Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats Mai 2021

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Mai mit Earl Sweatshirt, Tkay Maidza und Sophia Kennedy.

VISUALIZING MAI21
Nelly tut es, Luciano und Travis Scott tun es. Ja, selbst OG Keemo und Cam’ron tun es. Sie alle essen gerne Cornflakes. Doch was ist das dunkle Geheimnis der knusprigen und überaus schmackhaften Frühstückscerealien? Es ist uns völlig egal. Sicher ist nur, Audrey Nuna würde die kleinen, feinen Dinger auch noch verspeisen, wenn es ihr letzter Tag auf Erden wäre. So zumindest ist es im Video zu »Top Again«, Entfremdungsgefühl und Lebensgenuss gehen Hand in Hand bis zum Ende der Welt. Fremd fühlt sich auch Earl Sweatshirt gegenüber seinem Schaufensterpuppen-Publikum und überhaupt angesichts einer Welt, die ihn nie wirklich begreifen wird. Die Sons Of Kemet laden ein zur Besinnung auf anzestrale Energie, um das Unwohlsein loszulassen. Empowerment durch kulturelle Tradition und der Prozess der Ikonenwerdung spielen eine Rolle. Ähnlich, aber doch ganz anders gestaltet sich das neue Video von Tkay Maidza zwischen Auflösung im Rausch und Afrofuturismus. Die dänische Sängerin Erika de Casier hingegen geht vollständig im Berufsleben auf und spielt mit iMovie und Büro-Mockumentary-Ästhetik. Und während Till Wilhelm sich noch einmal in die Kracauer-Lektüre vertieft, bringt Charlie Bendisch mit »Seventeen« Sophia Kennedys Befragung der eigenen Jugend zwischen Bielefeld und Baltimore ins Spiel.

Die YouTube-Playlist zur Kolumne gibt’s hier.

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  • Audrey Nuna feat. Saba »Top Again« (R: Trey Lyons)

    Till: Saba wirkt irgendwie immer extrem gelangweilt beim Rappen. Als wäre das jetzt einfach nur ein Job, den er halt machen muss. Auch, wenn er den Kopf am Zeilenende zur Seite wendet, sieht das irgendwie komplett unenthusiastisch aus.

    Charlie: Vielleicht passt es ja auch ein bisschen, in der ersten Hälfte geht es ja durchaus darum, dass Audrey Nuna sich unwohl fühlt beim Videodreh. Lustig ist auch, dass das Video mit Frühstückscerealien beginnt. Das ist irgendwo sehr HipHop. Luciano veröffentlicht zu seinem im Juli erscheinenden Album wohl eigene Cornflakes. Travis Scott hat eigene Cerealien, der erste Rapper in dieser Hinsicht war schon Cam’ron, Master P hat ebenfalls eine eigene Brand am Start und schon Nelly hat mit Honig umhüllte Flakes mit dem Slogan »It must be the honey« geworben.

    Till: Im Song von Audrey Nuna geht es weniger um Cornflakes, der Song dreht sich wohl um das Ende der Welt. »I imagined what it might be like if there was a huge backyard party on the last day of the world – everyone would be dancing in the rain and refusing to go back inside«, sagt sie. Dementsprechend: Audrey Nuna tanzt in die Apokalypse hinein, niemand wagt es, sich dem Ende gegenüberzustellen. Wie Mordechai in der Tora: Am nächsten Tag sollen alle sterben – und deswegen muss man noch ein letztes Mal laut sein. Das Video ist ähnlich surreal und apokalyptisch, wenn auch in anderen Zusammenhängen.

    Charlie: Sie singt ja »I might just Kurt Cobain it«, da steckt Todessehnsucht drin.

    Till: In der Isolationsdecke eingewickelt hat sie auch etwas Religiöses. Gerade bei 0:24, wie die Sonne auf ihr Gesicht fällt. In diesen beiden Outfits wirkt sie sehr isoliert, als würde sie sich vor allen äußerlichen Eindrücken schützen. Eine Übersensibilität vielleicht. In »Better Call Saul« gibt es diese Bruderfigur, die denkt, sie sei gegen Licht und Elektrizität allergisch und trägt deswegen auch stets eine Isolationsdecke. Das Male Model im Video hat ihr Gesicht so häufig tätowiert, im Gegensatz zu Audrey Nuna ist er aber schutzlos und nackt.

