Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Mai 2020

An dieser Stelle wird monatlich über die besten Musikvideos gesprochen, weil das einfach zu wenig getan wird. Diesen Monat behandeln Till Wilhelm und Charlie Bendisch unter anderem Videos von Rosalía, Jamie xx und Rina Sawayama.

VisualizingMusic_Mai
Neuer Monat, neue Folge Visualizing Music. Weil Valentin Hansen ein vielbeschäftigter Mann ist, haben wir diesen Monat einen neuen Gesprächspartner: Charlie Bendisch. Der ist Filmwissenschaftler, schreibt Rezensionen und arbeitet unter anderem für die Woche Der Kritik. Mit ihm spricht Till Wilhelm hier fortan über die besten Musikvideos des Monats. Während die Welt auf verschiedenste Weisen untergeht, finden auch Künstler*innen neue Antworten. Jamie xx, Rina Sawayama und Standing On The Corner zeigen uns Ausbrüche aus der Isolation, Alkohol spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Wunsch, die Erde zu verlassen. Rosalía & Travis Scott bieten eine Einführung in die familiären Verhältnisse der Mafia und zeigen dabei etwas, das die letzten Monate in weite Ferne gerückt ist: Menschenansammlungen. Klein andererseits nimmt sich zehn Minuten Zeit, um an die Ermordung Mark Duggans vor neun Jahren zu erinnern und hält dabei auch einige wichtige Erkenntnisse für aktuelle Konflikte bereit. Wenn euch das Leben gerade also verständlicherweise chaotisch vorkommt, nehmt euch vielleicht die Zeit, um euch ein paar wichtige Musikvideos anzuschauen. Vielleicht bringt es Ruhe, vielleicht ein paar neue Ideen, um dem Alltag zu begegnen.

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  • Standing On The Corner »Angel« (R: Gabriel Rodriguez-Fuller)

    Charlie: Erstmal ist natürlich interessant, dass Melvin Van Peebles die Hauptrolle spielt.

    Till: Der ist ja mittlerweile auch geile 88 Jahre alt.

    Charlie: Die Videos von Standing On The Corner haben auch immer eine politische Dimension. So nimmt man hier zum Beispiel einen Raum, der sonst primär aus einer Blockbuster-Richtung erkundet wurde.

    Till: Der Nebentitel spielt hier bestimmt auch eine Rolle: »Life And Death In The Key Of F«. Melvin Van Peebles tritt als trauriger Betrachter der Erde auf, der auch an jene gebunden ist.

    Charlie: Trotzdem hat das Video eine melancholische und auch optimistische Note, ein Lebewohl der Erde gegenüber.

    Till: Ich finde es auch cool, dass die Weltraumkulisse sich immer wieder verändert, man sieht dann auch bei 01:40, dass die Planeten von Menschen gehalten werden. Dieses Universum wird eben auch durch Menschenhand geformt.

    Charlie: Gleichzeitig hat diese Szene etwas Kindliches, Provisorisches. Science Fiction ist häufig sehr aufwändig, sehr durchgestylet. Van Peebles Filmografie selbst ist da vielmehr von dem DIY-Gedanken durchsetzt.

    Till: Es sieht auch einfach sehr schön aus, sehr warm. Ich liebe die Einstellung bei 01:30, in der er in einer Linie mit Erde und Mond steht und diese drei Positionen sich im Zeitraffer verdunkeln. Das ist an der Stelle sehr synchron zu dem Song, weil hier diese krasse Verzerrung reinkommt, während das Video an Geschwindigkeit zunimmt.

    Charlie: Die Erzählung verstehe ich aber noch nicht ganz. Bei 03:18 schaut Van Peebles erstaunt, während die schwarz gekleideten Figuren diesen Schirm entfalten.

    Till: Kurz darauf sieht man, wie seine Beine immer länger gestreckt werden. Da ist im Hintergrund ein Fleck frei von Sternen zu sehen, der an ein schwarzes Loch erinnert. Da gibt es sicher einen Zusammenhang.

