Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats November 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. In der Oktober-Ausgabe unter anderem mit Loyle Carner, Keke und Oneohtrix Point Never.

VISUALIZING NOV
Lockdown Light, Lockdown Hard. Dass wir alle nach Möglichkeit zuhause bleiben und einen großen Teil unserer Zeit vor Bildschirmen verbringen, schlägt sich im November auch in unseren Musikvideos des Monats nieder. Dabei geht es vorwiegend um die Praxis des Samplings, allerdings in der Arbeit mit visuellem Material. Oneohtrix Point Never bedient sich älteren Filmen und Fernsehästhetik, während im Musikvideo der Gabriels der Fernseher selbst eine zentrale Position einnimmt. Yves Tumor wirft uns in Zeiten des CinemaScope, während Kinos weiter geschlossen bleiben und Perfume Genius entführt uns mittels VHS-Optik in seine Traumwelt. Weiterhin können wir uns mit KeKe neuer Single nicht identifizieren, aber genau das macht das Video so großartig. Und Loyle Carner & Madlib verbildlichen den Loop des Lebens. Was Till Wilhelm und Charlie Bendisch dazu zu sagen haben, lest ihr auf den folgenden Seiten.

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  • Loyle Carner & Madlib »Yesterday« (R: Coyle-Larner Brothers)

    Till: Vielleicht mal im vorhinein: Die Kombination aus Loyle Carner und Madlib ist bei Release auf große Begeisterung gestoßen. Dazu sollte man aber erwähnen, dass der Beat schon vorher veröffentlicht wurde, nämlich im Jahr 2014 als Teil des Soundtracks zu dem Stones Throw-Film »Our Vinyl Weighs A Ton«. Die 10“ habe ich sogar zuhause. Du wolltest gerade erzählen, dass du mit Carner mal einen Whiskey getrunken hast?

    Charlie: Das war 2016 bei einem seiner ersten Konzerte in Berlin, da war er noch nicht so bekannt. Man hat richtig gemerkt, er war aufgeregt und berührt, dass so viele Leute kommen. In Berlin hatte Loyle Carner schon früh eine große Fanbase, große Aufmerksamkeit kam durch den Song »Florence«. Nach dem Gig hat er Poster verschenkt und zu Shots eingeladen. Da bin ich auch noch zu einem Whiskey geblieben.

    Till: Zum Video: Durch diese Loop-Struktur erzählt Carner seine Lebensgeschichte. In Kombination mit Sample und Titel, der Fokussierung auf das Gestern, steht hier das selbst Erlebte im Fokus. Es geht also in seinen Raps nicht unbedingt um die großen Träume von Ruhm und Reichtum, sondern um die Verarbeitung des eigenen Lebens.

    Charlie: Familie und Bescheidenheit sind zentrale Motive bei ihm. Das überträgt sich auch auf seine ruhige Delivery. Er bleibt sich selbst treu. Das zeigt sich auch daran, dass das ganze Video in seinem alten Kinderzimmer stattfindet.

    Till: Man könnte sagen, das Zimmer ist der Mindspace, in dem sich sein Leben abspielt. So gelesen: Die Grundpfeiler bleiben dieselben, nur die Wanddekoration und Einrichtung ändert sich. Mal ist es Fußball, mal die US-Rapstars und später seine eigene Karriere, seine Familie und Freund:innen. Vom Plattenspieler zum Recording-Studio. Und auch: vom Kinderbett zurück zum Kinderbett.

    Charlie: Interessant ist auch die kleine Mediengeschichte im Video. Zunächst der Plattenspieler, dann das Schreiben mit Stift und Papier, später kommt Handy, Laptop und Heimstudio hinzu. Dazwischen sieht man auch den Fernseher, auf dem Berichte der London Riots laufen. Da liegt auch eine gewisse Nostalgie drin. Während das Auflegen der Platten als Kind etwas Spielerisches und der Bleistift nach dem ätzenden Schultag etwas Therapeutisches repräsentiert, wird mit dem Dispositiv des Laptops eine Distanz zur Außenwelt, mit dem Handy Streit und mit dem Fernseher eine Überfrachtung assoziiert. Die Kopfhörer bieten dagegen einen Eskapismus, eine Abkapselung an und das Mikro absorbiert dann die angestauten Emotionen.

