Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: Mai 2022

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im April mit Kendrick Lamar, BLOND und A$AP Rocky.

VISUALIZING MAI 22
Bunte Fliesen und Tapeten, mit Blut besudelt. Ein Körper, an Schläuche angeschlossen – der Kopf platzt. Kalter Schweiß, bunte Halluzinationen. Ständige Transformation, der Arbeitsplatz erlangt Selbstständigkeit. Die Geburt abgetrennter Hände aus einer fleischfressenden Pflanze, die Geburt abgetrennter Köpfe aus einer überdimensionalen Hand – Schädel, die Wurzeln schlagen. Zeit läuft rückwärts, alles vorherbestimmt. Schläge ins Gesicht, Schläge in den Bauch, Schuss aus der Pistole in den Torso. Dunkle Halle, rote Organe, frisch verliebt. Leichte Schritte durch Herz und Leber, Crocs auf der Schleimhaut, ein Ohrring in RNA-Helixform. Das Gesicht des größten Rappers unserer Zeit ist keine Konstante, verwandelt und transformiert sich, Hände vor die Augen, plötzlich schaut O.J. Simpson heraus. Und A$AP Rocky macht Rihanna einen Heiratsantrag in der Plattenbausiedlung. Nichts für schwache Nerven – das sind die besten Musikvideos aus dem Mai.

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  • MAD REY »Bientôt La Lumière« (R: Hedi & Thami Nabil)

    Charlie: Ah krass, die finale Szene wird noch nachgeschoben. Versteht man jetzt alles?

    Till: Ich glaube, er ist einfach tot.

    Charlie: Diese Tapete ganz zu Beginn ist schon wild.

    Till: Die Wolken außerhalb des Fensters deuten noch gar nicht auf die Großstadt hin. Zeichnerisch ist das eine starke Mischung zwischen europäischem Zeichentrick und modernem Anime, »Tintin« meets »Akira«. Das Video ist natürlich japanisch angehaucht, die Tapeten, die Inneneinrichtung, die Katanas.

    Charlie: Klar, auch die ganzen Tropes: Hochhäuser, Motorrad, diese Neo Noir-Stimmung.

    Till: Die Mode hingegen ist wieder sehr französisch, besonders die Trainingsanzüge. Was hat deine Google-Recherche gerade ergeben?

    Charlie: Nur, dass Hedi & Thami Nabil auch schon ein Musikvideo für die Red Hot Chili Peppers produziert haben. Französische Illustratoren – auf jeden Fall eigenwillig, was die machen. Hier changiert am Ende der Zeichenstil nochmal komplett.

    Till: Schon bei 00:43 geht’s einmal ins Dunkle mit den klaren Outlines, bei 02:56 switcht es dann komplett.

    Charlie: Ansonsten präsentiert das Video total übersättigte Bilder, etwas ungewöhnlich. Es gibt keine klaren, einfachen Flächen, sondern ganz viele unterschiedliche Schraffuren und Texturen.

    Till: Super knallige Farben, sehr schnelle Schnitte – Es passiert ständig etwas. Es gibt hier keinerlei Stillstand, kaum ein Verharren auf einzelnen Gegenständen. Selbst das Format ändert sich immer wieder für Highlight-Shots.

    Charlie: MAD REY ist übrigens ein französischer House-Produzent, der bei Ed Banger Records unter Vertrag steht und zuletzt auch schon mit Rappern kooperiert hat. Daher kenne ich ihn. Hier steht das Video aber total im Vordergrund, seine Produktion ist eher wie ein Soundtrack.

    Till: Kannst du die erzählte Story komplett nachverfolgen?

    Charlie: Nee, nicht komplett. Man kennt einige Tropen aus Spionage- und Sci-Fi-Filmen.

    Till: Es gibt auf jeden Fall Jäger und Gejagte, es gibt Drogendeals und Auftragsmorde. Und dann noch »Clockwork Orange«-mäßige Experimente. Da wird jemand zum Superkrieger gemacht, aber die Einstellung mit den aufgespannten Augen erinnert natürlich stark an Kubrick. Ich bin natürlich großer Fan dieser Settings, das Café ist total schön mit den Fliesen. Auf der Werbetafel steht dann einmal kurz »Paranoid«, ab da drehen dann alle durch. Mehr Horror, mehr Trips, mehr Kampf, mehr Schweiß.

    Charlie: Das Video driftet natürlich ein wenig ab in dystopische Gefilde und tendiert manchmal zu Splatterelementen, Körper werden an Schläuche angeschlossen und explodieren. 

