Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: Oktober 2022

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Oktober mit Kali Uchis, SZA und Sevdaliza.

VISMUSOKT22
Die letzten Sonnenstrahlen des Oktobers schwinden, bevor selbst der gelbe Riese für einige Monate seine Kraft verliert. Grau und immer dunkler wird der Blick aus dem Fenster, doch das ewig leidige Thema mit der Zeitumstellung hat auch ein Gutes: Je früher der Sonnenuntergang, desto heller strahlen die besten Musikvideos der letzten Wochen vom Bildschirm. Lucrecia Dalt etwa vermag es, uns in extraterrestrische Trance zu versetzen – hier: Warnung bei Photosensitivität! Ins All – oder so – verschlägt es auch SZA im Video zu »Shirt« an der Seite von Lakeith Stanfield als Blaxploitation-Bonnie & Clyde. Auch mystisch, aber eher archaisch als futuristisch kommt das neue Video der gesalbten und gesalzenen Young Fathers daher, ein kultiges Filmchen aus der Brandenburger Wüste. TDE-Veteran Ab-Soul hingegen konzentriert sich auf das Hier und Jetzt, in dem er Besserung gelobt – und eine geschickte Referenz zu »La Haine« verfilmt. Kali Uchis verwandelt Paris zum Laufsteg, zieht blank und stellt marginalisierte Romantik (und sich selbst) in den Mittelpunkt – und Sevdaliza veröffentlicht im TikTok-16:9-Format eine eindrückliche Unterstützung der Proteste im Iran: »Woman Life Freedom«.

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  • Kali Uchis »No Hay Ley« (R: Torso Solutions)

    Till: So ganz genau weiß man nicht, was bei Kali Uchis passiert. Etwas aus dem Nichts kam »No Hay Ley«, gefolgt von einer Single für Sprite. Aber: Es stehen wohl zwei Alben an, eines auf Spanisch, eines in englischer Sprache. »No Hay Ley« sei musikalisch inspiriert von den kolumbianischen Nachtclubs ihrer Eltern, in denen sie zum Teil aufgewachsen sei, sagt Kali Uchis in Interviews. Das Video wiederum geht eher in eine High-Fashion-Richtung, orientiert sich an der momentan prägenden Y2K-Ästhetik. Die Sängerin stolziert, rennt, springt, tippelt durch Paris, abgesehen von den Stunts meist in der Bildmitte. So erinnert die Performance beinahe an einen Catwalk. Du sprichst doch Spanisch – wie verhält sich denn der Text zum Video?

    Charlie: Das geht ziemlich Hand in Hand. Der Titel heißt soviel wie »In der Liebe gibt es keine Gesetze«. Liebe wen du willst, wie du willst, egal wie die Außenwelt das beurteilt.

    Till: Apropos Beurteilung der Außenwelt: Die vermeintlichen Passanten im Video, die wahrscheinlich doch eher gecastete Statist*innen sind, zeigen erstmal recht wenig Reaktion, besonders in der Nacktszene.

    Charlie: Ja, es wirkt als wäre sie gewissermaßen unsichtbar, als wäre alles eine Wunschwelt. Besonders deutlich wird das am Ende, wo das Treiben in Straßen weitergeht und niemand sich für ihren Salto interessiert. Sowohl diese losgelöste Performance, als auch die raum-zeitlichen Gesetze ignorierenden Schnitte zwischen den Szenerien korrespondieren also mit Kali Uchis grenzenloser Haltung der Liebe gegenüber. So wie sich selbst in der Bildmitte positioniert, stellt sie auch ihre Bedürfnisse ins Zentrum.

