Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: Oktober 2021

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Oktober mit Apsilon, Wolfgang Tillmans und Stromae.

VISUALIZING OKT21
Till ist erkältet, Charlie hat sich kurz nach Aufnahme der Kolumne erkältet. Charlies Freundin Alina ist erkältet und wirft im Zoom-Call einige Anmerkungen ein. Dabei transportieren die Videos aus dem Oktober noch ein bisschen letzte Wärme, bevor die deutschen fünf Monate Regen eintreten. Apsilon beispielsweise zeigt seinen Kiez und seine Community und grenzt sich damit klar von einer weißen Dominanzgesellschaft ab, die bloß hoffen kann, solche Gemeinschaftlichkeit jemals zu spüren. C. Tangana und Jorge Drexler erzählen von Berührungen und Reaktionen auf dieselbe, während Stromae sein Glas auf diejenigen erhebt, die selbst nicht feiern können. BADBADNOTGOOD beeindrucken mit Collagekunst und Wolfgang Tillmans knüpft visuell an die Zeitgeistigkeit der eigenen Fotografie an. Und selbst das GENER8ION-Projekt von Romain Gavras zeigt in der Kollaboration mit 070 Shake Wärme und Freiheit in einer postzivilisatorischen Welt. Vielleicht wird’s ja was, vielleicht werden wir wieder gesund.

Die offizielle Playlist zur Kolumne findet ihr hier.

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  • Apsilon »Sport« (R: Foli Creppy)

    Charlie: Die Bilder sind sehr wholesome, sehr umarmend. Viele Menschen, die er anscheinend gern hat. Das Video ist getragen von einer Atmosphäre der Erholung, ein vermeintlich ganz normaler Sommertag. Der Stress, den die Hook mit »Renn ohne Stop, keine Zeit« vorgibt, wird im Video abgefangen. Stattdessen hängen alle in der Hood, primär in Moabit und selbst die arbeitenden Personen aus Charité und Lebensmittelladen entspannen für einen Moment im Sonnenlicht. Der Text eröffnet eine Marginalität, schafft wie bei einem Battletrack ein »Du« und »Wir«. Der Adressat ist eine reiche, privilegierte Dominanzgesellschaft.

     

    Till: Und vor allem jemand, der außerhalb dessen steht, was im Video gezeigt wird. Diese Abgrenzung funktioniert medial häufig über eine kämpferische Haltung, Apsilon stellt aber eher das Gemeinschaftsgefühl in seinem Freundeskreis und Kiez in den Vordergrund. Daher kommt die Wärme des Videos. Bei aller struktureller Benachteiligung führen er und seine Freund:innen immer noch das bessere Leben.

     

    Charlie: Genau, es geht natürlich auch um eine Reaktion auf diesen Ausschluss. »Meine Leute komm’n in kein‘ Club, deshalb lungern an ‚nem Späti«, das Video zeigt, wie sich sein Kreis eigene Räume gesucht hat, die durch Solidarität funktionieren. Es wird überhaupt nicht angestrebt, diesen Gegenübergestellten Lebensentwürfen nachzueifern. Zeilen wie »Keiner guckt auf sein Plus, hier wird alles schön geteilt, Bro« widerstreben ganz entschieden den neoliberalen Narrativen, die sonst in vielen anderen Raptexten kursieren. 

     

    Till: Das sind natürlich seine Freund:innen im Video, aber man kann auch ein paar erkennen.

     

    Charlie: Am Anfang ist die Autorin Şeyda Kurt zu sehen.

     

    Till: Am Ende die Journalistin Miriam Davoudvandi. Auch die Fotografin Meklit Fekadu und die Aktivistin Naima Amazigh.

     

    Charlie: Es wird eine gewisse Szene abgebildet und mit seiner Lebensform, seinem Ansatz Pop und Aktivismus zu verbinden, in Beziehung gesetzt.

     

    Till: Eine Szene, die eben auch im öffentlichen Diskurs die eigene Marginalisierung thematisiert. Wobei die nicht alle in Moabit wohnen… Fake!

     

    Charlie: Man erkennt natürlich viele Orte, wenn man den Kiez kennt. Der Spreebogen, BOLU an der Oldenburger Ecke Turmstraße,…

     

    Till: …Humana gegenüber. Der Basketballplatz ist an den Schienen im Park Grüne Meile nahe S Bellevue.

     

    Charlie: Da sitzen sie auch an der Spree.

