Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: März 2022

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im März mit Stromae, Kanye West und grim104.

VISMUSMÄRZ22
Der März bringt nicht bloß Frühlingsgefühle, sondern auch sehr gute Musikvideos. Wie jeder andere Monat auch, selbstverständlich. Doch bevor wir die Sonne in unser Leben lassen, geht es erstmal um viel Schmerz. Stromae und Léonie Pernet begehen Trauerakte, der eine in großem Maßstab für eine vermisste Sexworkerin, die andere für sich selbst mit kleiner Marschkapelle. The Game beschäftigt sich mit den dunklen Seiten der US-amerikanischen Gesellschaft, während Featurepartner Kanye West den Großteil des gemeinsamen Songs mit Eheproblemen und Mordfantasien füllt. grim104 und LGoony treten einen betäubten Roadtrip nach fehlgeschlagenem Coup an und kündigen damit das im Sommer erscheinende grim104-Album »Imperium« an. Nas, A$AP Rocky und DJ Premier zollen dem legendären Film »La Haine« Respekt – Ja richtig, genau der, der von einer Gesellschaft handelt. Und UK-Newcomer Jeshi widmet sich der frühen Filmgeschichte. Wir sind standesgemäß begeistert.

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  • Stromae »Fils de Joie« (R: Luc Van Haver)

    Till: Ganz schön viel Aufwand für so ein Musikvideo. Was meinst du, wie viele Menschen das sind?

    Charlie: Kommt darauf an, wie viel CGI benutzt wurde. Ich kann sowas schlecht einschätzen. Ein paar Tausend?

    Till: Wir sehen hier einen Staatsakt, eine Trauerfeier für eine verschwundene Sexworkerin, so wird es am Anfang des Videos mitgeteilt. Dort weht die Flagge eines fiktiven Landes, es gibt eine große Zeremonie mit riesigem Publikum und auch einigen Abgesandten aus verschiedenen Ländern, so will es wenigstens die Aufmachung und Kostümierung vermitteln. Stromae nimmt im Video sowie im Chorus des Liedes die Rolle des Sohnes der Vermissten ein. Schade, dass sie keine echten Top-Politiker gewinnen konnten.

    Charlie: Der Ort ist eben auch fiktional, die Uniformen und das Setting sind nicht ganz zuzuordnen. Die Ästhetik erinnert eher an russische Staatsakte, der Song selbst zehrt vom Funk Brasileiro, international auch als Baile Funk bekannt.

    Till: Stromaes Styling ist auch ganz besonders, mit dieser pilzigen Frisur.

    Charlie: Im Zentrum des Videos steht seine Rede, in seinen letzten Musikvideos schlüpfte Stromae in verschiedene Modi des Vortrags. Es gab dieses Video in der Talkshow, das viral ging. Und in »Santé« gab der Künstler die Anleitung zum Tanz. Sein Gesang hat etwas sehr Proklamierendes, als würde er eine Botschaft verkünden und seine Storytelling-Miniaturen werden durch diese Theatralik mit Intensität aufgeladen. 

    Till: Besonders viele Frauen gibt es im Video nicht, da sind die trauernden Sexworkerinnen, die den wohl leeren Sarg tragen. Und ein paar Soldatinnen, die eine kleine Choreografie aufführen. Da steckt auch ein schöner Fortnite-Dancemove drin. Und am Ende gehen sie auf die Kamera zu wie die französischen Schülerinnen in vierten »Harry Potter«-Film. Schön!

    Charlie: Im Lied erzählt Stromae in den Strophen aus drei verschiedenen, männlichen Perspektiven von dem Leben der Sexworkerin: der Freier, der Zuhälter, der Polizist.

    Till: Natürlich spannend, dass Stromae auch im Video all diese Rollen am Rednerpult verkörpert. Um die Unterschiede deutlicher zu machen, hätte man ja auch mit Verkleidungen oder sogar unterschiedlichen Männern arbeiten können. Das hätte die Gefahr einer Stereotypisierung geborgen. So aber stellt sich der Sänger als Repräsentant einer männlichen Öffentlichkeit hin, die alle Rollen gewissermaßen in sich trägt. Auch die des Sohnes.

