung. Beispielsweise bei 1:30: Einer arbeitet, einer hört Musik – er rappt. Das deutet vielleicht auch auf NALIs Verhältnis zu diesem Ort hin: Einerseits Verbundenheit, andererseits Fremdheitsgefühl.

    Charlie: Alleine aus den Bildern, ohne dein Hintergrundwissen, vermittelt sich ja gar keine Verbundenheit, es wird eher eine geisterhafte Distanz zu den Protagonist:innen im Video gesetzt und der Ort dient als vielfältige Kulisse. Die Bilder entspringen einem touristischen Blick, die inszenierten Szenen versuchen den jedoch ein wenig aus den Angeln zu heben. In erster Linie ist das Video eine Collage aus Szenerien, die Schauwerte generieren. 

    Till: Ich denke, es wird sich im Laufe der nächsten Singles zeigen, ob sich ein kohärentes Konzept entfaltet. Erstmal ist das ein vielversprechender Auftakt und ich freue mich darüber, dass der Alchemist/Griselda-Sound in Deutschland ein würdiges Gegenüber findet. Ich denke auch, dass das Video Ähnlichkeiten zu der fragmentarischen Ästhetik des New Yorker Schnipseljazz um Rapper wie MIKE, Navy Blue und Maxo aufweist.

    Charlie: In der Hinsicht schon, durch das Zusammenwürfeln findet das Video einen ganz eigenen Rhythmus. Die scharfen und kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bilder annulieren diese Roughness jedoch wieder. Im Sound trifft das aber zu.

  • Ichon »C'est pas le moment« (R: Louis Lekien)

    Till: Ich bin jetzt sehr froh über dieses Video, das ist echt schön.

    Charlie: Den langen Text am Ende kann ich leider nicht verstehen, obwohl ich gerade mit Duolingo Französisch lerne.

    Till: Es geht ein wenig um die Dreharbeiten und den Hintergrund des Songs. Dass er für eine andere Frau geschrieben wurde, dass die Dreharbeiten zwei Tage gedauert haben. Eigentlich eine längere Danksagung. Im Song geht es um die Erkenntnis, dass die Zeit für eine Liebesbeziehung nicht die richtige ist. Darum, die Liebe in guter Erinnerung zu behalten, auch wenn sie nicht gelingt.

    Charlie: Es sind Vertröstungen. »C’est pas le moment« ist natürlich übertragbar auf das, was das Video macht. Dass es Momente einführt, die dann enttarnt werden. Auch ein Spiel mit dem Vertrauen der Zuschauer:innen in die Verführung des Videos– Das zeigt sich am Ende, wenn sie fällt und dann doch wieder der nächste Twist kommt: Sie wird natürlich von der Crew aufgefangen. Alles nur Teil des Spiels mit den Erwartungen und der Illusionen.

    Till: Als Zuschauer:in wechselt man immer wieder in der Annahme, ob ein tatsächliches Drama gezeigt wird, oder alles nur inszeniert ist. Die Ebenen vermischen sich. Nach der Umarmung des Anfangsdramas ist die Stimmung am Set gut, nach dem Streit in der nächsten Sequenz ist auch die Stimmung am Set etwas fröstelnd. Die Mitarbeiter:innen werden dadurch zu Außenstehenden, die durch die Beziehung direkt affiziert werden. 

    Charlie: Die eigentliche Liebesgeschichte vollzieht sich zwischen den Takes. Das Video ist wie der Song in drei Akten aufgebaut, am Ende jeder Sequenz der Zoom-Out und die Schlussklappe. Nach dem ersten Teil mit dem großen Überraschungsmoment verlagert sich die Aufmerksamkeit sehr stark darauf, was alles am Set passiert. Welche Interaktionen dort stattfinden. Diese Stimmung ist das, was das Video ausmacht.

    Till: Im zweiten Teil, in der Krise, wird auch die Kamera selbst instabiler. Sie wird unruhig, deutlich von einer Hand ohne Stütze gefilmt. Abstrahiert sind die Menschen hinter den Kulissen ein Support-System für die beiden Liebenden. Wenn eine Beziehung scheitert, wirkt sich das immer auch auf Freundeskreise aus. Und am Ende können sich die Turteltauben darauf verlassen, dass sie aufgefangen werden.

    Charlie: Das Schöne am zweiten Take ist, dass die Außenstehenden merken, dass es kriselt. Alle halten sich eher zurück. Ein bisschen Meta: Es gibt die Idee, dass alles, was vor einer Kamera passiert, immer dokumentarisch ist. Jede fiktionale Szene verweist auf das, was Menschen vor einer Kamera tun. Das greift bei Ichon sehr schön ineinander.