    Till: In den gleichen Interviews beteuert sie auch, »No Hay Ley« sei ein Song »for girls and gays«. Die freie Liebe, die sie meint, ist also eine, die weiterhin marginalisiert wird. Dieser Aspekt korreliert natürlich mit ihrer Position im Bildmittelpunkt. Und auch mit ihrer Performance, möchte man diese als Ausdruck des romantischen Verhaltens interpretieren: Moves wie die hyperfemininen Tippelschritte, das Stolzieren mit geschwollener Brust, die athletischen Saltos, verführerische Tanzmoves, exponiert im Aufzug, all das bildet eine performative Vielfalt ab, die immer ein bisschen extra erscheint. Die Szene ab 1:40, in der Kali Uchis mehrmals die binären Grenzen der Rolltreppe überspringt und für Wirbel sorgt, kann dann durchaus als queere Symbolik gelten. Diese Inszenierung stellt eine mindestens interessante Entwicklung von der sehr heterosexuellen (Betonung auf sexuell) Performance gemeinsam mit Partner Don Toliver in früheren Videos wie »fue mejor« und »Drugs N Hella Melodies« dar. Zum Ende öffnet sich die Fixierung des Bildes und die romantische Vielfalt wird nun auch von vielfältigen Protagonist*innen verkörpert.

    Charlie: Inhaltlich knüpft das ziemlich eng an ihr letztes Album »Sin Miedo (del Amor y Otros Demonios) ∞« an, der Titel stellt eben auch ihre Furchtlosigkeit hinsichtlich der Liebe heraus und im Grunde seit ihrer Single »Know What I Want« von 2015 ist diese selbstbewusste Flucht nach vorne eine wiederkehrende Stoßrichtung ihres Werks, musikalisch ist dieser House-Flip allerdings relativ ungewohnt.

  • Sevdaliza »Woman Life Freedom« (R: Aiplague)

    Charlie: Sevdaliza hat sich für das Video mit der Animationskünstlerin aiplague zusammengetan, die auch andere Videos mit Bezug zu den Protesten im Iran produziert hat. In dem Video zu Sevdalizas Single, die den kurdischen Slogan der Aufstände aufgreift, morphen nicht nur Frauen- und Kinderkörper ineinander, auch Männerkörper werden sichtbar in den Transformationen der Menschenmenge (2:04). Die Haut der Frauen scheint konstant vom Regen zersetzt zu werden, manchmal legt sich ein Netz wie eine Membran über ihr Gesicht, manchmal zerfließen die Haare. Als sich der Song mit der Zeile »Free for a day« empor schwingt, gewinnt auch das Video an Pathos und die Tänzerin verwandelt sich in einen Vogelschwarm.

    Till: Nun, erstmal scheint ja diese Art der Animation wie gemacht für das Darstellen von Transformation auf individueller und gesellschaftlicher Ebene: Die Schlieren im Gesicht wirken in einem Moment wie Verletzungen, im nächsten schon wieder wie hängende Haare, die natürlich eng verbunden sind mit den aktuellen Protesten. Gerade ab 2:30 morpht die Kopfbedeckung der Frauen immer wieder zwischen Haarpracht und Kopftuch. Dass in der nächsten Sekunde schon wieder ein Netz über dem Gesicht liegt, erinnert natürlich an Raster und Scans, also auch an eine digitale Verfolgung.

    Charlie: Ja, und all die Wunden perlen auf einmal ab wie Regentropfen auf der widerständigen Haut. Die Staatsmacht scheint sich dagegen in Flammen aufzulösen und durch ihre eigenen Arme gefesselt.

    Till: Interessant finde ich auch das 16:9-Format, also die Eignung dieses Videos für TikTok und Reels. Klar, virale Verbreitung kann mehr Aufmerksamkeit generieren, und so weiter. Aber gewissermaßen antwortet Sevdaliza auch auf eine ambivalente Bildzirkulation im Kontext der iranischen Proteste: Einerseits freut man sich auf sozialen Medien über visuelle Dokumente des Protests, denn lange nicht alles, was im Iran passiert, bekommt man in Europa mit. Auf der anderen Seite steht die wahnsinnige Brutalität des Staates, die User unweigerlich in ihre Timeline gespült bekommen. Das ist vielleicht nochmal eine andere Diskussion, aber die Zirkulation von Bildern der Gewalt kann natürlich auch abstumpfend, normalisierend, spektakularisierend wirken. Sevdaliza setzt dem ihren viralen Traum der Freiheit und Solidarität entgegen.