    Charlie: Genau, er stellt sich hin und repräsentiert alle Stigmata der Mehrheitsgesellschaft. Stromae hat in einem Interview erzählt, dass er die Idee zu dem Song aus einer Talkshow hatte. Da ging es um die Kinder von Prostituierten, gemäß dem Format wurden verschiedene Perspektiven gegeneinander aufgewogen. Ein Kind hat dort erzählt, dass ein Klient seiner Mutter zu ihm kam und sagte: »Gestern habe ich deine Mutter gefickt«. Stromae fand diesen Satz und diese Attitüde natürlich komplett fehl am Platz. »How can you afford to say such things to a child?«, heißt es dann im Interview. Und weiter: »I wanted to take everyone’s point of view since everyone has an opinion on her, but unfortunately we don’t often ask her for hers.«

    Till: Die geforderte Anerkennung bringt er in dem Video in einer fiktionalen Welt komplett auf mit dem internationalen Trauerakt. Trotzdem zentriert er sich natürlich selbst, viel anders geht es in dem Fall aber nicht, es ist ja schließlich sein Song. Wenn er lamentiert, dass Perspektiven von Sexworkerinnen selbst nicht zur Geltung kommen, dann verhandelt »Fils de Joie« diesen Umstand, ohne ihn anzugreifen.

    Charlie: Andere Videos, die das Thema aufgreifen, verwenden meist ein Rollenspiel, in dem die Künstler*innen als Sexworker*innen dargestellt werden. FKA Twigs hat dafür beispielsweise auch recht viel Kritik bekommen. Dementsprechend ist es hier spannend, dass wir die Figur, um die es geht, gar nicht sehen.

    Till: Stromae ist sich seiner Position in der Thematik sehr bewusst, das Video auch Provokation. Es geht hier noch nicht um Lösungen, sondern darum, einen gesellschaftlichen Austausch anzustoßen.

    Charlie: Er will ein Sammelpunkt sein für Diskurse. Das zeigt auch sein neues Album, es geht stets um das große Ganze.

  • Léonie Pernet »Mon Amour Tu Bois Trop« (R:Nathalie Masduraud & Valérie Urrea)

    Till: Sie ist die Tote?

    Charlie: Ja, anscheinend. Und er tagträumt, erinnert sich.

    Till: Ein bisschen weniger Budget als Stromae.

    Charlie: Aber es geht wieder um einen Trauerakt. Regie geführt haben zwei Frauen, die zuletzt eine Filmreihe bei Arte organisiert haben. Das waren Kurzfilme von 24 verschiedenen Regisseurinnen. Das ging ein wenig herum, weil es in jeder Folge um sexuelle Belästigung in der Stadt ging. Verschiedene Szenen, die das Thema aufgreifen, von teilweise sehr bekannten Regisseurinnen, mit teils recht bekannten Schauspielerinnen. Nathalie Masduraud und Valérie Urrea haben das organisiert und koordiniert. Es gab auch Autorinnen, die dazu Texte geschrieben haben. Und jetzt gibt es von den beiden ein Musikvideo für Léonie Pernet.

    Till: Im Video ist es so, dass dieser Mann aus dem Fenster schaut und die Tristesse seines Viertels beobachtet. Die Wohnung ist so leer, draußen genauso. Und dann stellt er sich diesen Trauermarsch mit der Verstorbenen vor, der in eine Feier ausartet.

    Charlie: Man sieht auch ein gerahmtes Foto von einer Marschkapelle, vielleicht war er Teil davon. Während wir bei Stromae dieses megalomanische, irreale Setting beobachtet haben, spielt dieses Video im Außenviertel, das irgendwie beliebig daherkommt, keinen Schauwert in sich trägt.

    Till: Auch die Passanten außerhalb des Trauerzugs sind wirklich just some guys. Vielleicht bis auf den Typen, der aussieht, als würde er versuchen, ins Berghain zu kommen. Aber selbst der ist natürlich nicht performativ als cooler Großstädter inszeniert, sondern als verlorene Figur am Wegesrand.