     

    Till: Das Gebäude bei 0:39 ist am Hansaplatz, da hatte ich auch schon mal ein Fotoshooting. Bei 1:36 in der Nähe des Spreebogens. Es sind aber natürlich nicht nur Freund:innen, sondern auch Menschen, die durch ihre Arbeit die Kiezkultur prägen.

     

    Charlie: Das sind ja trotzdem Leute, die ihm in Moabit begegnen. Beispielsweise der Charité-Mitarbeiter bei 0:22.

     

    Till: Und natürlich die Verkäufer bei BOLU.

     

    Charlie: Die sind auch explizit als Arbeiter:innen in ihrer Arbeitskleidung und -kontext dargestellt. Auch Gemeinschaften spielen eine Rolle: Familie, Mutterschaft, Sportverein. Und er wurde von Ahzumjot jetzt ein bisschen unter die Fittiche genommen, wenn ich das richtig sehe? Der hat jedenfalls den Song produziert, das Video ist von 27BUCKS, die auch Designs und Videos für Ahzumjot und OG Keemo machen.

     

    Till: Der Song erschien auch über ein Sony-Unterlabel, Apsilon hat schnell Anschluss gefunden. Formal ist am Video noch das Bildformat interessant. Wenn befreundete Menschen portraitiert werden, bekommen wir ein klassisches 4:3 mit abgerundeten Ecken, die Farben sind sehr warm und sollen mindestens an das typische Kodak Gold der analogen Ära erinnern. Das erinnert ja schon etwas nostalgisches, wie die alten VHS-Kassetten von den Eltern anzuschauen. Oder ein visuelles Freundschaftsalbum. Die Szenen, in denen er wirklich performt, sind im 16:9 gehalten.

     

    Charlie: Der Winkel ist dabei auch anders.
    Till: Ja, weniger portraitierend – wie bei 2:02, eher aus einer Froschperspektive. Eine typische Rap-Perspektive, die den Künstler sehr groß erscheinen lässt. In der Performance konfrontiert er ja das »Du«, gegenüber dem er sich schon bedrohlich darstellt. Die Auseinandersetzung mit der Community geschieht auf Augenhöhe.

  • Jorge Drexler & C. Tangana »Tocarte« (R: Joana Colomar)

    Till: Was bedeutet denn »Tocarte«?

     

    Charlie: In etwa so viel wie: »Dich berühren«. Ganz interessant ist, dass im zwischenzeitlichen Abebben der Pandemie ein Video wie dieses erscheint, dass Berührungen in den Fokus setzt und zelebriert. Ein sehr sinnliches Video. Es gibt die stark erotisierte Komponente der Körper, aber auch Objekte werden berührt. Bei 0:47 wird das Wort beispielsweise auf einen Zettel geschrieben und herübergereicht. Bei 1:27 streicht der Protagonist über seine neue Arbeitskleidung.

     

    Till: Kurz davor gibt es das Glas, das bei Berührung überläuft. Und gleich danach die Blätter, die sich bei Berührung schließen.

     

    Charlie: Motive wie das randvolle Wasserglas, dass durch das zärtliche Gleiten des Fingeers zum überlaufen gebracht wird, sind natürlich durch den Kontext auch ein wenig erotisch konnotiert. Darüber hinaus dreht es sich aber auch viel um Modalitäten von Berührung. Mal zaghaft, mal stürmisch, mal genüsslich, mal entschlossen, mal zurechtweisend, mal verspielt wird über den Körper kommuniziert. 

     

    Till: Es geht natürlich in erster Linie um den Versuch der Berührung und die Reaktion darauf. Ein Austesten von Grenzen. Für eine Berührung muss zumeist eine Initiative ergriffen werden. Das sind die zentralen Momente des Videos – mit ganz unterschiedlichen Reaktionen. Auf den Pograbscher bei 0:36 folgt ein leichter Schlag gegen die Schulter, ganz anders ist die innige Umarmung in der Szene bei 1:15, bei der sie hinter dem Vorhang steht. Ab 1:03 gibt es die relativ lange Einstellung, in der Finger an angewinkelten Beinen entlang streichen, die Beine bewegen sich gar nicht, das ist eher etwas Abwartendes. Und selbst die Objekte, die berührt werden, zeigen eine Reaktion.