    Till: Die Wahrheit gewinne immer, heißt es am Ende. Der Sieg sei nah und Friede mit dir. Aha. Da wird nochmal ein wenig abgeschlossen mit der Hektik und Paranoia dieses Fiebertraums, er liegt einfach tot im Regen.

  • The Smile »Thin Thing« (R: Cristóbal León & Joaquín Cociña)

    Till: Wir brauchen dringend mal ein paar Videos, in denen einfach weniger passiert. Am Anfang wird hier aus dem Nichts ein Schreibtisch geboren, ein Arbeitsplatz. Das ist der Ursprung allen Übels. Dann beginnt derselbe zu qualmen und transformiert sich.Der Monitor als Kopf, der Ventilator als Waffe, die Lampen als Augen. Der menschliche Gebrauch der Technik wird abgeschafft, die Maschine übernimmt selbst Agency.

    Charlie: Transformers, ja. Das wird allerdings dann auch wieder zerstört und stattdessen graben sich Wurzeln durch den Raum.

    Till: Daraus wächst kurz darauf die sehr brutale Natur der fleischfressenden Pflanze, die dann wiederum Körperteile ausspuckt. Das ist fast wie eine Geburt, hier aus der Pflanze, später aus der riesigen Hand. Aber es sind eben immer nur Fragmente, nie kommt ein ganzer menschlicher Körper zusammen, nie ein funktionstüchtiges Lebewesen. Diese Unterarme brennt dann ab, wird wieder zu Wachs.

    Charlie: Diese gruseligen Transformationen und die Stop-Motion-Technik zeichnen den Stil des Regieduos aus. Das ist immer sehr faszinierend. Im Kino-Festival-Bereich sind León und Cociña recht bekannt, berühmt geworden mit einem Film über die Colonia Dignidad. Ganz scary Geschichte: Zu Zeiten von Pinochet gab es in Chile eine deutsche Sekte in der Nähe von Santiago, ganz gruseliges Camp in der Wüste. Anführer war Paul Schäfer, der bereits in Deutschland wegen Pädophilie und Misshandlung von Minderjährigen auffällig wurde. In Chile wurde er und seine christliche Sekte von der Diktatur gedeckt. Es gibt darüber verschiedenste Filme, auch einen mit Emma Watson und einen von den beiden hier, der hieß »La Casa Lobo« (https://youtu.be/EEc3R3Pn0FA). Auch der war geprägt durch ständige Transformationen.

    Till: Auf Wikipedia findet man dazu auch ein beinahe programmatisches Zitat der Regisseure: »Wir mögen das Organische, Zufällige, Flüchtige, das sich ständig Entwickelnde im Gegensatz zum Präzisen, Kontrollierten und Definierten. Wir versuchen uns vorzustellen, dass alles Material ist und deshalb transformiert, montiert und durcheinander gebracht werden kann; nicht nur die Objekte, die Umgebung, die Körper, sondern auch die Ästhetik und die Geschichte.«

    Charlie: Zuletzt haben die beiden einen Kurzfilm in einem ähnlichen Stil wie »Thin Thing« gemacht, der heißt »The Bones«. (https://youtu.be/bAAooiRuu9Y) Hat auch in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm gewonnen. Der ist auch Schwarz-weiß, krisselig, an frühes Kino angelehnt. Einerseits hat man hier bei The Smile diese zerkratzten Texturen von dieser Farbe und Oberfläche, andererseits ist das Bild selbst zerkratzt und flackert.

    Till: Natürlich auch spannend, dass das nicht nur Stop-Motion ist, sondern auch rückwärts abgespielt, etwa bei den Kerzen. Das Video vermengt verschiedene sehr simple Trickfilm-Techniken, die sonst eher kindgerecht zum Einsatz kommen, und schmiedet daraus einen surrealen Horror. Das Regieduo behauptet übrigens, sechs Monate für dieses Musikvideo gebraucht zu haben. Inspiration dafür stammte aus einem Traum von Thom Yorke und natürlich aus dem Song selbst: »Hearing the song for the first time, we imagined a frenetic fluid that carries machines, pieces of human bodies and carnivorous plants.« Ja, so ist es jetzt auch.

    Charlie: Am Ende schlagen die Köpfe wieder Wurzeln, werden wieder zu Natur.

    Till: Nachdem sie kurz davor noch einfoliert wurden, das sah ein wenig aus wie die Horrorversion eines »Simpsons«-Intros.