    Charlie: Die erste Hälfte lässt sich mit Isolation und Entfremdung zusammenfassen. Sie ist verloren in diesem Starkult des Musikvideos. Dann wird sie entlassen ins Real Life, ihr Blick bleibt aber gefesselt. Ihre Augen richten sich auf das Display in ihrer Hand und wir hören nur noch das Tippgeräusch ihres Smartphones.

    Till: Dabei steht auf einmal der Kulturzirkus still, da steckt eine Auflösung drin. Dann wird sie angefahren.

    Charlie: Interessant ist, dass das Video im Anschluss in einen Horrorfilm-Modus übergeht. Das Unbehagen der ersten Hälfte wird potenziert. Ihre vorherige Entfremdung kippt in Paranoia und Klaustrophobie. Während sie benommen durch das Krankenhaus geistert, rennen die anderen Menschen davon. Filmisch wird die Verwirrung durch Überblendungen oder skurrile Schnitte wie bei 02:31 unterfüttert.

    Till: Im Krankenhaus ist alles entsättigt, sie spuckt diese graue Farbe aus. Die Szenen im Hospital passen aber auch gut in das Endzeitgefühl. Die Performance schlägt um in Zweifel und dann in die Erkenntnis, dass schon längst alles zu Ende gegangen ist. Sie entdeckt sich dann ja unter dem Leichentuch. Eine Frage des Videos ist sicher: Wie schnell merkt man, dass das eigene Leben vorbei ist? Oder wenigstens die besten Jahre. Und wie geht man dann damit um?

    Charlie: Das roten Dunst flackernde, grelle Licht am Ende erinnert auch wieder an Strobolicht, als wäre das räumlich eine Mischung aus Club und Leichenkammer. Der Song ist irgendwie unpassend entspannt für diese düsteren Themen.

  • Erika de Casier »Busy« (R: Erika de Casier)

    Till: Ich kriege Stromberg-Gänsehaut.

    Charlie: Alleine durch die Farben! Und die Büroutensilien. Diese ganzen Möbel, die Wendeltreppe, ihre Hose, die Trinkflasche, die braunen Fliesen, alles ist genau aus diesem ästhetischen Fundus von Objekten des Bürolebens Anfang der 2000er. Auch der Slideshow-Charakter mit den automatisierten Übergängen kommt direkt aus dieser Ära. Frühe YouTube-Videos oder auch einfach privates Urlaubsfotos-Zeigen mit iMovie. Total aus der Zeit gefallen. Auch ihr Album ist von dieser Zeit inspiriert. Sade, Erykah Badu, auch Tupac. Dieser Song geht dagegen mehr in eine UK-Garage-Richtung.

    Till: Das Video ist für mich Girlboss, Gatekeep, Gaslight.

    Charlie: Sie warnt ja auch: Wer mit ihr eine Beziehung eingehen möchte, muss damit klarkommen, dass sie busy ist.

    Till: Natürlich ist auch alles einen drüber, mit überzogenem Zwinkern: »OK, Monday up at six, take my vitamins / Then I meditate, and do my skincare routine / You gotta stay healthy, even though you’re stressin’«. Das spielt natürlich auch auf den Selbstoptimierungswahn an, der zurzeit herrscht. Früher hieß das noch Zeitmanagement und Effizienzmaximierung, heute musst du mit Ernährung und Meditation die Einheit von Körper und Geist herstellen, um den Kapitalismus am Laufen zu halten.

    Charlie: Witzig ist am Video auch, dass sie Busy-Sein immer nur performt. Wie sie Kaffee eingießt und gleichzeitig aus dem Fenster schaut, das hat ja nichts mit tatsächlicher Arbeit zu tun. Zwischen Text und Video herrscht eine Verschiebung, eigentlich sehen wir da das Business von früher. Durch die Fotografien wird ein Arbeitstag erzählt. An den Fotos ist aber auch schön, wie sie häufig aus dem Bild fällt. Die Kamera erwischt sie häufig nicht richtig. Sie schaut immer gestresst, ihre Handgriffe sind eher symbolisch. Das spielt natürlich auf viele Filme an, in denen Büroleben inszeniert wird.

    Till: Die LinkedIn-Hölle. Übrigens hat der Charakter aus dem Video auch einen eigenen Account dort. Auch das ist ganz interessant. Das Video hat sowieso etwas von einer Bewerbung.