     

    Charlie: Was sich dann ja mit dem Ende verdichtet, weil der Reaction Shot auf den Blick der Protagonistin fehlt. Eine für uns Betrachter*innen uneingelöste Reaktion. 

     

    Till: Ihr ganzes Narrativ lässt sich so zusammenfassen, dass sie nach jemandem sucht, ihre metaphorische Hand ausstreckt. Was machst du aus der gegenläufigen Erzählung dieses Videos?

     

    Charlie: Der Restaurantbesitzer ist sehr interessant. Während man viele Paare und Zwischenmenschliches sieht, wird er dargestellt als jemand, der sein Geschäft liebt. Wie er über den weißen Kittel streicht, wie er das Geld sorgsam zählt, wie er die Rechnungen sortiert und die Blumen zurecht schneidet – Er scheint sehr in sich ruhen, wirkt sehr geschlossen und findet Schönheit im Perfektionismus.

     

    Till: Seine einzige zwischenmenschliche Berührung ist der Rempler der Protagonistin, vielleicht die einzige wirklich unabsichtliche Berührung des Videos.

     

    Charlie: Ich mag es sehr gerne, wie C. Tangana eingeführt wird.

     

    Till: Als Koch oder Küchenhilfe, der isst und spuckt.

     

    Charlie: Und vor allem, wie er beim Rausgehen seinen Kollegen noch kurz abklopft. Ein kurzer Check, der nochmal eine ganz andere Modalität von Berührung reinbringt. Ein wenig schließt es an das Video von Apsilon an. Wieder sommerlich…

     

    Till: …städtisch, gemeinschaftlich.

     

    Charlie: Parallele Erzählwelten.

  • Wolfgang Tillmans »Late For The Webinar« (R: Wolfgang Tillmans)

    Charlie: Kurze Einführung: Wolfgang Tillmans ist eigentlich berühmter Fotograf, aber immer schon mit enger Verbindung zur Musikwelt. Berühmt geworden ist er eigentlich im Kontext von Loveparade und Gay Pride, hat im Berghain ausgestellt und die Technoszene begleitet. In der Spex hat er schon früh Bilder veröffentlicht, heute macht er auch Musik.

     

    Till: Pop-Fotograf, könnte man sagen.

     

    Charlie: Das Video ist Teil einer Reihe an Musikvideos, die er auch selbst gedreht. Gleich im ersten Bild wird eine merkwürdige Kadrierung gewählt, weder Kopf noch Fuß des Hauptdarstellers ist im Bild. Das ist Franz Rogowski, gerade einer der begehrtesten deutschen Schauspieler. Mit »Love Steaks« und »Victoria« hatte er 2015 seinen Durchbruch. Was seinen Rollen häufig anhaftet, ist etwas liebenswert Dusseliges. Das finden wir leider auch hier. Angefangen hat er jedoch als Bühnentänzer und sein Spiel funktioniert immer auch viel über den Körper, weswegen er womöglich auch in diesem Musikvideo gut funktioniert. Bei Apsilon hatten wir noch dokumentarische Portraits von Arbeiter:innen, hier ist es ein offensichtlich sehr berühmter Schauspieler, der sich in diese Figur hineinversetzt. Man spürt in jeder Sekunde, dass er da überhaupt nicht reinpasst. Beispielsweise, dass er die Pläne ab 0:35 wie eine undurchdringbare Oberfläche behandelt.

     

    Till: Und auch, dass die Pläne komplett durcheinander, zerknüllt und beinahe unbenutzbar sind. Ab 1:57 sieht man auch nochmal, wie fehl am Platz seine Bewegungen und Gesten sind. Was immer er da versucht, mit der Brechstange zu machen, es wird nicht funktionieren. Trotzdem legt er auch noch die andere Hand an. Rogowski steht dieser Welt mit völligem Unverständnis gegenüber.

     

    Charlie: Keine sinnhafte Tätigkeit. Dass er noch die andere Hand dazu nimmt, präsentiert eigentlich bloß seinen angespannten Oberarm. Rogowski hat schon häufiger Arbeiter*innenfiguren gespielt, so wurde er beispielsweise von Peter Kurth im Film »In den Gängen« in den Kosmos eines Großhandels eingeführt, hier scheint ihn niemand wirklich an die Hand zu nehmen. 

     

    Till: Auch spannend, dass sie es schaffen, dieses Baustellenoutfit aussehen zu lassen, als hätten sie’s im KaDeWe geshoppt. Haben sie wahrscheinlich auch. Alles glänzt und sieht teuer aus, selbst die Arbeitsschuhe.