    Charlie: Die prekäre Situation des Viertels wir schon angedeutet. Ziemlich grauer Alltag, zwei streiten sich, aber wenn die Verstorbene durchmarschiert, werden plötzlich alle aufmerksam. Das wirkt wie ein Moment der Wiedererkennung.

    Till: Ja, als würde ihr Geist in der Gegend spuken. Eigentlich alle in der Gruppe, die auch Instrumente tragen, tragen diese klassischen Marching Band-Uniformen. Aber ganz unterschiedliche! Marschkapellen sind ja nicht bloß uniformiert, sondern auch kulturell und lokal ganz stark verwurzelt. Da geht es eigentlich um starke Traditionen, Zugehörigkeiten. Dass hier keine zwei gleichen Uniformen auftauchen, fand ich dementsprechend sehr spannend, weil die Schauspieler*innen damit komplett aus dem Kontext gerissen werden. Das Lied handelt von Alkoholismus, so verrät es der Titel. Und bei diesen Toden heißt es ja häufig: aus dem Leben gerissen. Vielleicht sollen die unterschiedlichen Uniformen auch darauf verweisen.

    Charlie: Im Refrain heißt es auch: »Du zeichnest dir deinen eigenen Winter«. Hier haben wir ein buntes Gruppenporträt, tendenziell junge Leute, eine diverse Truppe. Wie sie durch die Straßen ziehen, hat einen Manifestcharakter. In ihrem vorherigen Video hat der bekannte Essay-Filmer Jean-Gabriel Perriot Szenen von maskierten Tänzer*innen aus Burkina Faso, Mali, Togo und der Elfenbeinküste miteinander verwoben, das hatte etwas sehr hypnotisches, diese rituelle Dimension scheint sie zu interessieren. Hier erinnert die Zusammenkunft an Jazz Funerals oder andere creolische Begräbniszeremonien, so auch die Frau im schwarz-weißen Gewand. Auf ihrer Schärpe steht »Mon Amour«

    Till: Die trauernde Marching Band bricht das Grau auf, ein starker Kontrast besteht auch zwischen den schwarzen und kunterbunten Regenschirmen. Der mexikanische Nackthund ist hässlich.

    Charlie: Ein bisschen, aber auch süß.

  • The Game & Kanye West »Eazy« (R: AZXD)

    Till: So, jetzt erstmal das quadratische, eigentliche Musikvideo in Schwarz-Weiß. Das finde ich fast noch weniger gruselig als das Animationsvideo – schauen wir ja gleich noch. Also, Kanye geht’s leider ganz und gar nicht gut.

    Charlie: Ja, leider. Vor kurzem hat er noch so schön gevibet mit Pusha T

    Till: Dieses Video ist natürlich sehr düster, durch das quadratische Format ist das Bild natürlich auch besonders eng, so beklemmend.

    Charlie: Ja, Horror, ne? Alter Horror, frühe Filmgeschichte, auf ähnliche Weise spielte damit zuletzt der Kurzfilm »The Bones«. Das kommt nicht nur von fehlender Sättigung, der Stop-Motion-Technik und dem Format, sondern auch durch diese eingeblendeten Texttafeln, die im Stummfilm üblich waren.

    Till: Zu den Horror-Verweisen kommen die Selbstreferenzen. Er fährt jetzt alleine Motorrad, von Kim keine Spur.

    Charlie: Auch diese brennende Kirche taucht auf, die spielte schon im Bühnenbild seiner »Donda«-Streams eine Rolle.

