Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: November 2022

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im November mit Haftbefehl, Brockhampton und Nathy Peluso.

VISMUSNOV22
Ein letztes Mal VISUALIZING MUSIC, bevor der überaus besinnliche Winterschlaf ruft. Aber: Schöne Bescherung! Und irgendwie dreht sich doch einiges um Familie, wie passend. Brockhampton-Member zieht es zur Auflösung der selbst gewählten Familie (lies: Boygroup) nach New York, wo ihn ein hektisches Straßenspektakel erwartet. Weniger gehetzt, aber genauso aufregend geht es auf der einsamen Gasse zu, in der Nathy Peluso auf ihren Traummann trifft, den sie ganz in Michael Jackson-Manier bezirzt. Das Video des Duos MONEYPHONE aus Toronto zeigt wiederum unzählige Straßen, Plätze, Laufstege, Tanzstudios, meist aus Selfie-Perspektive gefilmt – die Familie ist hier das Archiv und das Netzwerk der Orte, durch die sie verbunden ist. Ganz in Isolation begibt sich Montell Fish, alleine im Ballsaal, mit einer geladenen Lichtchoreografie. Und dann wäre da noch Vater und Lebemann Haftbefehl, der eine großartige Miniserie zum durchwachsenen Album »Mainpark Baby« veröffentlicht. Familie auf der Flucht, Familie im Sarg, so beginnt und endet die exemplarische Geschichte aus der Offenbacher Hochhaussiedlung.

Hier geht’s zur Visualizing Music-YouTube-Playlist!

Liste starten

  • MONEYPHONE »Mink« (R: David May)

    Till: Das ist sehr schöne Musik mit einem sehr schönen Video, aber das Duo namens MONEYPHONE gehört diesen Monat zu den eher unbekannten Acts in unserer Kolumne. Kannst du mir die beiden einmal vorstellen?

    Charlie: MONEYPHONE besteht aus den Highschool-Freunden Enoch Ncube and David May aus Toronto, die bei 0:17, 0:22, 1:09 und ich schätze, auch bei 2:01 im Bilderrahmen zu sehen sind. Nach den EPs »Tolerance«, »Athletes« und »Faith« steht ein neues Album mit dem Titel »World Peace Inside Me« in den Startlöchern. Toronto war in den letzten Jahren immer mal wieder ein Ort, von dem aus spannende neue Artists wie BLACKSTARKIDS oder MorMor auftauchen. Das Splitscreen-Video von MONEYPHONE driftet sehr schön von Bild zu Bild, finde ich.

    Till: Auf jeden Fall ein Video, bei dem ich denke, ich sollte mir noch einen zweiten Fernseher zulegen. Die werden schon auch Arthur Jafa gesehen haben, oder? Das dachte ich mir zumindest bei der Szene mit der Sonne bei 1:14. 

    Charlie: Ja, ich denke das ist schon eine ziemlich direkte Referenz, diese appropriierte Aufnahme der glühenden Sonne mit ihren Eruptionen ist eins der bekanntesten Fragmente aus »Love is the Message the Message is Death« und auch im Musikvideo zu Kanyes »Wash Us in the Blood« korrespondieren die glühenden Plasmaschläuche der Sonne mit der wuscheligen, orangenen Perücke von Richard Pryor im Splitscreen. Bei MONEYPHONE verwandelt sich derselbe Feuerball zum rot leuchtenden Mond. 

    Till: »Your family is the archive« steht in der Videobeschreibung, das gibt den Anschein: Die verwendeten Videoschnipsel sind nicht irgendwo aus dem Internet gezogen, sondern direkt aus dem engsten Umfeld gesammelt. Gerade von 2:35 bis 2:55 haben wir es aber wohl mit Aufnahmen zu tun, die nicht speziell für das Video angefertigt wurden, zumindest den Schnitten und dem Text im Bild nach zu urteilen. 

    Charlie: Genau, bei 2:35 folgt ein Bilderstrudel aus alten Musikvideos des Duos und die eigenen Bilder stehen immer wieder im Wechselspiel mit vorgefundem Kram, der sich meist vor allem rhythmisch einbettet in die Komposition. 