     

    Charlie: Was ganz nett ist, ist am Ende das völlig sinnfreie Vibrieren des Metallstabs, das synchronisiert sich so mit der Musik. Rogowski hält mit einer prüfenden Ernsthaftigkeit seinen Helm dagegen, als würde dieses Austesten irgendeine Funktion haben. 

     

    Till: Und hat mich dahingehend getäuscht, das Video nochmal anzuschauen, um weitere Synchronisationen zwischen Bild und Ton zu entdecken. Habe aber nicht viel entdeckt.

     

    Charlie: Der Titel deutet ja an, dass es um ein Gegenbild zum Leistungs- und Perfektionierungsgedanken geht.

     

    Till: Es tut mir leid, Wolfgang Tillmans, dein Video hat nach einer Woche bloß 482 Aufrufe gesammelt, zwei davon sind von mir. Vielleicht musst du mal Klicks kaufen wie alle anderen auch.

     

    Alina: Auch von seinen 272.000 Instagram-Follower:innen gab es für den Post zum Video nur 7.000 Aufrufe. Eher schwach.

  • GENER8ION & 070 Shake »Neo Surf« (R: Romain Gavras)

    Charlie: Romain Gavras, der dieses Projekt GENER8ION mitinitiiert, ist ein sehr berühmter Musikvideo-Regisseur. Er hat aber auch Feature-Filme gemacht, zuletzt lief in Cannes ein Film mit Vincent Cassel, der aus »La Haine« bekannt ist. Eines seiner bekanntesten Musikvideos ist »Stress« von Justice gewesen, das Kids aus den Banlieues zeigt, die die Stadt verwüsten und Leute verängstigen. Das hat damals eine riesige Debatte ausgelöst, wurde in Frankreich teils gar nicht gezeigt – Auch, weil gesagt wurde, darin würden rassistische Stereotype aktiviert. Das Video zu »No Church In The Wild« von Kanye West und Jay-Z stammt auch von ihm. Für Jamie XX zuletzt »Gosh«, viel für M.I.A. In seinen Videos geht es eigentlich immer um die Eroberung der Welt. Große Revolutions-Epen, die er erzählt. Sehr intensiv und stylisch.

     

    Till: In diesem ersten Musikvideo des GENER8TION-Projekts die Eroberung einer Welt, die die Zivilisation schon hinter sich gelassen hat.

     

    Charlie: Das ist so ein bisschen die Verschiebung, Athen 2034. Während die letzten Videos noch in der Revolte der Jetzt-Zeit verortet waren, hat dieses Video eher etwas von »Lord of the Flies«, Jugendliche im Nirgendwo. Die letzten Überlebenden…

     

    Till: …in Athen.

     

    Charlie: Ein Ort, der auch diesen Mythos als Geburtsstätte moderner Zivilisation in sich trägt. Der erste Kommentar unter dem Video versammelt die ganzen Drehorte, die an sich schon extrem eindrucksvoll sind und Spuren vergangener Hybris in sich tragen.

     

    Till: Auch cool, dass die tatsächlich in Griechenland sind. Das ist ja schon lange nicht mehr selbstverständlich. Und diese apokalyptischen Orte enthalten ganz viele Marker, die auf unsere Gegenwart hinweisen. Die untergegangenen Schiffe von heute sind die Ruinen von morgen. Wo 070 Shake im Video steht, diese Brüstung, das hat etwas von einer Grenze und ruft eben auch Bilder der Festung Europa auf. Aber warum dieser weirde Griechenland-Nationalismus? Wieso hat der eine Typ die Flagge im Auge? Und die andere Flagge bei 0:42, das ist die Stadtflagge von Athen. Vielleicht soll das dem internationalen Publikum nochmal bei der Verortung helfen?

     

    Charlie: Das finde ich auch komisch. Bei 0:58 schaut der Junge in den Himmel, da sind Vögel, die eben ein Unheil ankündigen. Langsam schieben sich auch Drohnen ins Bild, die als Ordnungsmacht anscheinend immer noch eine Bedrohung für die Jugendlichen sind. Wenn er die Drohne dann abschießt, kommen im Song die Stadionsounds rein, das klingt befreiend, losgelöst. Die E-Foil-Surfbretter am Ende sind ein ähnlicher Überrest dieser Idee von Modernität und technischem Fortschritt– kennst du die? Frank Thelen ist großer Fan

     

    Till: Heute noch Spielzeug der Reichen, morgen Mobilitätsgarantie für die Revolution. Die Surfer stoßen am Ende auf eine Stadt, die sehr nach Zivilisation und Industrie ausschaut.