  • Jamie xx »Idontknow« (R: Luca Truffarelli & Oona Doherty)

    Till: Als ich das Video gesehen habe, ist mir direkt aufgefallen, dass es sehr gut zum Thema Social Distancing passt. Die Ästhetik des Tanzes im Video wirkt an vielen Stellen wie eine übertriebene Gestik, wie spontaner Ausdruck. Wie ein Ausbruch von angestauten Emotionen in der sozialen Isolation. Das Video wurde ja auch in der Nacht vor dem Lockdown in Belfast gedreht, eigentlich war ein Shoot mit über hundert Personen geplant.

    Charlie: Die Tänzerin kommt auch aus Belfast und verbindet die Erfahrungen der Stadt sehr häufig mit ihren Performances. Ihren letzten Auftritt in London beispielsweise hat sie damit begonnen, aus dem Kofferraum eines Autos auszusteigen und von dort bis zur Bühne zu tanzen. Da ist eine gewisse Aversion gegen diese Kulturtempel und eine Nähe zur Straße spürbar. So wird im Video eben auch ihre Umgebung zum Protagonisten. Die geistige Vereinzelung findet Resonanz im Räumlichen.

    Till: Der Song ist ja auch nach einer längeren Schreibblockade entstanden.

    Charlie: Auch ganz interessant: Der Song geisterte die letzten Monate schon durch ein paar DJ-Sets, Four Tet hatte den zum Beispiel schon gespielt. Niemand wusste so wirklich, von wem dieser Track kam. Irgendwann hat sich dann Jamie xx dazu bekannt. Es ist ja auch wirklich schon fünf Jahre her, dass er Musik veröffentlicht hat.

    Till: Ich vergesse immer wieder, wie gut »In Colour« war. Shoutout an Young Thug!

    Charlie: Zuletzt hatte Jamie xx auch auf dem Album von Headie One mitgewirkt. Einen Aspekt habe ich noch zum Video. Dadurch, dass der Song so schnell ist und durchgehend Power hat, wäre es redundant, wenn der Beat einfach eine Entsprechung in der Bewegung findet. Sie hat sich entschlossen, sich nicht hundertprozentig mit der Musik zu verbinden. Da ist viel Leerlauf, aber stellenweise setzt sie dann wieder super synchron ein.

    Till: Deswegen wirkt die Performance auch so natürlich, weil es nicht gezwungen aussieht und weil die Bewegungen auch an übertriebene Gestik erinnern.

    Charlie: Ich bin mir nicht so sicher, ob es diesen narrativen Schluss am Ende wirklich braucht.

    Till: Das ist ja auch improvisiert. Ich finde es ganz gut, dass es einen Abschluss gibt, der Song bietet das ja nicht unbedingt. Das Ende spendet auch ein bisschen Hoffnung und Wärme und passt auch gut ins Oberthema der Isolation.

  • Rina Sawayama »Bad Friend« (R: Ali Kurr)

    Charlie: Die Regisseurin hatte auch schon die letzten Videos von Rina Sawayama gemacht. Die waren auch schon wirklich stark, vor allem das Video zu »STFU!«. Ansonsten kommt sie aus dem Werbeclipkontext. Aber zum Video selbst: Finde es erstmal sehr cool, wie Rina Sawayama selbst die männliche Hauptfigur spielt. Die Ästhetik ist ein bisschen angelehnt an Akira Kurosawa, zum Beispiel »Stray Dog« fällt mir da ein. Alleine das Motiv der aus Verzweiflung trinkenden und rauchenden Menschen in der Bar ist ja im Film Noir ziemlich virulent. Dieser Ort, den man eigentlich erst zum Ende hin in Gänze sehen kann, ist sehr schön inszeniert.