    Charlie: Und sie erweitert diese symbolische, affektive Geste des Videos durch einen Discord-Channel, der Raum für Informationsaustausch und Reflektion bieten soll. Zudem verlinkt sie einen Artikel von Azadeh Pourzand zur Situation im Iran. Hat aber durch das Hochformat etwas eingeengtes, wie die Menschenmengen in den Screen gepresst werden. Manchmal auch etwas gruselig, wie die leeren Augen – und mitten in der Menge die Abblende ins Schwarz. Ein ziemlich offenes Ende.

    Till: Und noch eines habe ich mir gedacht beim Betrachten dieses Videos: Wie auch bei UWE in der letzten Ausgabe hat diese Morphung mittels AI (ist das so?) einen Nutzen darin, soziale Breite in einer einzigen visuellen Figur darzustellen. Durch die Veränderungen im Gesicht wissen wir hier bei einer Frau mit weinendem Kind, dass eben nicht diese Frau gemeint ist, sondern eine ganze Bevölkerungsgruppe, deren Grenze fluide ist. Im Falle von UWE dann eben auch ein bisschen schwammig. Trotzdem zieht sich hier ganz klar eine Dichotomie von Schmerz (Tränen, Regen, Schlieren, Schreie) und Freiheit (Vögel, Tanz, Kleider) durch Sevdalizas Video. Sicher kein Vorwurf, aber mich wundert schon, dass wir so viel Fantastik, Fluidität, Nuance in diesen gegenwärtigen Animationsvideos vorfinden – und trotzdem so einfache und traditionelle Symbolsysteme.

  • SZA »Shirt« (R: Dave Meyers)

    Till: Der Song ist tatsächlich nicht besonders neu, ein Snippet ging schon 2020 herum und trendete auf TikTok. Aber man kennt das ja mittlerweile: irgendetwas läuft immer schief zwischen SZA und ihrem Label. »Shirt« scheint nun der Vorbote auf ihr erstes Album seit 2017 zu sein. Gewissermaßen macht sie auch da weiter, wo »CTRL« aufhörte: Toxic love rules everything around me. Hier verkörpert durch ihren Partner Lakeith Stanfield, dessen Gesicht vielleicht aus »Atlanta« bekannt ist. Seine Figur dort ist eigentlich so durch, dass das Video zu »Shirt« auch ein kleiner Ausflug sein könnte. Jedenfalls sind die beiden hier in einem Bonny & Clyde-Szenario unterwegs, in der ersten Hälfte des Videos werden einfach viele Leute erschossen. Die übergreifende Ästhetik ist eigentlich schon Western-mäßig, oder? Aber natürlich auch Mafiafilm, Adventure à la Indiana Jones, psychedelisch und fischig wird’s in der Todesszene. Puh, was meinst du?

    Charlie: Dieses Zusammenschmeißen von Genrewelten fand ich eigentlich das Spannendste am Video. Der Regisseur Dave Meyers hat ja ein Faible für diese Blockbuster-Ästhetik, aber bleibt hier eben nicht einfach im anfangs angekündigten Blaxbloitation-Schema, sondern schielt auch mal Richtung Nun-Sploitation. Bekannt Meyers beispielsweise durch sein Video zu Kendricks »Humble«, dass auch schon durch seine Vielseitigkeit und die Ideendichte begeisterte.

    Till: Da hast du Recht, die Ideendichte ist das Verkaufsargument für uns. Wobei ich auch sagen muss: Auf dieses Gespräch über Energie zu Beginn hätte ich verzichten können. Das sind oft so Versatzstücke, die irgendwie bedeutungsschwanger klingen, aber am Ende völlig egal sind. Das Video kommt auf den talking point höchstens nochmal zurück, als sie wieder aufwacht, wenn er im Auto crasht – die Seelen scheinen irgendwie verbunden zu sein.

    Charlie: Das Video scheint ja auch eine Abrechnung mit der Vergangenheit zu sein. Nachdem sie sich blutend am Boden krümmt, steht auf dem Kennzeichen von Lakeiths Fluchtwagen wie ein Statement »NO CTRL«. Am Ende liefert sie ihn aus, Energy scheint also doch nicht alles.