  • Calman »Prenzlauer Berg« (R: Calman)

    Charlie: Eine kleine Anekdote: Ich war vor ein paar Jahren bei der Prenzlauerberginale. Ein Filmfestival, das nur Filme zeigt, die im Prenzlauer Berg spielen, dort im Babylon Kino. Damals wurde ein alter DDR-TV-Beitrag von 1980 gezeigt, der Film hieß »Ein Haus im Prenzlauer Berg«, das spielte noch vor der Wende. Das Haus in der Stargarder Straße / Ecke Greifenhagener Straße und die Nachbarschaft wurde porträtiert, wer da so lebt und wie man sich organisiert. Tatsächlich war eine Frau im Publikum, die als Kind im Film zu sehen ist. Sie hat sich gemeldet und gesagt, dass sie dort immer noch wohnt, den Mietvertrag ihrer Oma übernommen hat. Im Saal sind alle ausgeflippt, als sie sagte, wie wenig Miete sie zahlt. Vielleicht wird dort nächstes Jahr dieses Video ein Thema.

    Till: Das neue Album von Calman erscheint Ende Oktober, es trägt den Namen »Drei Liter« und soll ein Album über Freiheit sein. In diesem Lied geht es um die Entwicklung des Prenzlauer Bergs, wo Calman seit jeher wohnt. In den letzten 25 Jahren hat er sicher viel Gentrifizierung mitbekommen. Das Video knüpft daran an, fügt aber auch neue Aspekte hinzu. Der Prenzlauer Berg ist zerstückelt, befindet sich in Auflösung. Die Bruchstücke weisen auf die Aufteilung des Wohnviertels unter Immobilienunternehmen hin, auf die Abstrahierung der Besitzverhältnisse. Das digitale Rendern erzeugt dazu einen unmenschlichen Blick auf den Prenzlauer Berg, eine Abtrennung des Viertels von seinen Bewohner:innen.

    Charlie: Das ist für mich der spannendste Aspekt: Die Assoziation zu Computerprogrammen wie Archicad, in denen Gebäude und Gegenden digital geplant werden. Damit werden Konzepte den Investor:innen vorgestellt. In diesem Video wirkt der Prenzlauer Berg aber dystopisch, vollkommen leblos und ausgehöhlt.

    Till: Im Video sind keine Menschen zu sehen, aber viele Autos. Der Prenzlauer Berg wirkt verlassen, selbst der sonst stets überfüllte Mauerpark ist bei 1:40 leer.

    Charlie: Im Mauerpark wurde hinter dem Basketballplatz alles erneuert, da ist jetzt grüne Wiese. Bei Calman ist dort aber Wüste. Wir schweben über die digitale Ödnis und lauschen einer Verlusterfahrung, die von der Vergangenheit erzählt. Der Prenzlauer Berg ist so ziemlich das Paradebeispiel für Gentrifizierung und ähnliche Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse.

    Till: Ein bundesweites Klischee.

    Charlie: Und auch ein Feindbild.

    Till: Ungefähr bei 2:00 gibt es die Einstellung, in der die Häuser nach oben hin gespiegelt sind. Die Häuser treiben aufeinander zu, leicht zitternd. Das hat etwas klaustrophobisches, erdrückende Enge. Im Song geht es auch darum, dass es den Freiraum, den Calman aus seiner Kindheit kennt, einfach nicht mehr gibt.

    Charlie: Einerseits ist da die Entfremdung von der eigenen Wohnsituation. Andererseits mit dem Mauerpark auch eine gezielte Kulturalisierung der Stadt im Kontext eines Stadtmarketings, das immer noch mehr Tourismus anlocken soll. Das ehemals Subkulturelle wird kommerzialisiert und zum Markenkern des Viertels eingehegt. Er rappt darüber, wie er nostalgisch sprühen geht – Jedoch ist der ursprüngliche Reiz längst verflogen, denn im Prenzlauer Berg wird ja gerade forciert, dass es dafür legale Flächen gibt. Andere Sache: Bei 2:22 schlängelt sich ein eigentümlicher Flugkörper durchs Bild. Was ist das?

    Till: Sperma. Das ist quasi sein Symbol und Slogan: Calman – das schnellste Spermium.