    Till: Visuell wird auch ganz viel rübergebracht, was zwischen den Lebensabschnitten passiert. Was sich ja bei vielen Videos anbietet, aber bei diesem besonders: All diese Fotos, die an der Wand hängen, lassen sich sicher auf bestimmte Ereignisse zurückverfolgen. Digital Mining. Das Datum, das bei 02:20 Minuten im Kalender markiert ist, ist beispielsweise das Releasedatum seines letzten Albums, »Not Waving, But Drowning«.

    Charlie: Oder bei Minute 1:38, da sehen wir kurz in der rechten Bildhälfte das »Madvillain«-Albumcover als Poster an der Wand hängen, welches dann im Schlussbild noch einmal aufgegriffen wird mit dem gesprayten MADLOYLE-Poster.

  • Oneohtrix Point Never »Lost But Not Alone« (R: Josh & Benny Safdie)

    Charlie: Regie geführt haben hier die Safdie Brothers, ein jüdisches Brüderpaar aus New York. Zuletzt haben die beiden die Filme »Good Time« (mit Robert Pattinson) und »Uncut Gems« (mit Adam Sandler) veröffentlicht. Da spielt zum Beispiel auch The Weeknd mit. Oneohtrix Point Never hat bei diesen beiden Filmen den Soundtrack produziert, im Zuge dessen gab es auch schon ein gemeinsames Musikvideo zu »The Pure And The Damned«, wo unter anderem eine creepy Animation von Iggy Pop durch die Bilder geistert.

    Till: Oneohtrix Point Never hat vor kurzem ein Album veröffentlicht, »Magic Oneohtrix Point Never«. Das ist sehr gut, verhältnismäßig ruhig und an die Ästhetik des Radios angelehnt.

    Charlie: Wie die Musik ist dieses Video etwas aus der Zeit gefallen. Der Vibe ist 80ies, wie viele Elemente der derzeitigen Popkultur.

    Till: Das Video ist sehr medienreferenziell, hierin entstehen auch die Brüche. Um das mal aufzudröseln: Wir sehen Ausschnitte aus einem älteren Horrorfilm, Werbeauszüge und einen Bericht über eine sterbende Schimpansendame, die übrigens lange Zeit im Leipziger Zoo gelebt hat. Obwohl der Fernsehbericht alt aussieht, ist dieser Tod erst im Jahr 2016 vorgefallen.

    Charlie: Gerade zu Beginn werden wirklich viele Szenen verwoben, dort sehen wir auch Aufnahmen, die wohl aus privaten Videorekordern stammen.

    Till: Die Familienszene sieht zunächst aus wie ein Sitcom-Setting.

    Charlie: Die Figurenkonstellation, die Räume und die Bildtextur scheinen ziemlich vertraut, aber natürlich wird hier nur Gewohntes simuliert. Es wird keine bereits existierende Sitcom appropriiert, sondern eine Art hybrides Kind dieses Genres imaginiert. Das merkt man spätestens ab dem Punkt, an dem ein Smartphone verwendet wird. Es bildet in dieser Umgebung einen merkwürdig asynchronen Fremdkörper. Das Smartphone stellt für mich auch eine Parallele zu Loyle Carner her: Auch hier wird die entfremdende Dimension der Medien und ihrer Affekte mit ihrer Funktion als Zufluchtsort verhandelt. Und am Ende landen wir im Kinderzimmer, in dem der Protagonist seine Träume auslebt. Da hängen sogar wieder die Poster der Vorbilder an der Wand.

    Till: Der Horrorfilm, dessen Ausschnitte wir hier sehen, heißt übrigens »Curtains« und erschien 1983. Die Kritiken fielen damals nicht besonders gut aus. Interessant ist aber, dass es dort um Morde im Hollywood-Kontext geht, eine Schauspielerin als Täterin. Gelobt wurde auch die Atmosphäre des Films, die wenig furchteinflößend, aber recht beunruhigend sein soll. Horror ohne Schock, das spielt hier vielleicht eine Rolle. Sitcom und Horror hat Danny Brown übrigens schon mal verbunden, im Video zu »Ain’t It Funny«. Ganz anders, aber es gibt doch Parallelen. Hier passt das Smartphone nicht in die Zeit, Danny Brown raucht Crack beim Fernsehabend. Das Bedürfnis, die heile Welt des Unterhaltungsfernsehens aufzubrechen, ist an beiden Stellen vorhanden.