    Till: Verstehe! Die alten Musikvideos kenne ich noch nicht. Lustig natürlich, so früh in einer jungen Karriere solch retrospektive Szenen zu inszenieren. Ich mag sehr gerne, wie die beiden Screens immer wieder synchronisieren. Bei 0:24, 0:48 und 1:41 scheint das ja von den beiden absichtlich so gefilmt zu sein. Dann gibt es natürlich noch Stellen wie bei 1:10 und 1:53, in der Montage und Assoziation eine große Rolle in der Synchronisierung steht. Auch in den einzelnen Screens gibt es nahtlose Übergänge, in denen man den Schnitt unsichtbar gemacht hat, bei 1:51 wird die Kamera im linken Bild von der Natur auf den Laufsteg gedreht.

    Charlie: Ja, diese fluiden Übergänge widerstreben ein bisschen der schwer greifbaren Distanz, die im Text mit Zeilen wie »Home is so far away« aufgegriffen wird. Diese Unüberwindbarkeit und die voranschreitende Zeit werden im Video spielerisch überbrückt. 

    Till: Diese Selfie-Optik geht mir leider ästhetisch ein wenig auf den Sack. Davon habe ich nach 5000 Influencern und bald drei Jahren pandemische Home-Stories genug. Aber: Das Lied handelt, wie du gerade angedeutet hast, ja auch von der Familie und der Distanz zu ihr, da wirkt die Selfie-Cam des Smartphones natürlich hier auch als verbindendes Element im sozialen Netzwerk.

  • Brockhampton »Big Pussy« (R: Alex Huggins & Harrison Fishman)

    Till: Mit der Auflösung von Brockhampton ist jetzt wohl doch wirklich eine Ära zu Ende gegangen. Brockhampton hat zum Abschluss gleich zwei Alben veröffentlicht, beide sind… okay? »The Family« ist sehr intensiv, aber nur Kevin Abstract rappt drauf. »TM« hingegen beinhaltet alle Brockhampton-Member, es handelt sich aber um nicht ganz zu Ende gedachte Skizzen, die noch übrig waren. Das Ende ist ein wenig unwürdig: die Trennung der Boygroup war schon länger angekündigt, das Label wollte aber noch zwei Alben, damit die Jungs ihren Vertrag erfüllen. Kevin Abstract rappt hier ja sogar: »The label needed thirty-five minutes of music«. 

    Charlie: Ja, solche vertraglichen Zwänge hat ja hierzulande zuletzt auch Megaloh problematisiert, dessen Album »Drei Kreuze« in drei Monaten entstehen musste, weil es eben das letzte in seinem Vertrag war und der Titel verweist unter anderem auch auf diese schwerwiegenden Kreuze, die man da unerfahren auf dem Papier hinterlässt. Dass nun Kevin Abstract mit der Tragödie allein fertig wird auf »The Family« ist ja auch bezeichnend, er war ja irgendwie immer schon das kreative Zentrum, von dem das meiste ausging.  

    Till: Stimmt – dem Album selbst tut das nicht durchgehend gut. Ich halte »Big Pussy« aber für einen großartigen Track. Der Beat ist toll, zu Beginn natürlich wilder Jazz, dann diese verzerrte Bassline, später ein bisschen hellere Klangfarbe mit diesen Oldschool-Drums. Ich glaube wirklich, so würde der Wu-Tang Clan 2022 klingen. Also, wenn er noch jung und neu und cool wäre. Das Video wurde tatsächlich in New York gedreht – und ich finde, das sieht man auch sofort. Ich könnte dir aber nicht sagen, wieso. 

    Charlie: Ja, dieses hektische Straßengetummel in flirrenden Aufnahmen und einem exzentrischen Figurenensemble ist halt relativ typisch für Inszenierungen von New York. Die Stimme von Kevin Abstract schlüpft hier immer mal wieder in die Körper, die er auf den Straßen vorfindet und auch das Sample von Smoothe Da Hustler bei 1:58 wird von einem Sandwich-verputzenden Passanten hervorragend gelipsynct. 

    Till: Interessant natürlich auch die Stelle zu Beginn, an der das N-Wort einer älteren weißen Dame in den Mund gelegt wird. Da liegt das Spannungsverhältnis von »Big Pussy«: Einerseits die New Yorker Street-Ästhetik, andererseits sind die typischen New Yorker Freaks heute ganz andere Gestalten als in der Golden Era. Ein wenig queer, ein wenig zerfallen die Körper, aber sie bewegen und behandeln sich mit Grazie, mit Mitgefühl und Stolz. Sie sind gebrochen, aber gehen erhobenen Hauptes da raus. 