    Till: Da gab es einen Skandal, weil auf der Veranda der brennenden Kirche bei einem Konzert Marilyn Manson und DaBaby positioniert waren. In diesem Video kommt erst jemand auf dem Sarg gestiegen, auf den sich The Game dann setzt. Dessen Part beklagt natürlich in erster Linie die Toten und den realen Horror. Da geht es um Ganggewalt, die Boulevardisierung von Hip Hop und verstorbene Rapper. Dabei wirkt er im Video wie ein Herrscher über die Toten. Der Beat ist toll, der Part von The Game auch. Das Feature von Kanye ist lang und durchaus getrübt durch Zeilen wie »God saved me from that crash / Just so I can beat Pete Davidson’s ass«. Vielleicht auch, weil das Thema sowieso omnipräsent ist, aber ich brauch diesen Beef mit dem neuen Freund seiner Frau nicht auch noch auf Songs zu hören. Vor allem nicht, wenn The Game so abliefert. Aber ohne Kanye-Feature würde ich auch keinen Track von The Game anklicken, glaube ich. Wir sehen hier jetzt übrigens gerade, wie Kanye Pete Davidson mit dem Quad entführt, ihn einpflanzt und von Rosen durchbohren lässt.

    Charlie: Aus diesem Schmerz, den er Davidson zufügt, kann Kanye wieder die Blüte des Lebens gewinnen. Dass er alleine auf dem Motorrad sitzt, und auch insgesamt, ist eine krasse Antithese zu »Bound 2«. Es ist dunkel, die breite Landschaft ist durch das enge Instagram-Format ersetzt. Wüste gibt es hier auch, aber im Horror-Look. Es wird auch an manchen Stellen ins Bild gezoomt, dann ist es total unscharf, wie ein digitaler Zoom eben so aussieht.

    Till: Es ist, in Text und Video, eine total destruktive Taktik, die Kanye fährt. Das tut weh, darf aber auch weh tun. Er legt natürlich auch Ex-Boyfriend-Verhalten an den Tag, für das Andere eingewiesen werden. Auf künstlerischer Ebene wird diese Destruktion aber eben sehr unmittelbar übertragen. Alleine, wie dieser extrem krasse Beat durch den überlangen Part auseinander fasert. Wir schauen jetzt nochmal das andere Animationsvideo! 

    Charlie: Da wird visuell schon viel aufgegriffen, was im Songtext passiert. Sie treiben es aber komplett auf die Spitze. Die Einstellung, in der er der Tisch ist, ist einfach perfekt. Auch mit den Yeezy-Boots natürlich.

    Till: Das Video knüpft stark an neuere Horrorgenres an, hat insgesamt eher eine Videospiel-Optik. Dunkel, aber mit blitzenden Lichtern und Jumpscares. Die Kamerafahrten auf offener Straße sind sehr GTA-mäßig. Und es erinnert auch an apokalyptische Erzählungen an, speziell natürlich mit den gehäuteten Affen, die auch das Single-Cover schmücken. Das wiederum ist eine Adaption von einem fotografischen Kunstwerk von Nick Knight, das einen echten, gehäuteten Affen zeigte. Nick Knight ist nicht nur angesehener Fotograf, sondern hat auch bei Kanyes Video zu  »Bound 2« Regie geführt. Womit sich schon mal ein Kreis geschlossen hätte. Ich glaube, Kanye braucht mal eine Auszeit.

    Charlie: Sich mit Arbeit voll zu ballern, ist auch eine Bewältigungsstrategie. Er hat schon wieder ein Album komplett produziert, das neue von Fivio Foreign.

    Till: Viele Leute haben Kanye nahe gelegt, vielleicht nicht das komplette Privatleben samt Eheproblemen und Kindererziehung auf Instagram breitzutreten. Das übersieht ein wenig, wie Kanye funktioniert. Spätestens mit dieser »Life of Pablo«-Listening Party im Madison Square Garden vor ein paar Jahren war ja irgendwie klar: Diese neue Generation von Superstars braucht nicht mehr Infrastruktur als ein iPhone, das sie an eine der größten Anlagen der Welt anschließen, daraufhin wird das Pre-Listening weltweit übertragen. Kanye muss sich kaum anstrengen, um die halbe Weltbevölkerung zu erreichen. Da gibt es null Filter mehr, was der Kunst sehr gut tun kann, menschlich aber schwierig wird. Vielleicht auch ein bisschen zu viel Macht für eine Person.