    Charlie: Nochmal zum Smartphone: Das hat ja hier für den Protagonisten eine große Bedeutung. Erstmal wird er aber dabei erwischt, wie er sich ein Video von Gräueltaten anschaut. Das Retro-Feeling ist mit subtilem Horror angereichert. Gerade in diesem heiteren Sitcom-Safespace birgt das überall verfügbare Grauen eine alles zersetzende Bedrohung. Die Safdies und Lopatin haben eine gewisse Affinität für die düstere, entfremdende Ebene hinter harmonischen Oberfläche. Bei »Uncut Gems«, der sowohl filmhistorisch als auch musikgeschichtlich eine Hommage an die 70er ist, haben sie zum Beispiel Meditationsmusik genommen und einen wunderbar stressigen, verzerrten Soundteppich daraus gewoben. Einen derartigen Überschuss an Affekten haben wir auch im Video zu »Lost But Not Alone«, diese Fragmente aus schrillen TV-Ads, dem abgehackten Arm, dem sterbenden Affen oder der bahnbrechenden Euphorie am Ende – all das ist ja komplett überfordernd.

    Till: Zum Ende des Videos sehen wir noch ein Datum, den 08. Februar 1996. Der hat große Bedeutung für die US-amerikanische Mediengeschichte. Mit dem »Telecommunications Act« wurden Monopolstellungen im Bereich Radio und TV ermöglicht, wenn nicht sogar gefördert. In der Konsequenz nahm die Diversität von Repräsentation und Berichterstattung in Medien ab, während das Business immer größer wurde.

  • KeKe »Ladies« (R: amaaena & Nicola von Leffern)

    Charlie: Wir haben hier ja sträflicherweise nie über das »WAP«-Video gesprochen. Das hier erinnert mich aber daran – es wird ein schöner, auch luxuriöser Safespace geschaffen. Was für Cardi B und Megan Thee Stallion die Villa ist, ist für KeKe die Hotelsuite. Die einzige männlich gelesene Person tritt als Stripper auf.

    Till: Mit dem Song und dem Video kann ich mich nicht identifizieren. Das finde ich enorm gut. Denn ein Großteil der Musik, die Woche für Woche veröffentlicht wird, zentriert das sozial männliche Geschlecht. In dem Song sagt sie genau, an wen sich die Musik richtet, im Musikvideo sieht niemand aus wie ich. Zu sehen, dass es Musik mit Pop-Ambitionen gibt, die mir als Cis-Mann explizit keine Identifikation bietet, ist ein von mir gern gesehener Ausgleich.

    Charlie: Adressiert werden wir natürlich trotzdem. Eine andere, im HipHop übliche Aussage: »Das ist für die Jungs aus dem Block.«

    Till: Klar, die Musik höre und genieße ich trotzdem. Ich weiß aber, dass das nicht meine Lebensrealität ist und dass ich da nicht mitzureden habe. Es gibt ja immer noch viel mehr Produkte, die auf mich zugeschnitten sind.

    Charlie: Man wird auch, wie im Video zu »WAP«, in diesen Raum wie eine Besucher*in eingeführt. Mit dem Blick über die Schulter und auch den Blick in den Raum. Die ganzen Spiegel sorgen anschließend für eine gewisse Desorientierung und potenzielle Erweiterung des Raums, ähnlich wie in »WAP« die vielen verschiedenen Türen unendlich viele Welten eröffnen.

    Till: Die Positivität und Solidarität, die das Video vermittelt, finde ich auch erwähnenswert angesichts des Hasses, den KeKe tatsächlich auch innerhalb der Rapszene erfährt. Sie spricht offen über mentale Krankheiten und Body Positivity, äußert sich auch regelmäßig politisch.

    Charlie: Den Song kann ich mir auch gut als politische, heilende Hymne auf Demos vorstellen – im Video wird getrunken, gefeiert und das Leben genossen. Dazu gehört jedoch auch, dass eine der Darstellerinnen eine feministische Zeitung liest. Die Auseinandersetzung mit Theorie und Geschichte, Repräsentation, das Sich-gut-gehen-Lassen und die Solidarität werden hier als feministische Praxis herausgestellt.

    Till: Gleichzeitig hat sie auch sehr ernsthafte Zeilen, die große Ungerechtigkeiten behandeln.
    Der Song hat Kraft und Optimismus, ist aber nicht gezwungen fröhlich. Visuell werden hier auch Motive behandelt, die textlich wichtig sind. Die Dichotomie zwischen Trennung und Einheit. Aber über die Spiegel eben auch die Wiedererkennung im Anderen, also genau Identifikation.