    Charlie: Ich mag an dem Video vor allem diese überbordenden Eindrücke, die mit den vielen unsortierten Gedanken von Kevin Abstract verschmelzen. Er erzählt sowohl von Wut gegenüber der Auflösung, aber auch von Stolz, von Enttäuschung, aber auch von Nostalgie. Mit den Bildern von Handknochen zerquetschenden Absätzen, romantisch davon fliegenden bunten Luftballons, spielenden Kindern und blutenden Nasen ergibt das einfach eine tolle Collage mit vielen Rissen. 

  • Nathy Peluso »Estás Buenísimo« (R: Rogelio & Felix Bollain)

    Charlie: Nathy Peluso mal wieder in einer neuen Welt. Diesmal in den 80ern. Ein Flirt in einer abgelegenen, verwüsteten, dunklen Gasse, ein grelles Licht und plötzlich flaniert das Objekt der Begierde dort entlang – in diesem Fall das Model Jon Kortajarena. 

    Till: Der Typ kann doch überhaupt nicht mithalten mit der hervorragend gestylten Gang von Nathy Peluso. Er sieht ein bisschen nach »Die Hard« oder »Terminator« aus. Und: Er ist auch wirklich der einzige, der so gar nicht mithält, was die Performance angeht – als wäre er in ein Musical gestolpert und wüsste nicht, wie ihm geschieht. Ich weiß natürlich, dass die Architektur dazu gar nicht passt, aber die leeren, schummrigen Straßen erinnern irgendwie an Western. Andererseits vielleicht auch »West Side Story«… Und das rothaarige Mädchen bei 1:30 – darf das schon als »Annie«-Referenz gelten?

    Charlie: Hmm, ich weiß es nicht, mir scheint es schlicht ein Mädchen, dass zur selbstbewusst flirtenden Nathy hinaufschaut.  Das Video ist angelehnt an den Clip zu Michael Jacksons »The Way You Make Me Feel«

    Till: Ach sooo! Ich habe mich gerade gestern gefragt, ob die Teens, die jetzt zehn Jahre jünger als ich sind, überhaupt noch den Michael-Jackson-Mythos verstehen. Dabei habe ich selbst die Referenz nicht mal geschnallt. Shame on me.

    Charlie: Es werden natürlich wie häufig bei Peluso Genderrollen geflippt. Während Michael Jackson im Video aufdringlich einer jungen Frau hinterherrennt, die ihm immer wieder entwischt und am Ende dann vor einer blau leuchtenden Fontäne in die Arme fällt, rappt Nathy Peluso über die Anziehungskraft eines Mannes– auch weil in der Musikgeschichte dieser lustvolle Flirt viel seltener von Frauen ausgeht, wie Peluso in einem Interview betont, wohingegen Millionen Songs von umgekehrten Fantasien existieren. Ihre entschiedenen Bewegungen, die manchmal ins Vampirische gleiten, sind also auch als Ermutigung für das kleine Mädchen zu verstehen, tradierten Rollenbildern zu misstrauen.   

    Till: Was mir schon bei Nathy Pelusos »Mafiosa« gefiel, zuletzt aber auch bei Kali Uchis’ »No Hay Ley«  Die sehr schöne und recht aufwändige Choreografie findet nicht auf der klassischen Bühne oder im Studio statt, sondern in der scheinbaren urbanen Halböffentlichkeit. Einerseits bringen diese Musikvideos also die Außenwelt viel stärker mit ins Spiel – andererseits geht damit ein gewisser Herrschaftsanspruch, wenn auch nur ein getanzter, über die Straße, das Viertel, die Stadt einher. Kali Uchis regierte ja eben nicht bloß den Catwalk, sondern machte ganz Paris zum Laufsteg. 

  • Yves Tumor »God Is A Circle« (R: Jordan Hemingway)

    Till: Huh, das ist aber ein schöner Trash-Horror. Auferstehung, Nonnen, Nazis, da ist alles dabei. Und vieles davon recht leicht bekleidet, daher darf man das Video erst ab 18 sehen.

    Charlie: Der Regisseur Jordan Hemingway hat zuletzt auch ein ziemlich tolles Video für die Single »Curses« von Miriam gedreht, das sich in 90er-Goth-Horror-Gefilde begibt. Auch Yves Tumors Video zu »Secrecy Is Incredibly Important To The Both of Them« (Platz 4 in meinem Spotify-Wrapped) hat Hemingway zu verantworten.