  • Jeshi »3210« (R: Will Dohrn)

    Charlie: Das Rad des Fahrrads, in dem sich die Bilder schon zu Beginn drehen, referiert auf eine Erfindung Joseph Plateaus, das Phenakistiskop, einer der frühesten Kinoapparate Ende des 19. Jahrhunderts. Da wurden Bilder in einer Reihe an einem Rad angebracht, um diese filmische Wahrnehmung zu erzeugen. Eines der berühmtesten Werke, das mittels dem Phenakistiskop zum Leben erweckt wurde, ist das galoppierende Pferd von Eadweard Muybridge, das hier bei 01:37 adaptiert wird. Muybridge erfand dann zur Vorführung seiner Serienfotografie das Zoopraxiskop, hierdurch konnten das Bewegtbild projiziert werden.

    Till: Diese Serienfotografie eines galoppierenden Pferdes, das ist eine der berühmten Geschichten des frühen Kinos. Auch interessant: Die Erfindung des Kinos war in dem Sinne keine künstlerische, sondern eine forschende Arbeit. Muybridge war beauftragt worden, herauszufinden, ob es im Galopp einen Moment gibt, an dem keiner der Pferdefüße den Boden berührt. Die Antwort lautet: Ja.

    Charlie: Auch in dem Musikvideo tauchen die galoppierenden Pferde bei 1:38 auf, als die Kamera an den Plakaten im Tunnel entlangfährt. Das Video von Jeshi ist total schön, es beginnt mit alltäglichen Handlungen, die den Ort und das Konzept des Videos einführen.

    Till: Am Anfang hakt das Video übrigens ein bisschen, weil die Framerate manipuliert wurde, um den filmischen Effekt der Fotoserien zu erzeugen. Jeshi läuft da so durch und wundert sich, was diese Bilderserien hier zu suchen haben. Film wird immer wieder in seiner medialen Form mit den teils verzerrten Montagen des menschlichen Gedächtnisses verglichen. Das natürlich auch schon seit dem frühen Kino, nicht umsonst nennt man einen Gedächtnisverlust Filmriss. Jeshi spaziert hier natürlich auch so leicht verwundert durch die Gegend, weil er erst einzelne Fetzen einer Geschichte erblickt, die dann als Bewegtbild erzählt wird. Ein bisschen holprig, aber auch assoziativ montiert.

    Charlie: Aus den im Viertel hängenden Bildern wird eine Erzählung gestrickt. Die ist nicht komplett kohärent, aber es gibt einige zentrale Handlungen: Er küsst eine Frau, das Bild kehrt später wieder. Es werden Partyszenen abgebildet, dann kommt irgendwann die Polizei, es wird stressig. Das wird durch die Dashcam-Aufnahmen auch schön eingeführt. Auf dem Poster für die Party steht Cadenza im Line-Up, das ist einer der nicesten Produzenten in UK, hat unter anderem für Flohio produziert, aber auch seine EP »Dead Set« ist sehr zu empfehlen.

    Till: Der hat natürlich auch diesen Song hier produziert. Übrigens verweist ja auch der Titel »3210« auf den Countdown zu Beginn eines alten Films. Die Geschichte führt auch durch den Nachtbus, auf der Party ist Jeshi auch rauschhaft nah an der Kamera.

    Charlie: Da wird die Erinnerung auch unscharf.

    Till: Beim Rubbellos wird nichts gewonnen. Das Video erzählt jetzt keine Hollywood-Story, aber das wäre dem Medium ja auch nicht angemessen. Im Text erzählt er von verschiedenen Facetten seines Großstadtlebens, um die geht es dann auch im Video. Party, Liebe, Bullen.

    Charlie: Coming-of-Age.

    Till: Gut, dass da kein Wind kam – sonst wäre vielleicht alles weggeflogen.