    Charlie: Auch in den vorherigen Videos hatte Erika de Casier sich jeweils diese Persona namens Bianka aufgebaut. In einem Interview sagt zum Verhältnis zwischen ihr und Bianka: »Bianka ist nicht unbedingt viel selbstbewusster, aber sorgloser. Sie will einfach ihr Ding durchziehen, und das tut sie. Sie hat außerdem eine sehr klare Vorstellung von ihren Grenzen. Die hat sie komplett unter Kontrolle und lässt sie von niemandem übertreten. Bianka ist die Art von Person, die du dir als Kind als Beschützerin vorstellst. Aber manchmal ist sie vielleicht ein bisschen zu tough. Und dann kommt Erika ins Spiel als der sensible Part.«

  • Sons Of Kemet feat. Moor Mother & Angel Bat Dawid »Pick Up Your Burning Cross« (R: Ashleigh Jadee)

    Charlie: Auch hier geht es um ein Unwohlsein mit dem Optimierungsdruck. Sie probiert Make-Up aus und findet das nicht so geil.

    Till: Der Make-Up-Ton ist viel heller als ihre Haut. Kurz vorher sieht sie auch all die normschönen weißen Models auf den Magazinen. Es geht also darum, dass sie sich nicht in weißen Schönheitsidealen wiederfindet.

    Charlie: Sie zieht sich dann zurück und trinkt Tee. Auf TikTok entdeckt sie Poledancing. Erstmal ist sie da auch noch nicht voll drin. Das Dehnen ist schon schwierig. Dann gibt es einen leichten Shift, bei 2:13 beginnt sie zu staunen, sie wirkt wie verzaubert.

    Till: Auf einmal gibt es eine Verbindung von ihr zu dieser Ausdrucksart. Obwohl das auch erstmal nicht ihre Welt ist.

    Charlie: Aus alten Filmen kennt man auch ähnliche Szenen: Wie ein kleines Kind staunt und dann imaginiert, es wäre selbst so, in diese Rolle schlüpft. Ab dem Moment flowt es voll, am Ende ist es ihre Realität. Bei gleißendem Licht im Park ragt die Pole Dancing-Stange in den Himmel, wie bei FKA Twigs.

    Till: Die Band selbst nennt das eine »reconnection with ancestral energies by confronting our fears and insecurities«. Einerseits mit Poledancing, andererseits mit dem Ausdruckstanz auf dem Boden. »Ancestral energies« klingt so kosmologisch, ich würde sagen: Kulturelle Tradition. Das geht trotzdem über den Körper.

    Charlie: Hier geht’s natürlich wieder um Empowerment.

    Till: Am Ende finde ich gleich zwei Dinge interessant: Einerseits die Naturverbundenheit, die sich zeigt. Andererseits diese gleißende Sonne, dieser Spender von Lebenskraft. Dadurch, dass die Sonne häufig genau hinter ihr steht, haben diese Bilder auch etwas von Werbung. Ich würde da aber keine Absicht unterstellen.

    Charlie: Ich dachte schon, dass das eine Rückbindung zu den Werbefotos zu Beginn des Videos bildet. Sie ist zu dieser Figur geworden, aber auf eine andere Weise.

    Till: Die Ikone wurde neu befüllt.

    Charlie: Gerade in der Schönheitsindustrie gibt es natürlich auch immer wieder Diskussionen über Rassismus, gerade im Bereich Make-Up. Bei fotografischen Filmen war das ja tatsächlich auch noch lange so, dass Schwarze Menschen auf Fotos nicht adäquat wiedergegeben wurden. Die Farben waren auf die Hauttöne weißer Menschen abgestimmt. Alleine über den technischen Apparat wurden so gesellschaftliche Ideale etabliert. Hier nachzulesen.

  • The Alchemist feat. Earl Sweatshirt »Loose Change« (R: Lonewolf)

    Charlie: Die kurze »Joker«-Einblendung am Ende überrascht ein bisschen. Zuletzt war der Joker ja eher eine Symbolfigur für die Gefahren rechter Gefühlswelten. Trotzdem passt der Joker hier auf eine Art, die Figur ist natürlich ein verkannter Künstler, zumindest aus seiner eigenen Perspektive. Der Joker bezieht sich da ganz stark auf »The King Of Comedy« von Martin Scorsese. Die Hauptfigur darin probt jeden Tag manisch im Keller seinen Stand Up-Comedy-Auftritt für den Tag, an dem er ein Star wird. Er tagträumt von Fans und Interviews. Am Ende landet er aber nach seinem ersten Auftritt im Gefängnis. Auch dieses Video hat natürlich etwas Tagträumerisches. Zum Beispiel steht draußen »Sold Out«, es gibt aber keinerlei Schlange vor der Venue. Der Ansager ist total schüchtern, anstatt Earl enthusiastisch anzupreisen.