    Till: Geheimhaltung scheint dir wohl doch nicht so wichtig zu sein, wenn du das so frei heraus erzählst? Bei mir steht immerhin »Diet Coke« auf Nummer 3, das hatten wir ja auch besprochen. Genius schreibt bei »God Is A Circle« von toxischer Beziehung und emotionaler Distanz, das Video hingegen bekommt vielfältige politische Impulse. Natürlich einmal durch das Verhältnis zu Kirche und Religion: Nonnen mit Hintern-Auschnitt, ein kreuzförmiger Tisch sowie das Eisbad im Kreuz. 

    Charlie: Bei »God is a Circle« fließen so abseitige Genres wie »Nunsploitation« hinein, ein Genre aus den 70ern, in dem gelegentlich auch Blut fließt und die Nonnen im Zölibat ihr häufig queeres Begehren entdecken. Das Genre hat zuletzt durch Paul Verhoevens »Benedetta« (2021) einen kleinen Hype erfahren. Auf Mubi gibt es eine tolle Liste

    Till: Bei Herrn Doktor musste ich recht schnell an Josef Mengele denken, nicht zuletzt, weil gleich darauf eine Szene folgt, in der Nazis die Polöcher ihrer Gefangenen inspizieren. Schon recht analfixiert, das alles. 

    Charlie: Ja, Naziploitation ist ein weiteres verwandtes Genre, das hier anklingt, aber da hol ich jetzt mal lieber nicht aus. 

    Till: Du wirst bestimmt etwas zum Atem sagen wollen, nicht? Das durchgehende Atemgeräusch ist schließlich fester Bestandteil der Musik – und auch visuell haben wir gleich zu Beginn eine zusammengekauerte Person mit roten Haaren, die sich mit diesen Atembewegungen synchronisiert.

    Charlie: Das akzelerierte Atmen zu Beginn trägt natürlich einmal diese erotische Dimension in den Song hinein, aber auch den Grusel, das ständige Flüchten von Yves Tumor aus den Szenerien, in die er hinein taumelt. Zunächst wird ihm Leben eingehaucht, eine Auferstehungsgeschichte, die auch einen Leidensweg darstellt, beginnt. Wie ein Untoter ersteht er aus dem Waldboden auf, wird dann fast von Nonnen verspeist, von einem Arzt vergiftet und im Eisbad ertränkt, von Nazis inspiziert, bis er in den Himmel steigt und der Kreislauf endet. 

    Till: Dann bleibt wohl zu hoffen, dass er nicht wieder im Wald ausgegraben wird.

  • Haftbefehl »Mainpark Baby« (R: Chehad Abdallah)

    Till: Wer diese Kolumne liest, hat vielleicht sogar schon meine Rezension zu »Mainpark Baby« gelesen und weiß: Ich bin kein riesiger Fan vom neuen Hafti-Album. Nichtsdestotrotz: Diese Miniserie ist richtig gut. Und ich wage mal eine These: Haftbefehl hat sich so ein krasses Standing erarbeitet, dass er wirklich bloß weniger als das bare minimum machen braucht – und durch die tolle, sinnstiftende Arbeit der Leute um Haftbefehl herum wird alles, was unter seinem Namen erscheint, mit wahnsinnig großer Bedeutung aufgeladen. Heißt in diesem Fall: Chehad Abdallah, Simon Dat Vu, Hiua Aloji und Sebastian von Gumpert entwickeln in dieser fünfteiligen Reihe ausdrucksstarke Erzählungen von Flucht, Armut, Rassismus, die als sinnstiftender Rahmen für »Mainpark Baby« gelten dürfen, obwohl Haftbefehl diese Themen lyrisch nicht wirklich ausfüllt. 

    Charlie: Ja, gehe ich mit. Ich würde gar nicht unbedingt erwarten, dass Hafti mit seinen Lyrics die Themen ausfüllt, seine Erzählungen sind ja sonst gerade so plastisch, weil sie so zerstückelt und fragmentarisch die Themenkomplexe schärfen. Auf seinem neuen Album klingen die Zeilen leider häufig wie neu zusammengesetzte Bausteine. Die Clips etablieren zunächst ein ganz schönes Verhältnis von langen Kamerafahrten und zusammengestauchten Schnittfolgen. 

    Till: Ah, vielleicht nochmal die technischen Details. Die Miniserie behandelt fünf Stationen des exemplarischen Lebenslaufs eines »Mainpark Babys«: Flucht, Unschuld, Leben, Pein und Tod. In diesen fünf Folgen treten jeweils andere Protagonisten auf, aber tatsächlich immer junge Männer in dieser Offenbacher Lebenswelt, die man aus den Liedern von Haftbefehl schon lange kennt. 