  • Grim104 »Numb« feat. LGoony (R: Martin Swarovski)

    Till: Im Juli veröffentlicht grim104 sein melancholisches Sommeralbum »Imperium«. Das wurde kürzlich angekündigt und dazu auch eine Telefonnummer freigeschaltet. Wenn man bei der Hotline anruft, wird der Filmtipp der Woche angesagt: »Numb« von Martin Swarovski. In den Hauptrollen grim104 und LGoony, zwei Gauner, die den Coup ihres Lebens planen, doch dann geht alles fürchterlich schief, die beiden treten einen Roadtrip an. Das sehen wir nun hier! Schon bei »Das Grauen, das Grauen« gab es eine Hotline, bei der man einen Song vorab anhören konnte und auch auf den Anrufbeantworter sprechen durfte. Dazu auch eine tolle Internetpräsenz, die sich im Falle der Videothek Imperium noch im Aufbau befindet.

    Charlie: Martin Swarovski macht eigentlich alle Zugezogen Maskulin-Videos – Wir hatten als letztes »Der Erfolg« besprochen, im August 2020. Die bemühen sich ja schon immer, etwas über das Video heraus dazu zu erfinden.

    Till: »Numb« hat einen schönen Kontrast von Neonfarben, die klassischen Pillendöschen, die Outfits sind toll. Ein richtig schöner Eighties-Arthouse-Film. Die Wohnung ist auch toll.

    Charlie: Die haben gerade einen Bankraub gemacht, eigentlich müssten sie in Motels unterkommen.

    Till: Aber eigentlich siehts aus wie eine Künstlerwohnung, überall stehen Blumen rum. Wer kümmert sich um die? Das ist total romantisiert.

    Charlie: Er sagt auch »ein Fetzen Samt«, da ist alles schon samtig. Die Wohnung ist schon numb, aber das schützt ihn auch nicht. Am liebsten würden sie sich so stumpf und weich machen wie die schönen Möbel hier. Man sieht die Knarren, die Masken. grim104 schaut nervös aus dem Fenster und man weiß: Hier läuft’s nicht rund.

    Till: Es liegt auch noch Geld auf dem Boden. Während Grim104 ganz unruhig Ausschau hält, ist LGoony schon ganz apathisch, hat quasi schon aufgegeben.

    Charlie: Schon das breite Format lässt das Video nach Kinofilm aussehen. Bei Jeshi war das Video so ein krasser Sog. Hier hat man ganz langsame Kameraschwenks. Normalerweise sind das so Schwenks, die dann irgendetwas enthüllen. Aber hier gibt es gar nichts zu enthüllen! Bloß die immergleiche Taubheit.

    Till: Das knüpft an den Text an: Man will die Weltreise machen, fährt aber doch nur durch ein kaputtes Deutschland. Ich musste ein wenig an die Roadmovies des Neuen Deutschen Films denken, etwa Wim Wenders‘ »Alice in den Städten« und »Im Lauf der Zeit« aus den Siebzigern. Nicht, weil »Numb« daran angelehnt wäre, sondern einfach, weil das Filme waren, die das US-Amerikanische Roadtrip-Topos in das wesentlich kleinere Deutschland verlagert haben, dem nicht bloß die langen Wege, sondern auch die breiten Landschaften komplett fehlen. Dazu haben die Filmemacher des Neuen Deutschen Kinos sich ja sehr bewusst mit den gesellschaftlichen Zuständen und historischen Linien der BRD auseinandergesetzt, so wie es Grim104 hier ein wenig, auf dem Album dann noch ausführlicher tut.

    Charlie: Aber ich musste auch an so Ganovenfilme wie »Supermarkt« von Roland Klick denken, deutsches Genrekino. grim104 rennt noch den Mythen hinterher, Lgoony ist längst nur noch teilnahmsloser Komplize, der klägliche Rest einer Roadmovie-Sehnsucht. Ich fühle mich auch etwas an das »Sommer Vorbei«-Video von Zugezogen Maskulin erinnert. Das Licht strahlt hier in das Zimmer, doch man empfindet nur Panik – damals: schöner Sommer, aber ich hab keinen schönen Sommer.