    Till: Sie befreit sich von diesem spirituellen oder romantischen Band: Das Video endet mit der Sängerin als Küchenkraft im Imbiss, der zu Beginn eingeführt wird. Sowohl diese Einstellung als auch die Flucht auf dem Fischerboot deutet auf einen Ausbruch aus dem abenteuerlichen Leben, das wir präsentiert bekommen. Hinzu kommt: Mit jedem Mord malt SZA einen weiteren Punkt auf ihr Handgelenk, am Ende steht dort »SOS«. Das allerdings auch erst bei 3:00, nachdem sie ihren eigenen Schatten erschießt. Man muss natürlich auch nicht jegliche Paranoia und Kontrollverlust, die SZA hier inszeniert, im Hinblick auf ihre Karriere deuten. Schließlich weist auch die doppelte Bedeutung von »body count« auf das Thema der Liebschaften hin. Und »Shirt« erschien wie alle Releases von SZA weiterhin bei Top Dawg und RCA.

  • Young Fathers »I Saw« (R: David Uzochukwu)

    Charlie: An einem Strand, der in blaues Licht getaucht ist, lungern die Young Fathers und beobachten diverse Rituale. Berührungen, Salbungen und Tänze greifen ineinander. Als es Nacht wird, werden die drei zunehmend von der Energie, die sich um das Lagerfeuer entfaltet, angefixt. Das Video ist von David Uzochukwu. Der hat bereits mit 18 Jahren für Nike FKA Twigs fotografiert und nun sein erstes Musikvideo gedreht hat. Der Dreh fand übrigens 1,5 Stunden südlich von Berlin auf einem Minengelände mit großem Baggersee statt.

    Till: Kleine Wüsten südlich von Berlin sind tatsächlich gar nicht mal unbeliebt im Musikvideo-Game. Vielleicht ist das hier sogar die gleiche wie bei OG Keemo und Calman. Wären die Darsteller*innen dem weiß-deutschen Indie/Alternative-Dunstkreis entnommen, würde dieses Ritual im Brandenburger Hinterland wohl kein großes Aufsehen erregen. Die Gruppe im Video allerdings ist eben vorrangig nicht weiß und strahlt eine gewisse Queerness aus.

    Charlie: In einem Statement zum Song schreiben die Young Fathers: »It’s a big bully with shite down their leg, still swaggering. That pamphlet through your door blaming the establishment and immigrants for everything going wrong. The stench of long-dead empire, trudging along, a psychological hammer to your head in every step. The delusion.« Diese auf Abwege driftende Verblendung wird musikalisch in etwas Hypnotisches übersetzt. Der stampfende Bass, der wütende Wortschwall und dann der Chor mit den Zeilen »Brush your teeth, wash your face, brush your teeth, wash your face, run away«, denen auch etwas von Ritual und Ausbruch anhaftet.

    Till: Das Video, so war es mein erster Eindruck und so beschreibt es auch der Regisseur im Interview mit DAZED, bildet eine Kult-artige Community ab. Ihre Rituale zu benennen, fällt etwas schwer, ich versuche es mal: ein scheinbar lebloser, gesalzener Körper wird ab 1:07 berührt und auch abgeleckt, ab 1:10 kehrt auch der vielfach umgarnte Torso mit verdrehten Armen immer wieder, bei 1:45 wird rituell gewaschen oder gesalbt, der Tanz um das Lagerfeuer hat auch etwas mit den glühenden Stäben bei 1:49 zu tun. In diesen Ritualen findet die Gemeinschaft ihren Zusammenhalt, aber auch ihre Gefahr.

    Charlie: Ja, genau dieses Wechselspiel verhandelt der Song, der dringliche Beat verführt und warnt zugleich.

    Till: Was Uzochukwu im Interview schildert, ist eine universelle Erfahrung: Eine eng geknüpfte und eingeschworene Gemeinschaft geht mit der Selbstaufgabe des Individuums einher – im besten Fall entsteht hier soziale Heilung, im schlechtesten Selbstopferung. Das kann politisch gelesen werden: Die Eingeschworenheit schlägt in Barbarei um. Interessant ist die Idee aber auch in der ästhetischen Erfahrung: Kann etwa ein Konzert der Young Fathers, die auch hier im Video etwas distanziert und dennoch singend nebenan stehen, eine ähnliche Wirkung ausstrahlen? Da müssten wir mal in die Recherche gehen.