    Charlie: Der Schluss ist fast schon friedlich – wie das Vögelchen da durchfliegt!
    Till: Der wandernde Lichtpunkt sieht dann wiederum aus wie eine Taschenlampe, die die grausame Natur der Vergangenheit entdeckt. Schaurig!

  • BLOND »Mein Boy« (R: Nina Kummer & Moritz Schinn)

    Charlie: Textlich fängt das natürlich wie ein Lovesong an, in der Hook stellt sich heraus, dass es um einen Therapeuten geht.

    Till: Der ist heute natürlich manchmal noch schwieriger zu finden als die wahre Liebe. Endlose Suche.

    Charlie: Tatsächlich gibt es ja auch das Phänomen, das Menschen Gefühle für ihre Therapeut*innen entwickeln. Naja. Hier befindet man sich die ganze Zeit in einem Körper.

    Till: Im Fleischgefängnis.

    Charlie: Ein paar Organe kann man erkennen: Das Herz, die Leber.

    Till: Das Innenleben wird erkundet, aber eher physisch als psychisch. Die drei gehen ja auch mit Besen durch, da wird jetzt mal klar Schiff gemacht. Mich erinnert das Video stark an »Es war einmal… das Leben«, diese französische Zeichentrickserie, in der die Vorgänge im menschlichen Körper erklärt werden. Mittlerweile läuft die Serie auf Netflix, die ist schon recht bekannt. Auf Netflix hatte die dritte Folge zeitweise keine deutsche Synchronisation, der Grund dafür ist sehr normal: In der ARD-Synchronisation aus 1990 ließ man die Staphylokokken »Oy vey, Gevalt!« rufen, bevor sie vergast wurden. Mittlerweile wurde die Stelle von Netflix neu synchronisiert. Kleiner Fun Fact am Rande halt, aber damit haben BLOND natürlich nichts zu tun.

    Charlie: Crazy. Hier, bei »Mein Boy« ist auch alles ein wenig spacy, die Kostüme vor allem.

    Till: Ich dachte fast eher, sie sehen selbst ein bisschen wie Zellkörper aus! Die Helix als Ohrring, so RNA-mäßig.

    Charlie: Das Poröse des Körpers findet sich in den Crocs wieder, das sind schöne Korrespondenzen.

    Till: Wenn im Liedtext die Blumen blühen, werden im Video fleischige Wülste gezeigt, die beinahe and Blüten oder Knospen erinnern.

    Charlie: Schönes Bühnenbild.

    Till: Gedreht wurde das Video in der Halle 06 in Erfurt, das ist einfach eine Eventlocation. Die Organe stammen wohl aus einem deutschlandweiten Organ-Verleih? Crazy, dass es so etwas gibt. Im BLOND-Podcast »Da muss man dabei gewesen sein« wird auf jeden Fall recht ausführlich erzählt, dass man eigentlich in einem Museum drehen wollte, aber eine sehr kurzfristige, und auch sehr rabiate Absage bekommen hat. Wer mehr über die Hintergründe des Videodrehs erfahren möchte, sollte sich das auf jeden Fall anhören.

  • BLK ODYSSY »Complex of Killing a Man« feat. Baby Rose (R: Joey Hunt & Juwan Elcock)

    Till: Am Anfang des Videos steht »Part II«. Erinner mich bitte daran, nachzuschauen, was im ersten Teil passiert. Mein erster Gedanke nach dem Video: Müsste ich jetzt nochmal rückwärts schauen…

    Charlie: Ja, aber gewollt ist es ja so, wie es ist.

    Till: Am Anfang und am Ende sind die Bilder identisch. Also ganz linear ist der Zeitstrahl des Videos nicht, auch nicht umgekehrt. Am Anfang sieht man seinen Todeskampf rückwärts, am Ende liegt er regungslos am Boden. Ein weiterer Mann liegt dann auf einem Parkplatz, den wiederum sehen wir schon bei 01:00. Das ist auch eine ganz interessante Einstellung: Der Protagonist rennt aus einem Auto zu einer Menschengruppe, um mit ihnen auf den am Boden Liegenden einzuschlagen. Weil aber alle vorangegangen Bilder rückwärts abliefern, dauert es eine Weile, bis man erkennt, dass der Mann tatsächlich aus dem Auto zum Tatort rennt und nicht umgekehrt.

    Charlie: Genau, nicht alles wird rückwärts abgespielt. Dadurch entstehen einige Irritationen, sonst würde sich das Konzept schnell erschöpfen. Abgesehen von der Schlussszene ist dieser Effekt auch gar nicht so krass, in ruhigen Einstellungen ist teilweise kaum erkennbar, ob sie vor- oder rückwärts laufen.