  • JASSS »A World Of Service« (R: Sander Houtkruijer)

    Charlie: JASSS ist in erster Linie DJ, veröffentlicht jetzt allerdings ihr zweites Album über das Berliner Label Ostgut. Das heißt auch »A World Of Service«, auch die Tour. Zuletzt hatte sie eine Residency in der Villa Massimo, auch regelmäßig Gigs im Berghain. Dieses Video knüpft stark an das Thema des Albums an: Es geht viel darum, wieder etwas fühlen zu können und eine neue Sprache zu entwickeln, die sich von tradierten Festlegungen löst. Eine Art von Verbindung zur Welt herzustellen. Das Video aktiviert den Genre-Topos des Psychopathen: Sie bricht in eine Wohnung ein und nimmt die Identität der darin wohnenden Person an, hinterlässt aber auch eigene Spuren, eine bekannte Konstellation aus diversen Psychothrillern. Vielleicht ist das ja sogar eine Altbauwohnung im Prenzlauer Berg.

    Till: Die zentrale Zeile ist »There’s no pleasure in a world of service« – Es geht also um die Dienstleistungsgesellschaft und die Unmöglichkeit eines nicht-rationalen, emotionalen Zugangs zur Welt. Diese Gesellschaft ist sehr funktionsorientiert. Selbst Kinderspielzeug, wie es hier im Video gezeigt wird, zeichnet sich durch seine Zwecke aus. Am anschaulichsten wird das an der Spielkarte bei 2:58. Als Spielzeug verkauft, ist sie bloß ein Stück Pappe, das seine eigene Funktionsweise mit Zahlen erklärt und so die Fakten des Spiels schafft. Das Ding an sich hat jedoch überhaupt keinen spielerischen Wert, bloß die daraus zu extrahierenden Informationen. Dieses Ding bietet in erster Linie keine Freude, sondern einen Service. JASSS reibt diese Spielkarte aber bloß im eigenen Gesicht, unfähig, die Funktionsweise des Objekts zu verstehen. Stattdessen tritt sie in eine physische Beziehung mit der Karte – ein echtes Spiel, eigentlich. Und der Versuch, einen sensuellen Zugang zu dieser Welt zu gewinnen. Über ihren Körper tritt sie in Verbindung mit einem Umfeld, das ihr fremd ist. Beispielsweise auch, wenn sie sich trocken und angezogen am Handtuch reibt.

    Charlie: Die Gegenstände werden entfunktionalisiert und als bloße Oberfläche behandelt, in diesem Erkundungs-Modus hat sie auch etwas alienhaftes – wie auf einem fremden Planeten seziert sie die Objekte, die etwas über die ihr fernen Welt verraten.

    Till: Ein ganz tolles Objekt, das nur kurz auftaucht, ist der Slinky bei 3:26. Das ist wahrlich ein funktionsloses Spielzeug, das nur von seinem Charme lebt – Dabei aber schon seit über 75 Jahren relevant bleibt. Es macht Freude, ohne einem Zweck zu dienen.

    Charlie: Was in seiner exzessiven Verspieltheit lustig und gleichsam sehr traurig ist, ist die Einstellung bei 3:08, in der sie die Durchlässigkeit der Wand auf die Probe stellt. Letztendlich auch ein verzweifelter Versuch, etwas zu empfinden.

    Till: Das fängt eben damit an, alle Objekte der Wohnung physisch zu erfahren, auch die Pflanzen beispielsweise am Gesicht zu reiben. Etwas spüren, ohne sich in etwas reindenken zu müssen. Das findet mit dem Lauf gegen die Wand einen frühen Höhepunkt.

    Charlie: Diesem Spiel haftet aber eine enorme Düsternis an.. Das energische Händewaschen erinnert beispielsweise an Zwangsstörungen. 

    Till: Die Servicegesellschaft hat das letzte bisschen Freude und Mythos wegrationalisiert. Daraus resultiert eine tiefe Depression.

    Charlie: Das ist, glaube ich, die Kernbewegung dieses Videos. JASSS interagiert zudem bloß mit sich selbst, macht Fotos von sich selbst und irrt verloren durch die Nacht. »A World Of Service« bedeutet dann, dass die Entfremdung nicht nur bei Objekten, sondern auch zwischenmenschlich stattfindet.