     

    Charlie: Ja, beides. Bei 3:19 erkennt man den Jugendlichen mit den blonden Haaren auf dem Surfbrett, das scheinen also die Jungs aus den Outskirts zu sein. Am Anfang und am Ende gibt’s Augentropfen – vielleicht das Überlebenselixier?

     

    Till: Jugendliche spüren auf jeden Fall heute schon, dass die Welt in Zukunft genau so aussehen kann. Eine generationale Angst, ein Gegenwartsgefühl, das vor allem durch Zukunftsvorstellungen geprägt wird.

     

    Charlie: Der elementare Veränderungswille anderer Videos von Gavras ist hier schon beinahe begraben. Der Zugriff auf die Gegenwart scheint undenkbar, der Moment der Revolte kann nur noch in der Zukunft entwickelt werden. Romain Gavras ist übrigens der Sohn von Costa Gavras, auch ein berühmter Regisseur.

  • Stromae »Santé« (R: Jaroslav Moravec & Luc Van Haver)

    Till: Ich habe natürlich die deutschen Untertitel eingeschaltet. Stromae hebt in seiner großen Comeback-Single das Glas auf diejenigen, die selbst nicht feiern können – Weil sie arbeiten, die Gesellschaft am Laufen halten.

     

    Alina: Das geht von Garderobe über Putzkraft bis hin zu den Fischern auf dem Meer.

     

    Charlie: Im Zentrum stehen Lohnarbeiten, die zu sehr frühen oder späten Zeiten stattfinden. Die Zeitspanne, in der andere tanzen gehen. Eingeführt wird das Video mit den verwaschenen Umrissen und Farben früher Morgenstunden, in denen sich dann der müde Blick der Verkäuferin spiegelt. Der ganze Song ist eine feierliche Ansprache, »Santé« bedeutet nicht nur »Gesundheit«, sondern auch: »Prost«. Diese Tanzanweisungen im Video haben was von TikTok-Challenges.

     

    Alina: So weit würde ich mich nicht aus dem Fenster lehnen.

     

    Till: Puh… Ich weiß nicht. TikTok ist eben der Ort, an dem Tänze zurzeit zu Bekanntheit kommen, klar. Aus meiner Sicht ist daran bloß vielleicht spannend, dass es auf TikTok auch gerade Firmen und Arbeiter:innen sind, bei denen die Tanzvideos dadurch einen extra Kick bekommen, dass man die Ausgelassenheit von ihren Protagonist:innen nicht erwarten würde. Kleinere Firmen nutzen das ganz gezielt: Letztens wurde mir der Account einer norddeutschen Tankstelle in den Feed gespült, deren Mitarbeiterinnen allerlei Challenges filmen und hochladen.

     

    Charlie: Im Video ist es auch eine Lieferkette, die dargestellt wird. Und: Wieder Arbeiter:innen, das zieht sich diesen Monat schon durch. Auch hier Porträts. Durch Bildschirme und Poster werden die Figuren animiert und gleiten in eine traumhafte, ekstatische Sphäre. 

     

    Till: Plakate dieser Art, mit Arbeitsinstruktionen, sind ja recht normal in den jeweiligen Berufen. Und im Callcenter ploppt die Notification mit den Tanzschritten auf, auch in dem Fall ein gewöhnlicher Weg, von der Chefetage über etwas informiert zu werden.

     

    Charlie: Ein wenig knüpft es natürlich an dieses Märchen von der Work-Life-Balance an. Auflockerungsübungen im Webinar, Morning Yoga und frisches Obst am Arbeitsplatz.

     

    Till: Das ist der Fallstrick von »Santé«, denke ich. Stromae läuft Gefahr, bloß auf dem Balkon zu klatschen. Durch diese Chanson-Gestik des Liedes kann man sich vorstellen, wie er in feiner Gesellschaft mit Orchester auf der Bühne steht und sein Glas auf die Kellner:innen hebt – Real ändert sich für die aber nichts. Das Video soll uplifting sein, ist vielleicht aber auch ein wenig von oben herab. Aber was soll er schon tun, außer Aufmerksamkeit und Respekt zu schaffen?