    Till: Bei 02:19 wird mutmaßlich der Vater des Jungen im Auto verhaftet. Zu Beginn des Shots ist aber gar nicht klar, ob das Video vor- oder rückwärts läuft, dementsprechend ist auch erstmal noch unklar, worauf das Blaulicht und der panische Blick deutet. Erst mit dem Fortschreiten der Sekunden wird der Inhalt klar.

    Charlie: Visuell bezieht sich das Video deutlich auf den Film »Tenet«, der eben mit dem Rückwärts-Abspielen von Sequenzen für starke Verwirrung bei seinem Publikum sorgen wollte. Das ist natürlich ein Kinofilm, also auch wesentlich vertrackter, komplexer, diese Mindgames. Dahinter steht eine poetische Idee, im Refrain heißt es: »This glock gon’ change your ways / So count your days«. Die Waffe wird dein Leben verändern. Dementsprechend deuten diese Spiele mit der Laufrichtung auf eine Vorbestimmtheit des Lebens und eine Sehnsucht, Dinge rückgängig machen zu können.

    Till: Erzählt wird hier insgesamt eine klassische Hood Story, Aufwachsen in einer von Gewalt geprägten Community, von der Verhaftung des Vaters über Gewalt, Geldnöte und Alkoholismus bis zum Tod. Klare Allianzen gibt es kaum, Gewalt wird zwar auch durch die Polizei ausgeübt, aber vor allem untereinander – manchmal Playfighting, manchmal ernstes Attentat. In der Szene ab 01:44 geht es vielleicht sogar eher um ein billigendes Abstumpfen gegenüber diesen Geschehnissen. Ach ja, die anderen Teile. Part I wurde nun zuletzt veröffentlicht und begleitet den späteren Mörder Benny, der erst gemobbt und verprügelt wird, blutend auf dem Parkplatz landet und sich dann eine Waffe besorgt, um Rache zu üben. Einen dritten Teil gibt es bislang nicht, der dürfte dann ja auch gar nicht mehr kommen. Aber ich bin gespannt, es sind eben diese Mindgames.

  • Kendrick Lamar »The Heart Part 5« (R: Dave Free & Kendrick Lamar)

    Till: Es wird in unserer Leser*innenschaft wahrscheinlich nur Wenige geben, die dieses Video noch nicht gesehen haben. Kendrick verwandelt sich per Deep Fake über knapp sechs Minuten in O.J. Simpson, Kanye West, Jussie Smollett und Will Smith, Kobe Bryant und Nipsey Hussle. Auf Twitter hatte ich ein Video gesehen, wo jemand das Kendrick-Video so bearbeitet hat, dass mit Kanyes Gesicht auch Kanyes Stimme ertönt. Rein bildlich passiert gar nicht so viel. Der rote Hintergrund bleibt im gleichen Farbton, das Licht ändert sich nicht, Kendricks Look bleibt gleich: weißes Shirt, schwarzes Bandana, Kendrick trägt die Haare jetzt länger.

    Charlie: Das Bandana signalisiert wohl eine Neutralität, eben keine Zugehörigkeit zu Bloods oder Crips. Die Frisur war auf jeden Fall überraschend.

    Till: Seine Performance ist auch ganz spannend, weil er teils wild gestikulierend rappt, teils wirkt es aber so, als würde sein Körper eher von Beat und Musik mitgerissen werden. Und auch die Transformationen überraschen den Körper eher.

    Charlie: Diese Performance hat etwas Erlösendes, etwas Kathartisches. Diese Körperwandlungen erinnern immer krass an Exorzismen – sich von diesem Schmerz befreien, darum Kreist auch sein Album häufig. Inhaltlich greift er vieles vor, was dann auf »Mr. Morale & The Big Steppers« zum Thema wurde. Und auch einiges, was bei BLK ODYSSY eben Thema war. Kreisläufe von Gewalt, Ausbruch daraus, Traumata, Schmerz und Schuld der Überlebenden.

    Till: Kendrick versucht hier – und auf dem Album noch viel mehr – sich selbst auszuloten. Einerseits Sprachrohr einer ganzen Generation Schwarzer Männer, angedeutet auch durch das Eingangszitat »I am. All of us.« – dagegen steht der Drang, die eigene Menschlichkeit zu forcieren. Das Album erzählt ja viel von eigenen Kämpfen und Lernprozessen, von der eigenen Imperfektion und Eingeschränktheit. Das Video passt dazu, weil das Setting den gesamten Fokus auf Kendricks Performance zieht.