    Till: Ich liebe es auch, dass im Verlauf des Videos auf einmal auch andere Menschen auftauchen. Die panische Barfrau, das Pärchen, das die Bar verlässt und der Mann in der Ecke, den das alles gar nicht interessiert. Man erfährt irgendwie über alle Figuren in diesem Video verhältnismäßig viel, dafür, dass eigentlich nur ganz wenig gezeigt wird. Das funktioniert alles stark über Atmosphären und Stimmungen und ganz kleine Details.

    Charlie: Bei 01:56 gibt es auch diesen Shot, wo Sawayama in das Glas schaut und sich darin selbst sieht. Das ist dann auch der Turning Point, ab dem sie sich nur noch besaufen.

    Till: Sehr kurz danach beginnt ja auch schon die Schlägerei.

    Charlie: Hier gibt es eine Parallele zum »STFU!«-Video. In beiden Fällen absorbiert sie erstmal, was ihr Gegenüber so zu erzählen hat, die Stimmung ist auch jeweils recht bedrückend. Und dann folgt eben so ein Exzess, eine Entladung.

    Till: Trotz dieser Tragik ist diese Kampfszene ein bisschen Slapstick-haft. Gerade mit diesen Schuss-Gegenschuss-Einstellungen, dem hämischen Lachen, das ist fast ein Comic Relief. Auch ganz interessant, dass am Ende der Gegenüber verschwunden ist.

    Charlie: Es liegt ja irgendwie nah, dass er einen inneren Konflikt repräsentiert, also nur eine Projektion ist. Mir ist gerade aufgefallen, dass es hier wieder eine starke Synchronisierung von Song und Video gibt. Das fällt zum Beispiel bei 00:48 auf, kurz danach kommt die Zeile »I’m so good at crashing in«, während der zweite Protagonist ins Bild stolpert.

    Till: Finde den Beginn eigentlich auch sehr schön. Während diese Atmosphäre etabliert wird, wäscht sich Sawayama nochmal die Hände mit dem Handtuch, das ihr gereicht wird. Das wirkt natürlich, als würde sie sich von den Problemen der Außenwelt befreien, was, wie wir dann später merken, nicht unbedingt möglich ist.

  • Klein »Mark« (R: Klein)

    Till: Die Musik, die zu hören ist, ist natürlich recht experimentell und Collagen-artig. Hier hören wir im ersten Teil auch Protestrufe und ähnliches. Dann kommen zehn Minuten Stille. Das musst du mir erklären.

    Charlie: Die zehn Minuten Stille sind ebenso wie der Titel Mark Duggan gewidmet. Dieser wurde 2011 in Tottenham von Polizisten ermordet. Der Ort, an dem sie hier in Google Street View entlangläuft, ist im Grunde ein Teil der Strecke, die Mark Duggan mit dem Taxi gefahren ist, bevor er an der Ferry Lane erschossen wurde. Nach seinem Tod haben in Tottenham und auch an anderen Orten in England große Proteste begonnen. Bis heute ist Mark Duggan eine Symbolfigur des antirassistischen Kampfes in UK.

    Till: Mit diesem Hintergrundwissen ergibt das Video natürlich auch wesentlich mehr Sinn. Ich selbst habe natürlich gleich den offensichtlichen Fehler gemacht. Ich hatte das Video nicht verstanden, mir aber auch nicht wirklich Zeit genommen, um mehr zu erfahren. Das ist sicher auch ein Aspekt der Kritik, den Klein hier übt. Dass Aktivismus häufig mit einer Aufmerksamkeitsökonomie verschmilzt, die er eigentlich bekämpfen sollte.

    Charlie: Die Auseinandersetzung mit dem Mord an Mark Duggan und den darauffolgenden Protesten wurde lange diskutiert, im Buch »Protest als Ereignis: Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation« gibt es da ein interessantes Kapitel. Dementsprechend ist es auch spannend, dass Klein jetzt neun Jahre später nochmal darauf zurückkommt und damit den ritualisierten Wellen der Berichterstattung entgegensteuert. Das Video zu »Mark« widerspricht dem Sensationalismus der medialen Repräsentation von Polizeigewalt. Der Track selbst ist in keinster Weise kommerziell, das Video noch weniger, Klein versucht eben auch nicht, aus diesem Ereignis Kapital zu schlagen oder sich darüber zu profilieren. Dazu ist vielleicht wichtig zu erwähnen, dass das Video drei Wochen vor dem Mord an George Floyd erschienen ist.