  • Ab-Soul »Do Better« (R: Omar Jones)

    Till: Nach SZA gleich das nächste TDE-Comeback! Ab-Soul samplet hier Nick Hakim, den wir diesen Monat auch in der Vorauswahl hatten. Vor allem aber veröffentlicht er einen Song zur Besserung, zum Wachsen und Fortschreiten im eigenen Leben. Was ich mich frage: Haben wir hier schon wieder eine »La Haine«-Referenz? Da gibt es ja die allseits beliebte und vielzitierte Szene, ein Mann fällt vom Hochhaus, dabei sagt er ständig: Bis hierher lief’s noch ganz gut. Und Ab-Soul fällt gleich zweimal in Zeitlupe vom Dach, bei 1:44 und 2:50, während die Hook verlauten lässt: »Gotta do better, I gotta do better, I gotta« – und so fort.

    Charlie: Glaube da könntest du recht haben, finde den Verweis gelungener und subtiler als die meisten La Haine-Bezüge der letzten Monate. Gefühlt so lange nichts von Ab-Soul gehört. Diese Puzzle-Ästhetik und spirituelle Zeilen wie »Slow down time, get back in line with my chakras« – so kennen wir ihn.

    Till: Das Puzzle ist eine treffende Beschreibung, denn als Zuschauer bekommen wir viele sehr kurze Einstellungen präsentiert, die sich in Ab-Souls Erzählung einfügen. Die Welt, aus der er kommt: Homies am Block, Würfelspiele, ein mit Takeoffs Tod derzeit unfreiwillig spannungsgeladenes Bild. Die Bereiche, an denen er arbeiten muss: Drogenkonsum, Beziehungsstress, familiäre Probleme. Und schließlich Bilder, die Richtung Zukunft weisen, insbesondere die Hand des Kindes bei 1:10, begleitet von den Worten »reach for the galaxy«. Diese Synchronisierungen sind nicht beständig, kommen aber immer wieder vor. Gerade gegen Ende des Videos ergibt sich so auch der Eindruck, dass die Versatzstücke aus Text und Bild sich zusammenfügen – etwa bei der Zeile »gettin‘ it off the curb«, bei 2:43 fließt dann Blut über eben jenen Bordstein.

    Charlie: Statt »A Song by Ab-Soul« steht ja zu Beginn unter dem Titel »A recollection of thoughts by Ab-Soul«. Das trifft es sehr gut finde ich, denn seine Texte sind eben lose Reflektionen, die Widersprüchliches miteinander verzahnen und sich auf fragmentarische Weise in die Tiefe einarbeiten. Ich finde ganz schön, wie nach diesen ganzen übernatürlichen Abschweifungen in den Bildern und neben all der Klaustrophobie und dem Schmerz im Text das Video gerahmt ist von dieser dokumentarisch anmutenden Szene, wo er auf einem Stuhl sitzt und einen Neuanfang manifestiert.

    Till: Diese Szenen suggerieren auf eine ganz andere Weise Nähe und Nahbarkeit, als es die Performance und ihre Einspieler im Video selbst vermögen. Was mir noch auffiel: Wir sehen Ab-Soul immer wieder ohne Sonnenbrille, bei 0:37 ebenso wie bei 0:41, 1:06, 2:14 und 2:32. Das ist insofern ungewöhnlich, dass Ab-Soul am Stevens-Johnson-Syndrom leidet und seine Augen extrem empfindlich gegenüber Sonnenlicht sind. Die Sonnenbrille ist in der Populärkultur sowieso ein Symbol von Maskierung und Schutz, aber für Ab-Soul eben auch gesundheitlich essentiell. Die Abbildung ohne Sonnenbrille markiert in »Do Better« deshalb eine besondere Öffnung gegenüber dem Publikum.