    Charlie: Kendrick wird wirklich zur Projektionsfläche für fremde Gesichter und andere Ideen von Blackness. Bei »I am. All of us« musste an Gordon Parks Gedicht zu seinem Fotoband »I am You« denken, der war ja auch schon Referenzpunkt im Video zu »Element«. Aber auch die Worte von Aria Dean kamen mir in den Sinn: »There is no articulable ontology of blackness, no essential blackness, because blackness’s only home is in its circulating representations: a network that includes all the bodies that bear its markers, the words produced by such bodies, the words made to appear to have been produced by such bodies, the flat images that purport to document them, and so forth.« Die gewählten Figuren sind natürlich auch Männer, die zum Fokuspunkt von bestimmten Diskursen wurden. Die Vielschichtigkeit des O.J. Simpson-Falls wurde beispielsweise in der Serie »O.J.: Made in America« nachgezeichnet, die Diskussionen um die Ohrfeige von Will Smith fanden auch kaum eine Ende und Kanye West ist sowieso konstant der Ausgangspunkt diverser Diskursschleifen.

    Till: Mit der Kanye-Transformation spricht Kendrick ja auch spezifisch von Bipolarität. Darauf folgt Jussie Smollett, ein Schauspieler, der 150 Tage im Gefängnis verbringen wollte, nachdem er ein rassistisches und homophobes Hassverbrechen gegen sich selbst inszeniert hat, wohl, um durch die Opferrolle ein besseres wirtschaftliches Standing in Hollywood zu erreichen. Der ganze Fall ist ein ziemlicher Mindfuck.

    Charlie: Männer, die für riesige Konflikte stehen. Nipsey im Grunde auch, der viel Gutes tat und dann trotzdem der Ganggewalt in seiner Heimatstadt zum Opfer fiel.

    Till: Und trotz dieser Tragik machte man sich bei Fox News noch am Tag des Begräbnisses über Nipsey lustig, während man fälschlicherweise ein Video von YG zeigte. 

    Charlie: Deepfake und Musikvideos haben ja auch eine ganz interessante Geschichte. Die Band UWE hat 2020 mit »Junge Milliardäre« einen renommierten Kurzfilmpreis gewonnen, denn im Musikvideo wurde Elon Musk per Deep Fake zum Protagonisten. Am gleichen Tag wie »The Heart Part 5« erschien noch Kanyes Video zu »Life Of The Party«, in dem Kinderfotos zu neuem Leben erweckt werden. Damit geschieht ein ähnlicher Rückgriff wie kürzlich mit der Doku »Jeen-Yuhs«, der Legendenstatus wird durch alte Zeiten heraufbeschwört. In einem nicht ganz unproblematischen, aber ziemlich akkuraten Video wurde Will Smith auch schon einmal mit Cardi B verschmolzen.

    Till: Kanyes Video zu »Famous« hatte natürlich nichts mit der Deepfake-Technologie zu tun, bedient aber einen ähnlichen Gestus wie dieses hier. Im Magazin Variety schrieb man gleich drauf los, dass ähnliche Techniken bereits von Michael Jacksons »Black & White« bekannt seien, sowie in den Achtzigern schon in »Cry« von Kevin Godley und Lol Creme. Kenn ich aber nicht. Bei Pitchfork ist man sich derweil sicher, ein subversives Potenzial erkannt zu haben, weil Deepfake ausnahmsweise mal nicht als destruktives Mittel der Fake News-Maschinerie genutzt wird. Den Kollegen bei VICE geht es hingegen gar nicht gut, dort wirft man Kendrick und dem Video vor, es würde Revenge Porn und politische Manipulation legitimieren. Gute Besserung an dieser Stelle. Kendrick selbst verabschiedet gleich das ganze Konzept der »Culture«.

    Charlie: »The Heart Part 5« hat eine gewisse Beliebigkeit, denn es ist natürlich leicht, sich gewissen Personen des öffentlichen Lebens zu bedienen, um eigene Ideen auszuschmücken. Davon handelt auch das Lied »Saviour«.