  • Injury Reserve »Superman That« (R: Parker Corey)

    Till: Kurze Zusammenfassung: Injury Reserve ist ein HipHop-Trio aus Phoenix, Arizona. Eigentlich zwei Rapper und ein Producer, einer der Rapper ist allerdings letztes Jahr verstorben. Nach eigenen Angaben war das neue Album vor dem Tod von Groggs schon fertig – Jetzt ist es erschienen. Das ganze Album ist sehr dystopisch, dreht sich um Schmerz, Trauer und Wut. Es gibt allerdings auch Songs, die klar auf Folgen des Klimawandels anspielen, es gib auch Verweise auf 5G-Verschwörungstheorien. Moderne Technik nimmt recht viel Raum ein. Das Sample, das hier verwendet wird, stammt von Black Country, New Road, einer britischen Post Punk-Band. Viel gesagt wird im Song nicht, zentral ist die Zeile »Ain’t no saving me or you«. Die absolute Verzweiflung. Im Verse rappt Ritchie With A T darüber, dass sie uns alles genommen haben. Dass jedes Aufbäumen nutzlos ist und der Untergang naht. Im Video gibt es natürlich das sehr deprimierte Bild: Jemand schläft neben diesem mysteriösen Kreis, draußen ist es dunkel und regnerisch, die Person liegt eingekugelt da und interessiert sich für nichts. In dieser Lichtfläche tauchen immer wieder augenförmige Formationen auf. Bei 2:35 sind es beispielsweise die Schwimmerinnen, die ein Auge formen. Das erinnert witzigerweise stark an das Auge Saurons bei Herr der Ringe in der Kugel von Saruman. Und der Palantír, so heißt die Kugel, ist ja eigentlich ein weirdes Kommunikationsmittel, das sehr wohl eine große Portion der heutigen Kommunikationstechnologie vorhergesehen hat.

    Charlie: Stimmt, die Assoziation bietet sich an. Es ist ja auch ein komisches Auge, kein menschliches jedenfalls. Von reliefartigen Rillen durchzogen und die Farbe passt auch nicht richtig. Bei 0:58 gibt es einen Shot, der das Albumcover zitiert – Der Schatten einer Person, die in Zeitlupe vor rotem Hintergrund Richtung Kamera rennt, während ein Lichtkegel durch den Kopf hindurch scheint. Auf dem Cover schiebt sich dieser Kegel vor den Kopf, als würde sich die Person in ihrer Auflösung befinden, oder auf einem neuen Planeten landen. Auf jeden Fall eine Aufbruchsbewegung, was natürlich zum Sound passt, der noch spontaner und brüchiger klingt, als wir es sowieso von Injury Reserve gewohnt sind. 

    Till: Bei 1:07 gibt es das Auge auch in der Ausführung als Standort auf einer digitalen Karte. Interessant ist vielleicht auch die Farbaufteilung: Bei Ritchie With a T ist es meistens Weiß und Rot, irgendwo zwischen Bühne und Fegefeuer. In dem Raum mit der schlafenden Frau sind die Farben bläulich und unterkühlt.

    Charlie: Thema im Musikvideo ist einmal das Resonanzlose – er spürt, es kommt nichts an, was er herausschreit. Dazu kommt eine Auseinandersetzung mit der Unterhaltungsindustrie.

    Till: Das Kennzeichen: Dieser wahnsinnig geile Paillettenanzug.

    Charlie: Genau, er präsentiert sich als Entertainer. Der Songtitel »Superman That« klingt nach Idealisierung, nach überhöhter Aufforderung. Dazu kommen die Bilder aus frühen Unterhaltungsshows, die dort gezeigt werden. Im Kontrast dazu das extrem Zurückgezogene im dunklen Zimmer, nicht schlafen, aber nicht aufstehen, Antriebslosigkeit in Korrespondenz mit Gehetztheit.

    Till: »Superman That« ist natürlich auch in erster Linie ein Verweis auf Soulja Boys »Crank That«, diese Phrase war extrem wichtiger Bestandteil des dazugehörigen Tanzes. Damals war schließlich auch die Idee der Tanzchallenge recht neu, Soulja Boy war Vorreiter der Internet-Ära – Und hatte einen gewaltigen Impact. Heute steht Ritchie With a T da und verzweifelt an der Wirkungslosigkeit seiner Handlungen.

    Charlie: Das Auge im Video weckt Assoziationen zu Überwachungstechnologien, alles wird beobachtet und beurteilt. Selbst beim Versuch, depressiv zu schlafen. Gleichzeitig scheint es wie ein Container innerer Ängste.

    Till: Ich möchte dazu noch empfehlen, das Musikvideo zu »Knees« und den Album-Visualizer anzuschauen. Die schweren Schläge in der Produktion, das Erdrückende des Sounds werden jeweils begleitet von interessanten Lichtinszenierungen. Bei Knees ist das eben Konzept des Musikvideos – Der Upload des ganzen Albums ist ein recht verschwommener Mitschnitt aus der Releaseshow in Phoenix. »By the Time I Get to Phoenix« ist ein recht anstrengendes und schwer zugängliches Album. Ich denke, die dazugehörige Lightshow kann helfen, sich hineinzufühlen. Mit der visuellen Komponente wird das zu einer echten Experience.