    Charlie: Die Kamerafahrt entlang der Gesichter fand ich sehr gelungen, es sind eben diese Jungs, für die Hafti primär Musik macht und die zu ihm hinaufblicken, in denen sich aber auch seine eigene Biografie spiegelt. 

    Till: Ich bin jetzt schon halb verzweifelt, weil ich die ganze Zeit denke, das sei eine visuelle Referenz an ein anderes Video. Vielleicht aber ist diese Szene einfach ein ähnliches Setting wie in den Videos zu Haftis »1999«-Trilogie. In der dritten Folge läuft auf einem Smartphone auch das Video zu »Ihr Hurensöhne«.

    Charlie: Die dritte Folge fand ich dagegen relativ abgedroschen, da wurde ein effekthascherisch aufgeladenes Bildrepertoire abgerufen, dass so schon tausendmal inszeniert wurde. Die Geldzählmaschine, die wachsende Pupille, das lila Licht… 

    Till: Sicher, Folge drei erzählt eine klischeehafte Geschichte aus dem klischeehaften Leben eines Pushers. 

    Charlie: Diese visuelle Bedeutungsaufladung find ich auch etwas gezwungen. Zum Beispiel wenn die Teufel-Tarot-Karte eingeblendet wird, das ist so Fingerzeig-Deepness. Wikipedia sagt: »Der Teufel symbolisiert das Totale und Widerspruchslose, seine Thematik ist die Macht und die Ohnmacht. Auf dem Weg des Helden symbolisiert sie die Gewissensprüfung.« Natürlich kann man das auch für Haftis Odyssee geltend machen, aber vielleicht reichen auch einfach seine Texte. 

    Till: Dass diese Videos viel mehr Bedeutung und Eindruck erzeugen als die Musik selbst, ist natürlich vor allem ein Problem für Haftbefehl, der eben Musiker ist Diese Szene zu Beginn der dritten Folge, die du meinst, da folgen kurze Einstellungen aus dem Leben eines Pushers aufeinander: Kaufen, wiegen, strecken, kochen, hacken, packen, sniffen, Geld zählen – alles klappert, rattert, surrt, summt und brodelt. Natürlich kennt man das alles schon. Jede dieser winzigen Einstellungen könnte eine Zeile sein, in der Haftbefehl wortgewaltig aus dem Dealerleben erzählt – weil ihm das aber auf »Mainpark Baby« aber eben nicht so richtig gelingt, bin ich ganz froh, dass wir diese visuellen Klischees in Sekundenschnelle abhandeln können. 

    Charlie: Die leicht surreale Folge 4 und die zwar etwas bedeutungsschwangere, aber gleichsam vielschichtige Folge 5 sind dann wieder spannender. 

    Till: In der letzten Folge gibt es diese recht lange Sequenz, in der der Vater (?) des Verstorbenen ein Gedicht rezitiert, unterbrochen von klassischen Hafti-Bars wie: »Ich bin ein Junge aus’m Ghetto und hab Koks gestreckt«. Es ergibt sich ein Wechselspiel zwischen neuer und alter Welt, zwischen Offenbacher Plattenbau und Heimat der Eltern, zwischen Gangsta-Rap und kurdischer Folklore – dieses Spannungsverhältnis liegt auch dem Auftritt von Mikaîl Aslan in der ersten und der »Müslüm Gürses«-Zeile in der zweiten Folge, vielleicht eben der postmigrantischen Erfahrung insgesamt zugrunde. Häufig legt die Musik von Haftbefehl dieses (auch mehrgenerationale) Spannungsverhältnis offen, häufig ist sie gerade dann besonders gut. Bei »Mainpark Baby« hat es eben etwas visuelle Hilfe gebraucht.

  • Montell Fish »Exscape« (R: Montell Fish)

    Till: Jetzt haben wir natürlich schon ewig zu Hafti schwadroniert. Montell Fish macht tolle Musik und hat kürzlich eine tolle EP veröffentlicht. Dieses Video ist auch toll. Viel verändert sich nicht, aber mit jeder neuen Belichtungssituation könnte das Bild ein neuer Bestandteil einer Serie von Ölgemälden sein, finde ich. Ja, wirklich wie zwischen Horrorfilm und Fine Art. 

    Charlie: Ja, ein reduzierter, subtiler Suspense, jede Lichtstimmung enthält das Potenzial einer dramatischen Veränderung, aber letztendlich ist es bloß der Wechsel von Weiß zu Rot.