  • Yves Tumor »Kerosene!« (R: Cody Critcheloe)

    Till: Wir schauen jetzt die unzensierte Version, die kann man über den Link in der Beschreibung finden.

    Charlie: Die Anfangsszene verweist auf David Cronenbergs Film »Crash«, ebenso die übergeordnete Verschränkung von Technologie und sexueller Lust. Visuell sind dort einige klare Referenzen zu finden. Yves Tumor dreht das noch ein bisschen wilder auf. Dadurch, dass das Video im CinemaScope-Format präsentiert wird, wirkt das gleich wie altes Hollywood.

    Till: Die Frau, die hier Golf spielt, hat hier für mich den Zweck, durch das Video zu führen. Im Sinne von: Sie ist der Grund für das, was passiert. Auch wenn wir nicht genau wissen, was ihr Motiv ist. Wie ein Todesengel. Der Regisseur sagt: »We set out to create an epic rock-n-roll swindled story around a motley crew of characters as they navigate a day in the life of what should be called the Hottest/Nastiest love-triangle in what’s left of Middle America.« Auf gewisse Weise braucht es also keine Gründe, Ziel ist hier die maximale Portion Rock’n’Roll.

    Charlie: Bei 01:30 Minuten haben wir wieder eine Sequenz, in der unterschiedlichste Bilder collagiert werden. Es geht um die Untermalung des Gitarrensolos, aber auch um die Perspektive des Golfballs, der durch Zeit und Raum fliegt. Der Regisseur spielt gerne mit dem Irritationsmoment des Essens. Bei King Princess Song »Prophet« wird sie als Kuchen verspeist, genau wie Slowthai letztens. Diesmal ist es der Golfball, der meiner Meinung nach kurz eine Mozzarella-Textur entwickelt, bevor er zum Ei wird. Essen wird bei ihm oft mit Horror verbunden, beim Crash später sieht man auch zwei Eier platzen.

    Till: Bei der Restaurantszene finde ich schön, wie die Kamera von einer ruhigen Filmkamera zur wackeligen Handykamera übergeht. Im Autohaus sehen wir das Video dann wiederum auf dem Bildschirm, es ist viral gegangen. Wiederum eine kleine Parallele zum Video von Oneohtrix Point Never. Nach dem zweiten Crash ist das Paar aber tot, statt sexuell engagiert.

    Charlie: Ein Gruselfaktor ist sicherlich enthalten, auch ein Retro-Flair. Durch die Unergründbarkeit erinnert das Video etwa an David Lynch. Bei Yves Tumor und auch bei dem Regisseur spielt sichtbare Queerness in den Musikvideos eine große Rolle. Es geht um Exzess, Ausbruch und Freiheit. Genderkonstruktionen sind fluid, das merkt man beispielsweise in der Anfangsszene.

  • Gabriels »The Blind« (R: Gabriels)

    Till: Wieder einmal leite ich ein mit den Aussagen der Band: »‚The Blind‘ is a song about why people can’t see a truth that is right in front of them. […] While it has heartbreak at the heart of it – we wanted it to empower people to take a deeper look at themselves, trust their instincts, and remove themselves from anything that isn’t serving them, whatever that may be.« Ich denke erstmal, Blick-Konstruktionen sind in diesem Video ganz wichtig. Die Frau, die wir im Video sehen, beobachtet auf einem alten Fernseher den Mann, der in einem Hotelzimmer sitzt und singt. Damit entsteht schon ein Machtverhältnis.

    Charlie: Wir schauen einer Projektion zu. Man ahnt zwar am Anfang schon, dass hier von einem Fernseher abgefilmt wurde, aber der eigentliche Raum, in dem dieser Fernseher steht, ragt erst nach 45 Sekunden ins Bild. Spannend ist ja auch, dass gerade der Raum, in dem performt wird, wo Bewegung stattfindet, nur durch das Medium im Video präsent ist.

    Till: Ich fühle mich an Polizeifilme erinnert.

    Charlie: Stimmt, als hätte sie ihn ausgeliefert. Sie beobachtet jetzt genau, was passiert und schaut diesem hilflosen Mann zu. Sie hat viel mehr Wissen über die Situation als er. Als würde er auf sie warten, sie würde aber nicht kommen. Sie sieht jetzt, wie er die Enttäuschung erlebt. Ein bisschen wie die letzte Szene eines Films, als wäre das ganze Drama subtrahiert worden. Das könnte eine Lesart sein.