    Till: Und das Video fordert eben auch mehr als kurzfristigen Aktionismus. Es ist eben nicht mit dem Teilen von Grafiken getan, hier wird das Publikum aufgefordert, sich zu bilden, selbst zu forschen und zu lernen.

    Charlie: Es ist auch interessant, dass dieses Video an eine Entwicklung in der modernen Kunst anknüpft, in der Menschen Google Street View als eine Art Bildarchiv verwenden. Beispielsweise in der Fotografie zu Anfang der 10er-Jahre bei Künstler*innen wie Jacqui Kenny, Michael Wolf oder Mishka Henner. Wichtiger scheint mir aber die Nähe zur kritischen Kartographie, die die Neutralität solcher Kartensysteme in Zweifel zieht. Das passiert bei Klein durchaus auch, indem der angeblich so graue, leere Raum hier politisiert wird und sie durch das Klicken einen virtuellen Erinnerungsort moduliert.

  • Rosalía & Travis Scott »TKN« (R: Nicolás Méndez aka CANADA)

    Till: Was hat all dies zu bedeuten?

    Charlie: In erster Linie inszeniert sich Rosalía hier als Mamí. Außerdem fasziniert mich diese Horror-Ästhetik. Bei 01:25 sieht man, wie die Kinder diesen riesigen Donut essen. Das erinnert mich an Werwölfe oder Zombies über einem blutigen Körper.

    Till: Klar, auch diese Massen von Kindern und wie sie sich bewegen, das hat etwas Aggressives und Bedrückendes. Es gibt ja auch Einstellungen, in denen Rosalía in einem Haufen von Kindern untergeht. Die Atmosphäre schwankt zwischen Horror und Mütterlichkeit.

    Charlie: Das ist ja auch ein recht häufiger Topos im Horror-Genre. Auch ganz spannend, dass die Kids so krumpen im Video. Das wirkt fast manisch. Das Aufständige des Krumping wird hier mit etwas düsterem, zombiehaftem assoziiert. In dem strahlenden Sonnenschein hat diese energetische Körperlichkeit aber immer auch etwas spielerisches.

    Till: Diese Bilder von Kindergruppen auf engstem Raum finde ich total ambivalent. Das kann ein Gefühl von Heimat und Familie verbreiten, birgt aber auch Ähnlichkeiten zu Bildern, die wir aus Geflüchtetencamps kennen. Das ist mir auch gerade bei 02:06 aufgefallen, wo ein Zimmer voller Kinderschuhe zu sehen ist. Fünf Sekunden später sitzt Rosalía zwischen all den Kindern, die auf dem Boden schlafen. Die Räume sind eigentlich überraschend spärlich eingerichtet.

    Charlie: Gleichzeitig erinnern die Schuhe an Toberäume in Kindergärten. Textlich geht’s da um mafiöse Verhältnisse, zumindest vergleichen die beiden ihren kleinen Kreis immer wieder mit der Mafia, was ja dann auch wieder mit Familienangelegenheiten zu tun hat.

    Till: Rosalía beschreibt sich eben auch als Mamá dieses Klans, während Travis dann mal eine »El Papá«-Adlib macht.

    Charlie: Es gibt auch Erwähnungen für Gaspar Noé und Almaodóvar, bei letzterem hat Rosalía zuletzt in »Leid und Herrlichkeit« ihre erste kleine Kinofilmrolle performt. Und in der Hook wird dann auch nochmal davor gewarnt, die omertá zu brechen, also den Ehrenkodex der Mafia. All in all ein stranges Diffusat.