    Till: Das Bühnensetting sieht erstmal eher nach Talentshow aus.

    Charlie: Earl Sweatshirt tritt dann auf und entspricht so gar nicht diesem Star-Ideal. Die Selbstinszenierung ist auch schon immer eine andere gewesen als beispielsweise bei Tyler, The Creator. Hier steht er in Shorts und Tennissocken auf der Bühne, sehr gemütlich.

    Till: Die Performance-Situation wird ja am Ende in der Hinsicht aufgelöst, als dass das Publikum nur aus Schaufensterpuppen besteht. Genauer: weiße Schaufensterpuppen, die dazu noch bourgeois gekleidet sind. Auf dem Song »Veins« rappte er 2019 prägnant: »It’s been a minute since I heard applause«. Bei ihm geht es immer viel um Isolation, Rückzug aus dem öffentlichen Leben und auch Depressionen. Zentrales Thema ist dabei, die eigene Identität einem Publikum zu vermitteln, das eigentlich immer nur erahnen kann, was vielleicht gemeint ist. Earl Sweatshirt ist jetzt auch nicht unbedingt der enthusiastischste Live-MC. Da tut sich auf jeden Fall immer wieder eine Kluft zwischen ihm und der Hörer:innenschaft auf. Und gerade jetzt, wo es sowieso keine Konzerte gibt, fühlt sich Output als Rapper natürlich an, als würde man in eine charakterlose Masse von Schaufensterpuppen hineinsprechen – Aber ich denke, dieses Gefühl kannte Earl Sweatshirt auch schon vorher. Nicht verstanden zu werden, das ist schon lange sein Problem. Damit geht einher, dass auch sein Schreibstil immer assoziativer wurde über die letzten Jahre. »Some Rap Songs« war besonders stark darin, fragmentarische Stücke des Lebens neu zu collagieren, das spiegelte sich auch in der Produktionen. Diese Art der Mosaik-haften Collage forderte ja beispielsweise schon der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer in den 1920ern ein.

    Charlie: Tatsächlich findet das Video ja auch in einer 20er-Jahre-Umgebung statt. Mit dem Lichtspielhaus als Ort der Kollektivität hat sich Kracauer ja auch auseinandergesetzt. In diesen Zerstreuungspalästen wurde viel auf Effekte und Prunk gesetzt, wodurch die eigentliche filmische Kunst in den Hintergrund verblasste. Earl Sweatshirt stellt dagegen immer die Kunst in den Vordergrund, sehr unprätentiös. Das Drumherum interessiert ihn nicht, muss sogar recht unspektakulär sein.

    Till: In den 1920ern gab es natürlich, zumindest rückblickend betrachtet, eine Debatte, in der sich Earl Sweatshirt heute immer noch bewegt. Schwarze Musik war auf dem Vormarsch mit Jazz und Swing, wurde aber von weißen Menschen immer stärker kommerzialisiert und übernommen. Die Lebensrealität Schwarzer Menschen blieb weitgehend unverändert dadurch. Auch im Rap lässt sich Ähnliches beobachten, da stellt sich Earl Sweatshirt auch immer wieder radikal quer. Mit dem alten Mikrofon vor dem roten Vorhang hat das Video auch etwas von Jazzabend.

    Charlie: Schön, dass The Alchemist dann am Ende als einziger Mensch im Publikum sitzt. Der einzige, der versteht.

  • Tkay Maidza »Syrup« (R: Jenna Marsh)

    Till: Die Ästhetik, die Tkay Maidza hier in Sachen Outfit und Make-Up verwendet, ist jetzt auch nicht mehr ganz neu. Während aber andere Rapper:innen wie Rico Nasty diesen Stil häufig in ein recht steriles oder altmodisches Umfeld setzen, sicher auch für die kontrastierende Wirkung, ist auch das Setting bei Tkay Maidza düster, rough und trippy. Hier werden zum Beispiel Drogen gekocht, keine kulturindustrielle Sauberkeit. Dieser Style ist ja irgendwie punkig, super modern und auch irgendwie animalisch.