     

    Charlie: Dazu bleibt der Ausbruch im Video ja bloße Fantasie: Die Frau tanzt im Restaurant, die Gäste essen jedoch ganz normal weiter. Eine traumhafte Unmöglichkeit.

     

    Till: Stromae kommt im Video selbst auch bloß als Geber der Instruktionen vor. Dabei wäre es vielleicht sogar interessant, ob er nicht auch selbst Ausbruchsfantasien hegt, beim Konzert daran denkt, wie es wohl jetzt auf dem Sofa wäre.

  • BADBADNOTGOOD »Timid, Intimidating« (R: Winston Hacking)

    Till: Der Regisseur, Winston Hacking, hat in den Kommentaren einige Fragen zum Video beantwortet. Da erfährt man beispielsweise, dass all diese Szenen tatsächlich on location gedreht wurden, mit großen und kleinen Pappaufstellern, die von einer sechsköpfigen Crew präpariert und gehalten wurden. Das macht Einstellungen wie bei 0:34 mit den Schuhen natürlich umso beeindruckender. Einige Szenen wurden wohl auch mit einem Greenscreen vor Ort gedreht. 

     

    Alina: Auf Instagram sieht man: Herr Hacking ist auf jeden Fall Collagekünstler.

     

    Charlie: Man sieht häufig, wie Stäbe aus dem Bild ragen. Da ist ein stolzer Dilettantismus spürbar – oder jedenfalls der Unwille, das digital zu entfernen. Gepaart mit einer hingebungsvollen Affinität für die analoge Arbeit am Bild, an der Illusion. Beispielsweise bei 2:28 mit der Kaffeetasse und dem Berg. Schöner Shot, bei dem wir als Zuschauende uns mehr über den geglückten Einfall freuen, als über die Komposition selbst.

     

    Till: Ich denke, das Video lässt sich in drei Phasen unterteilen, auch instrumental begleitet. in der ersten Minute läuft die Arbeit darauf hinaus, dass die Pappzuschnitte sich mit der Natur zu neuen Formationen organisch verbinden. Bis 2:43 gibt es dann viele Einstellungen, in der die Konstruiertheit dieser Bilder sehr betont wird. Die Kamera selbst wird hier aktiver, das Spiel mit der Bildtiefe intensiver. Das wird deutlich, indem die Formationen explizit zusammengesetzt oder aufgelöst werden, eine gewisse Vorläufigkeit der Verhältnisse. Ganz besonders bei 2:04 zu beobachten. Die dritte Phase bis zum Ende des Videos zeichnet sich dadurch aus, dass die Gebilde komplexer werden und die Bilder selbst uneindeutig. Dass sich Collagen drehen und damit neue Bedeutung gewinnen, etwa bei 3:35 mit dem Vogel und der Frau. Es wird gezeigt, dass selbst ein konstruiertes Bild diverse Interpretationen hervorrufen kann. Die Kamera arbeitet dabei wieder enger mit der Illusion des Videos selbst zusammen. Die Übergänge zwischen den Phasen werden dabei bei 0:57 und 2:43 durch eine Collage einer Kamera mit beinahe surrealistischem Raster sichtbar gemacht.

     

    Charlie: Da habe ich gar nicht viel mehr zu sagen. Winston Hacking ist auf jeden Fall kein unbeschriebenes Blatt, hat zum Beispiel im vergangenen Jahr mit Flying Lotus und Run The Jewels gearbeitet. Auch im New York Times Magazine hat er bereits Werke veröffentlicht. Das neue Album von BBNG war jetzt insgesamt nochmal konzentrierter im Jazz verortet. 

     

    Alina: Collagenkunst und Jazz haben auch in einer ähnlichen Zeit an kultureller Bedeutung gewonnen und sind künstlerischer Ausdruck einer modernen Erfahrung. Dazu gehört auch Improvisation mit dem Material, das vorliegt.

     

    Charlie: Dadurch wird es sehr symbiotisch. Auch die appropriierten Bilder scheinen einer vergangenen Zeit entsprungen zu sein.

     

    Till: Jazz und Collage besitzen ebenfalls ähnliche Grundtechniken: Das Neu-Zusammensetzen, das Zirkulierende, aus dem später Sampling als kulturelle Praxis hervorgeht. Wenn die Kaffeetasse auf den Berg trifft, ist das der Inbegriff von call and response.