  • Lucrecia Dalt »Enviada« (R: Lucrecia Dalt & Nika Milano)

    Charlie: Das Video ist in Zusammenarbeit mit der mexikanischen Videokünstlerin Nika Milano entstanden. Sie selbst beschreibt ihre Arbeiten als »an extremely personal exploration of colour, oscillation, meditative states, nature, harmony and electricity.« Lucrecia Dalt ist ein der wohl gefeiertsten Künstlerinnen in der Ambient-Szene momentan und auch ihr aktuelles Album »Ay!« (genauso heißt ein berühmter Merengue-Track ist großartig. Das Album kreist um Preta, eine extraterrestrische Entität, die auf unsere Welt gelangt und diese nach und nach erspürt. Daher der sphärische Sci-Fi Sound, in dem Elemente aus Bolero und Merengue bloß noch wie Erinnerungen erscheinen.

    Till: Die grünen Zickzack-Streifen zu Beginn erinnern an das nigerianische Fußball-Nationaltrikot von 2018. Mal ein kleiner Denkanstoß. Jedenfalls: Ich wünschte, ich hätte heute keine Migräne, wenigstens für die Sequenz ab 1:06.

    Charlie: Ay, tut mir leid. An anderen Tagen ist das Video sehr schön.

    Till: Ich weiß nicht so recht, wie ich dieses Video beschreiben würde. Erst dachte ich: »hypnotisch«, aber tatsächlich ist das farbenfrohe Flimmern dafür ein wenig zu aggressiv. Trotzdem fühlte ich mich in Trance versetzt, wurde aber in den flackernden digitalen Mustern auch das Gefühl nicht los, gerade von Preta, der extraterrestrischen Entität, gescannt zu werden. Das ist nun schon mal eine Erfahrung.

    Charlie: Im Grunde begleiten wir hier Preta, verkörpert von Lucrecia Dalt selbst, auf ihren letzten Schritten, denn es ist bis auf den Epilog der letzte Track des Albums. Wie schon in den letzten Videos wird den Bildern philosophisch anmutende Zeilen vorangestellt. Die Zeit ist aus den Fugen geraten, Liebe und Zwietracht dominieren das Rad der Zeit. »Enviada« bedeutet so viel wie »Abgesandte«, kann sich aber hier auch auf die gesendeten Strahlen beziehen. Während Preta in den vergangenen Videos noch Berge, Wasser und Höhlen abtastete, scheint sie sich nun in einem zeitlosen, von Haptik befreiten Raum aufzulösen. Wiederholt singt sie »Die Zeit selbst ist eine transitorische Form, auf die die Ewigkeit eines Tages verzichten wird.«

    Till: Du sagtest »Sci-Fi«, aber ein Besuch von Außerirdischen muss ja nun nicht unbedingt etwas mit Wissenschaft zu tun haben, nicht wahr? Die Silhouette im Video wird beinahe himmlisch inszeniert – in erster Linie dadurch, dass sie nur schemenhaft zu erkennen ist, beinahe nebulös und immer begleitet durch diese tatsächlich unnatürlich anmutenden Farben- und Lichtspiele. Aber auch nur insofern unnatürlich, als dass sie eindeutig digital fabriziert sind. Wir haben diese dünnen Bildstreifen schon von Beginn an, ab 0:35 dieses recht rhythmisierte Aufrecht-Tropfen und bei 1:57 denke ich, ich müsste vielleicht auf den Balkon, um die TV-Antenne zu richten. Im Sound muss man da die zerknirschten Störgeräusche mit reinnehmen, beispielsweise bei 2:32. All das lässt mich weniger an Übernatürliches denken und mehr daran, wie man sich in den Achtzigern die Zukunft vorstellte. Das führt mich zu der Frage: Können wir uns keine Entität vorstellen, die mehr Zauber als Technik ist? Oder liefert das Album hierauf eine Antwort?

    Charlie: Ja, das Sci- können wir vielleicht streichen in Bezug auf die Figur, ich glaube bei mir hat eher dieser elektronisch verzerrte und traktierte Klang die Technik-Assoziation geweckt. Preta ist ja auch erstaunlich menschlich in ihrer Erscheinung, dafür dass sie aus irgendeiner Galaxie in irgendwelche Zeitschneisen geraten zu sein scheint. Nun schwirrt sie durch die analogen Farbwellen und sucht die Auflösung in der Illusion.