    Charlie: Gleichzeitig geht es auch um etwas Gemeinschaftliches, das Interesse am Verkleiden, auch das Exzentrische. Der Drag-Aspekt rückt das Video auch in die Nähe von anderen modernen queeren Artists wie Lil Nas X. Gleichzeitig ist das wie ein Ritual zum Ende. Dazu kommt der Drogentrip, die amorphen Bildverschiebungen. Die Regisseurin, Jenna Marsh, hat auch schon mit Nicki Minaj, Dua Lipa und 070Shake gearbeitet, vieles davon folgt ähnlichen visuellen Ideen.

    Till: Tkay Maidza veröffentlicht jetzt auch wirklich schon eine Weile lang immer wieder sehr gute Musik, ich freue mich, dass wir endlich über sie sprechen. Sie wurde in Simbabwe geboren, wohnt in Australien. Das ist nicht unbedingt der gewöhnlichste Wohnort für artsy Rap-Newcomerinnen.

    Charlie: Dieser Look zwischen einem Interesse für anzestrale Ästhetiken und Alienesquem wird häufig auch mit Afrofuturismus in Verbindung gebracht. Gleichzeitig wird das hier stark mit der Darstellung von einem psychedelischen Rausch vermengt.

    Till: Die Relevanz des Rausches im Afrofuturismus ist sicher auch nicht zu unterschätzen. Wichtig ist sicher auch das bodymorphe, mit den Stacheln, die aus ihren Schultern kommen.

  • Sophia Kennedy »Seventeen« (R: Sophia Kennedy)

    Charlie: Das sind vorwiegend Bilder aus Baltimore, wo sie geboren ist. Sie ist dann teilweise in Bielefeld aufgewachsen. Es sind wohl auch Bilder aus Bielefeld dabei, aber nur wenige.

    Till: Die einzelnen Einstellungen lassen sich recht schlecht klar zuordnen, aber diese suburbanen Häuser sehen sehr nach USA aus. Mit den Verandas und Trucks, das ist schon sehr typisch. Es gibt auch eine Szene, in der sie in einen deutschen U-Bahnhof läuft.

    Charlie: Das ist in Hamburg, dort lebt sie derzeit, soweit ich weiß. Das Video dreht sich um Jugend und um die Erinnerung und Inszenierung davon. Das sind tatsächlich alles alte Aufnahmen von ihr, das macht den Zugang sehr intim und gleichzeitig wird durch die Auswahl der Filmfragmente über weite Strecken auch eine große Offenheit zugelassen. Das Video zielt auf keine kohärente Erzählung der Vergangenheit ab, sondern versucht, durch das Ausgraben der Bilder ein Verhältnis zu den Erinnerungsbildern freizulegen. Häufig wird der Rückgriff auf Archivmaterial in Musikvideos nur mit einem Retro-Impuls verbunden, hier ist das anders. Es wird einer Befragung an das frühere Ich nachgegangen, auch an den Blick von damals. Was fand ich damals interessant – und filmenswert? Dadurch ergibt sich ein loses und fragmentarisches Bild, das sich den Betrachter:innen nicht ganz erschließt. Es regt dennoch eine Art Meditation über Jugend und ihre Bilder an. Sie singt über das Gefühl von Verlorenheit und über Ängste, das sind typische Topoi, wenn es um Jugend geht, aber sie sind hier nicht einfach aufgewärmte Klischees, sondern Teil einer Erinnerung, in die hinabgestiegen wird.

    Till: Das Video ist total fließend, es plätschert so dahin. Die Bilder fordern keine intensive Auseinandersetzung ein, obwohl diese natürlich möglich ist.

    Charlie: Das entsteht, finde ich, auch durch die Musik. Gleichzeitig verträumt und durch die Bassline weitergetrieben. Dieser transitorische Vibe hat mich ein bisschen an Songs wie »Carbonated« von Mount Kimbie erinnert.

    Till: Und ich musste an »Alles zieht vorbei« von Fatoni denken. Da gibt es teils diese Retroeffekte, teils aber auch altes Material. Und der Song verhandelt eben auch den schnellen Fortschritt der Zeit. Hier hat sie das Video ja auch selbst gestaltet, zusammen mit ihrem Produzenten. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Prozess durchaus sehr intensiv war. Viel intensiver als das Endprodukt. Aber die Auseinandersetzung mit den Bildern der eigenen Jugend macht ja dieses Video, in dem alles so fließt, erst möglich.