    Till: Das Ende ist ja auch nochmal schön: Nachdem grim104 lange darum bittet, es müsse ja nicht gleich alles besser werden, es solle ihn bloß nicht so hart treffen, sehen wir im Hintergrund eine riesige Explosion, die beiden stehen völlig unberührt am Auto. Klappt doch! Ich bin gespannt, ob das Narrativ dieses Videos in der restlichen Probephase noch fortgeführt wird.

  • Nas, DJ Premier & A$AP Rocky »Wave Gods« (R: Hidji, Spike Jordan & A$AP Rocky)

    Charlie: Der Song ist auch nicht ganz neu, oder?

    Till: Das ist noch ein nachträgliches Video zu »Magic«, dem Album, das Nas an Weihnachten veröffentlicht hat. Regie haben hier Hidji und Spike Jordan geführt, Rocky selbst ist als Co-Regisseur aufgelistet. Das Video wurde komplett in New York gedreht. Es ging ziemlich rum, dass Teile des Videos eine offensichtliche Hommage an »La Haine« ist. Der Film ist ja eh ziemlich berühmt, aber in Europa natürlich mehr als in den USA. Rocky wiederum zeigte sich immer wieder sehr beeinflusst von dem Film, das Video läuft auch in der Produktion unter AWGE, der visuellen Agentur des A$AP Mobs. Es gab dann so Videos mit Gegenüberstellungen von »Wave Gods« und »La Haine«, da gibt es einige Überschneidungen, allen voran natürlich, wie Premier mit den Boxen am Fenster steht.

    Charlie: Genau, und wie anschließend die Kamera entfesselt durch die Hood schwebt und die alltägliche Atmosphäre im Viertel einfängt. Die Hommage an La Haine hatte man natürlich auch schon in dem Kurzfilm von Skepta und A$AP Rocky, »Money Man«. Über den wurde zur Veröffentlichung 2016 auch sehr viel berichtet. Glaube kein Film wird im Rap mittlerweile häufiger als Referenzrahmen herangezogen als »La Haine«. Ulysse eröffnete seine Single »Jeune renoi«  zuletzt mit der Zeile: »Das Leben Schwarz-Weiß wie La Haine.« 

    Till: Irgendwie ja auch schön, dass Rocky seine noch jüngeren Fans mit dem Film in Kontakt bringt. Generell ist diese Single auch ein schönes mehrgenerationales Projekt. Ich bin fasziniert von seinem Outfit hier, diese pinke Cap mit dem »Circle Jerk«-Shirt. Erinnert mich sofort an die Soulja Boy-Ära.

    Charlie: Er spielt zunächst ja auch eher einen Jugendlichen.

    Till: Genau, zeitlich ist dieses Video fast gar nicht festzumachen, weil da Dinge aus allen Generationen vorkommen, die den dreien wichtig sind. Ansonsten sind das eher alltägliche Szenen mit starken Kontrasten: Der eine mit dem Koffer voll Geld, der andere obdachlos. Der eine in der Limousine, der andere im Krankenhaus. Die U-Bahn ist auch von innen komplett vollgetaggt, das ist ja seit den Achtzigern eigentlich nicht mehr so, sieht eher nach den frühen Graffiti-Filmen wie »Style Wars« aus.

    Charlie: Man hat auch lustige Szenen, mit Eiern und Schmuck, aber eigentlich geht es um die Kollision von Reichtum und Armut.

    Till: Es gibt auch dieses Pappschild mit der Aufschrift »will rap for money«, da wird es ganz deutlich. Die Eingangszitate sollen natürlich so inspirational sein, naja. Aber es geht darum, nicht in die Armut zurückzufallen, nicht über die eigene Vergangenheit zu stolpern. Einzelne Einstellungen kommen mir super bekannt vor, etwa der von oben gefilmte Zebrastreifen. Aber in diesen plakativen Überstellungen sind natürlich auch die Bilder selbst schon aufgeladen. Außerdem: Der Titel verweist natürlich auf das gleichnamige Mixtape von Max B, der auch im Intro des Songs spricht. An der Wand hängt am Anfang auch ein Poster, das seine Freilassung fordert. In dem Sinne: Free Max B!