    Till: Mit dem Team im Hintergrund hat sie Ressourcen. Im Hotelzimmer steht ein weiterer Fernseher, darauf zu sehen ist ein Verhör. Dieses Wissensgefälle ist im Endeffekt das, was in der Beschreibung angesprochen wird. Selbst mitten in der Situation sieht dieser Mann nicht, was los ist. Die zweite Protagonistin ist zum Zuschauen verdonnert. Sie schaut ihm beim Scheitern zu.

    Charlie: Ihr Blick ist von Mitgefühl und Wärme gezeichnet, vielleicht auch Schuldgefühl. Was sich durch alle Videos dieses Monats zieht, ist die Referenz auf ein anderes Medium. Hier ist es der Röhrenfernseher mit seinen flimmernden Streifen einem bläulichen Farbton. Das kalte Blau wird mit der kuscheligen Wärme der Hütte kontrastiert.

    Till: Gebrochen wird die Illusion unter anderem dadurch, dass die auf dem Fernseher gezeigten Aufnahmen so stark editiert sind. Wäre das eine Überwachungskamera, gäbe es ja keine Bewegung, keine Zooms, keine variierenden Winkel. Das Video ist stellenweise mit der Musik stark synchronisiert. Viele Schnitte liegen auf dem Akkord-Anschlag, bei der Zeile »When you’re close to me« sehen wir eine extreme Nahaufnahme.

    Charlie: Eine dahingehende Lesart wäre, dass sie sich eine Fassung ihres Films anschaut und dieser Moment ihr selbst unerwartet nahe geht. Interessant ist auch, dass ab Minute 2:49 der Bildausschnitt nahezu identisch bleibt. Wackelig haftet unser Blick an den gefilmten Augen, aus denen neun Sekunden später eine Träne fließt. Als hätten wir nun ihre Perspektive eingenommen.

  • Perfume Genius »Some Dream« (R: Charles Grant & Hunter Ray Barker)

    Till: Einer der Regisseure, Hunter Ray Barker, hat auch schon ein Video Essay für »Vice« produziert. Er bezeichnet sich selbst als Dokumentarfilmer, aber sicherlich fließen dabei viele fiktive Elemente mit ein. Das erklärt vielleicht auch ein wenig den scheindokumentarischen Stil des Videos. Dieser Schweinemann wird ja bei alltäglichen Tätigkeiten gezeigt. Am Ende des Videos sehen wir den Schauspieler ohne Schweinemaske. Er fühlt sich nie Mensch unter Menschen, jetzt ist er nicht einmal mehr Schwein unter Schweinen. Charles Grant, der andere Regisseur, sagt: »We are all pigs.«

    Charlie: Über dem Video liegt eine starke Melancholie, die mehr vom Lied kommt als vom Visuellen. In letzter Zeit hatten wir öfters Schweinemänner, aber eher im negativen Kontext. Bei Rico Nasty & Kali Uchis beispielsweise als Wesen einer patriarchalen Dystopie, sonst natürlich oft im antirassistischen Kontext in Texten wie Pink Siifus »run pig run«. Für Perfume Genius scheint das aber eine Figur zu sein, die Zuflucht bedeutet. Es scheint, als würde er sich in diesem Traum ausleben, auch wenn es ihn nicht automatisch glücklich macht, sondern stattdessen mit einer extremen Verlorenheit verbunden ist.

    Till: Ach ja, Perfume Genius zu dem Thema: »The song is about the sort of dream world I keep myself in, in order to write. Sometimes I wonder if there will be real world costs for staying there too long. I don’t want to pick my head up after a bunch of years go by and see a bunch of songs but nobody to love.«

    Charlie: Auch an seinem Arbeitsplatz finden sich keine Menschen. Das hat etwas Apokalyptisches.

    Till: Auch mit ihm im Auto sitzen nur verzerrte Fratzen. Menschen, die genauso entfremdet sind, wie er selbst. Insgesamt ein Prozess des Tier-Werdens, der aber scheitert. Da könnte man dann ganz viel über Kafka sprechen.

    Charlie: Der Blickwechsel mit den Schweinen ist interessant. Er versucht ja, sich darin wiederzuerkennen. Die Schweine wirken aber im Gegensatz total niedlich. Seine Projektion löst sich auf.