    Till: Kendrick nimmt in seinen Lyrics natürlich verschiedene Perspektiven ein, gleichzeitig haben ihn sicherlich diese riesigen Debatten der letzten Jahre zu den Gedanken bewegt, die er nun endlich äußert. Deep Fake ist dann hier vielleicht keine Inanspruchnahme der Personen, sondern eher eine Kontextualisierung. Im Netz wimmelt es schon von riesigen Analysen mit Detailfragen, etwa: Der Drumloop symbolisiert einen Herzschlag, deswegen wird er entfernt, sobald es um die Toten geht. Und: Kendrick rappt bei 03:58 »Consciousness is synchronized and crystal-clear«, dabei sind seine Lippen aber nicht mehr mit den Worten synchron. Das Video zu »N95« ist natürlich bildgewaltiger und lädt zur visuellen Referenzsuche ein.

    Charlie: Diese Spuren und Verbindungslinien sind recht typisch für Kendricks Videos. Das freut die Fans. 

  • Till: Das Release wurde als »Ghetto Love Tale« beworben, im Endeffekt sind das mit Rihanna und A$AP Rocky natürlich zwei Millionäre, die diese Rollen einnehmen. Es gibt ein paar Szenen, die Klischeebilder von Armut recht unreflektiert reproduzieren, hauptsächlich ist das aber immer ein wenig überzogen, in den Kostümen fast schon Camp. Bunter Pelz und Fried Chicken. Ansonsten referiert die Ästhetik wieder krass auf das New York der Achtziger. Wie er gleich bei 00:23 am Zaun steht, das sieht so cool aus.

    Charlie: Auch die Partys vor Wasserfontänen, die aus den Hydranten emporschießen erinnern an vergangene Dekaden, an Leonard Freeds berühmtes Foto »Fire Hydrant« (1963) oder an »Do The Right Thing« (1989) von Spike Lee.

    Till: Dass er immer aus dem Knast kommt und sie immer auf ihn wartet, ist schon ein sehr platt romantisierendes Bild. Aber: »D.M.B.« soll eben ein Liebesmärchen sein, keine Dokumentation der Tragik der US-Amerikanischen Gefängnisindustrie. Schön hingegen ist dann wieder, wenn Rocky und Riri im fancy Restaurant sitzen und da gar nicht reinpassen. Doch zu aggressiv, doch zu wenige Manieren. Das wiederum symbolisiert eine Erfahrung, die die beiden wohl allzu gut kennen. Es schon aus der Armut rausgeschafft zu haben, aber trotzdem nicht dazuzugehören.

    Charlie: Filmisch sind die tollen Montage-Stafetten herausragend. Besonders die Fotoreihen sind grandios, am krassesten finde ich es bei 01:56.

    Till: Das Video bedient sich sehr stark dieser Technik, bei der man etwas filmt und in der Postproduktion einen bestimmten Fokuspunkt als zentrale Bildmitte festlegt, einen Vektor eher. Ich kenne den Namen nicht, aber am eindrücklichsten ist vielleicht die Einstellung bei 01:48 mit Rockys Ring. Dreht sich die Hand, dreht sich nicht die kleine Figur, sondern das ganze Bild. Wenn ein neues Video von Rocky erscheint, weiß man immer, es wird zwei, drei stilistische Mittel geben, die nicht einfach nur geil aussehen, sondern dann auch das nächste Halbjahr an Mainstream-Musikvideos prägen. Das beste Beispiel dafür ist natürlich das wunderbare »A$AP Forever«-Video. Hier sieht die Collage im zweiten Teil des Songs auch krass aus. Das fasst die ganze Geschichte nochmal in GIFs zusammen, habe ich so zumindest auch noch nicht gesehen. Rocky und Riri lernen da in der Bibliothek, das finde ich cool. Richtige Rags-to-Riches-Story natürlich. Der große Nachrichtenwert des Videos war natürlich der Heiratsantrag bei 03:00. Dementsprechend schön finde ich, dass sie hier in einer Community Hall heiraten. Die reale Hochzeit findet dann bestimmt auf irgendeiner Pazifikinsel statt.

    Charlie: Bei 04:21 gibt es nochmal das »Free Rocky«-Plakat, er war ja in Schweden auch tatsächlich im Gefängnis.

    Till: In letzter Zeit versucht auch die US-Amerikanische Polizei immer wieder, ihm Straftaten nachzuweisen. Im April wurde er im Zusammenhang mit einem Schusswechsel aus dem November festgenommen, mangels Beweisen aber schnell wieder freigelassen. Sogar sein Haus wurde durchsucht, aber es gab eigentlich keine Anhaltspunkte für eine Beteiligung seinerseits, obwohl die LAPD behauptete, Videobeweise zu besitzen. Sie  wollen ihn unten sehen. Also auch von unserer Seite: Free Rocky.