  • Marina Herlop »miu« (R: Anxo Casal)

    Triggerwarnung: Blut, Geburt

    Charlie: Der Gesangs ist angelehnt an die karnatische Musik des Konnakol. Insbesondere ab 2:16 werden die Parallelen zu den rhythmischen Variationen dieses Gesangsstils auch für uns Dilletanten hörbar. 

    Till: Im Begleittext zum Video heißt es, Marina Herlop verzichte auf außermusikalische Referenzen in der Produktion ihres Songs. Dass sie nach bloßen ästhetischen Vorstellungen verfährt, ist auch Teil einer größeren Bewegung von Popmusik, den Stimmeinsatz über semantischen Gehalt zu stellen. Wenn der Gesang als Instrument eingesetzt wird, drängt sich Soundästhetik in den Vordergrund. Diese Entwicklung ist im HipHop beispielsweise einer der Gründe für den Generationenkonflikt: Wenn Young Thug extraterrestrische Melodien entwickelt, fragen sich die Realkeeper, was er überhaupt aussagen möchte. 

    Charlie: Marina Herlops Debüt erscheint im kommenden Jahr beim Berliner Label PAN. »Miu« lässt schon mal vermuten, dass sich der Sound weiter von ihrem Piano weg entfernt und sie sich unter anderem Bässen nähert, die sich hier in den Gesang zerren und die Struktur des Songs zerklüften.  

    Till: Zerklüftet ist gut, denn auch das Video fällt durch harte Schnitte auf, die den Schockeffekt der Bilder maximieren. Gerade durch die Nahaufnahmen der Geburten wird hier nur selten ein soziales Gefüge der Herde porträtiert, sondern eher naturalistische Fragmente. 

    Charlie: Visuell erinnert mich die erste Szene an die großartige Eingangssequenz von Carlos Reygadas’ Film »Post Tenebras Lux«. Dort läuft Reygadas’ kleine Tochter abends über einen verlassenen Fußballplatz, auf dem Kühe weiden und es wird zunehmend Dunkel, eine Düsternis kehrt ein und wie im Video von »Miu« schreitet ihre Silhouette durch den Rosa-Violett gefärbten Himmel. Beide Sequenzen sind im konzentrischen 4:3 gedreht und entfalten langsam eine halluzinatorische Bedrohlichkeit. 

    Till: Das Halluzinatorische wird eben durch Song und Video vor allem dadurch eingefangen, dass hier kein tieferer Sinn erkennbar scheint. Dabei ist die Hinwendung zur vom Sinn abgezogenen klanglichen Oberfläche schon der Gehalt selbst. Nichts anderes hat die Pop-Art gemacht. Aber wenn Andy Warhol die kapitalistische Gesellschaft durch Reproduktion subvertieren wollte, dann subvertiert Marina Herlop die Grundsätze der Natur. 

    Charlie: Die aggressiv montierten Schockbilder verschränken sich mit einer transzendentalen, rituellen Grundstimmung des Videos. Herlop, die im weißen Gewand in der Scheune steht und der Geburt teilnahmslos beiwohnt, scheint schon sehr engelsgleich. 

    Till: Dabei ist auch bemerkenswert, dass sich das Video kaum in den Vordergrund drängt, obwohl es natürlich stark und gewaltig affiziert. Der Song bleibt der Song und im Kopf, beinahe hypnotisch. Das Video erzeugt zumindest bei mir eine verstörende Grundstimmung, die sich auf die Erfahrung des Songs überträgt, ihn aber eher ausweitet, statt einzuschränken. 

    Charlie: In »Miu« kollidiert die meditative Klangwelt mit den unbarmherzigen, blutigen Bildern einer Kalbsgeburt, mündet aber am Ende in die friedliche Geste der liebkosenden Mutter. Die Bilder der Tiere dienen als emotionale Projektionsfläche. Dazu passt ein Zitat aus John Bergers Aufsatz »Warum schauen wir Tiere an?«: »Die Augen eines Tieres sind, wenn sie einen Menschen betrachten, aufmerksam und wachsam. Das gleiche Tier wird wahrscheinlich andere Tiere auf die gleiche Weise ansehen. Für den Menschen ist kein besonderer Blick reserviert. Doch keine andere Gattung als dies Menschen wird den Blick des Tieres als vertraut empfinden. Andere Tiere nimmt der Blick gefangen. Der Mensch jedoch wird sich, indem er den Blick erwidert, seiner selbst bewusst.«