Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats März 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Valentin Hansen monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird.

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Das Leben läuft langsam und immer langsamer. Wir, Till und Valentin, sitzen zuhause und schauen Musikvideos, also solltet ihr das auch tun. Diesen Monat haben wir leider wieder Männerüberschuss, daran müssen wir noch arbeiten. Nichtsdestotrotz sind die Musikvideos aus dem Monat März wieder höchstinteressant. Eine der spannendsten Entwicklungen in dieser Phase der Selbstquarantäne dürfte sicherlich der Boom von Apps wie Triller sein. Fast jeden Tag erreichen darüber frische Rap-Parts unsere Ohren und Augen, seien es die Quarantäne Freestyles von Tightill oder der Coroni-Megamix von BHZ und Freunden. Andererseits finden Produktionsteams eigene Lösungen für die Aufgaben unserer Zeit. Breitband haben zusammen mit PIPIMANE ein Video veröffentlicht, für das niemand sein Haus verlassen musste. Und Lugatti & 9ine stellen die Produktion komplett auf Digitalanimation um. Außerdem gibt es einen Einblick in Haftbefehls Gesamtwerk, Symbas DIY-Spirit und ein überraschend unbedrückendes Video zu einem bedrückenden Text von Lous and The Yakuza.

Die offizielle YouTube-Playlist zur Kolumne gibt es hier.

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  • Haftbefehl »RADW« (R: Chehad Abdallah)

    Valentin: Erstmal ist das Intro des Videos natürlich sehr ehrwürdig. Da wird an die Opfer des rassistischen Terroranschlags in Hanau erinnert.

    Till: Das ist super wichtig und gut, dass Haftbefehl seine Reichweite nutzt. Ich fand auch das Intro in der Single-Version interessant. Da hört man Hafti, wie er Bazzazian sagt, er soll den Beat so laut wie möglich machen, er würde dann mit dem Instrumental Eins gegen Eins kämpfen. Das sagt schon relativ viel über die Energie dieses Tracks aus.

    Valentin: Das Video zu »RADW« knüpft nahtlos an alles an, was da war. Ich finde das alles sehr nice, aber nichts daran hat mich krass überrascht. Vielleicht muss es das auch nicht.

    Till: Für Haftbefehl funktioniert es sehr gut, da weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Das hat sich ja auch schon mit der Tracklist des Albums angebahnt. Ich finde es gerade cool, wie sich das Video in das Gesamtkunstwerk einordnet. Das geht zum Beispiel über die Illustrationen, die im Zusammenhang mit dem Albumcover stehen. Andererseits ist zum Beispiel die Szene mit dem driftenden Polizeiwagen spannend, weil sie auf ältere Videos rekurriert. Da ist der Bezug zu »Saudi Arabi Money Rich«, wo eine ähnliche Szene für die neu gewonnene Freiheit stand. Jetzt sitzt er aber im Polizeiwagen, dreht sich im Kreis und geht trotzdem ab. Das ist auch ein Statement.

    Valentin: Da läuft auf jeden Fall viel zusammen. Es fühlt sich ein bisschen wie ein Mashup aus allen Hafti-Videos an. Auch die Special Effects, die es aussehen lassen, als würde sein Körper zu platzen drohen, passen zum Sound des Songs ebenso wie zur Monstrosität des Albumcovers. Die ganze Haftbefehl-Welt wird zu neuem Leben erweckt.

  • PIPIMANE »S-Bahn« (R: Breitband)

    Till: Das Video steht gerade bei ungefähr 700 Aufrufen, also richtig Untergrund. Aber auch: Directed by Breitband. Der hatte so einen kleinen Soundcloud-Hit. Das ist jetzt das erste von zwei Corona Type Videos in dieser Liste.

    Valentin: Das sieht alles cool aus, hat den typischen Breitband-Grain und man hat sich den Gegebenheiten zwangsläufig angepasst.

    Till: Ich finde es vor allem interessant, dass gezwungenermaßen Musikvideos entstehen, bei deren Produktion sich Regie und Artists überhaupt nicht real begegnen müssen. Die andere Sache ist, dass diese Webästhetik inklusive Story-Layout natürlich nichts neues in Musikvideos ist. Aber durch das Social Distancing wird das zu einem zentralen Motiv der Realität, weil ein Großteil des kulturellen Lebens eben gerade nur noch online stattfindet.

    Valentin: Ich hatte auf Instagram einen Post darüber gesehen, wie zwanghaft digital man als Künstler*in jetzt sein muss. Analoge Kunstformen wie Performance und Live-Musik müssen ins Internet verlagert werden, um überhaupt fortbestehen zu können. Vorher war Online-Präsenz auch wichtig, aber jetzt hast du gar keine Wahl mehr. Ebenso kannst du jetzt eben keine klassischen Musikvideos mehr drehen. Mal sehen, was das noch mit sich bringt.

    Till: Gerade deswegen finde ich es krass, dass die Implikationen dieser digitalen Ästhetik sich plötzlich verändern. Was vorher als Spiel mit Formaten und Multiscreens für sich stand, steht plötzlich für eine Zeit, in der es ohne das Internet nicht mehr geht.

  • Lugatti & 9ine »Schlangen um den Hals«/»Weisse Asche« (R: Kiefer Tauchmann)

    Till: Jetzt haben wir einen Doppelschlag von Lugatti & 9ine, produziert von Funkvater Frank. Die Videos funktionieren im Zusammenspiel und sind eben auch geprägt von der schwierigen Situation, die gerade herrscht. Das Video zu »Schlangen um den Hals« ist ja relativ klassisch. Besonders zu beachten sind natürlich die Farben und die verschiedenen Video-Texturen.

    Valentin: Im »Weisse Asche«-Video ist dann die Farbigkeit wieder sehr präsent. Das ist auch wieder so düster, eine sehr coole Atmosphäre.

    Till: Man hat da auch teilweise die gleichen Szenen wie im Live Action-Video. Der Regisseur ist ja auch der gleiche bei den beiden Videos, bei »Weisse Asche« kam aber eben Wassili Franko dazu, der sich um die Animationen gekümmert hat.

    Valentin: Da werden die einzelnen Shots aus dem Kontext genommen und eigenständig präsentiert. Das gilt für die Schlange, das Handy, den Aschenbecher und so weiter.

    Till: Das passt dann sehr gut, weil der Song eben auch viel ruhiger ist. Ein bisschen die Ruhe nach dem Sturm. Sehr cool ist auch, dass die Videoästhetiken aus »Schlangen um den Hals« teilweise übernommen werden. Da sind Shots dabei, die ganz stark nach Camcorder-Aufnahmen aussehen, obwohl tatsächlich die Animation vom Bildschirm abgefilmt und gefiltert wurde. Was dem Video tatsächlich fehlt, ist der Performance-Charakter. Es wird wirklich spannend sein, wie sich die klassische Ästhetik von Rap-Videos in dieser Ausnahmesituation entwickelt.

    Valentin: Funkvater Frank ist in dem Video auch gar nicht präsent. Aber dafür habe ich keine Interpretation parat. Da kommt auch eine EP, oder?

    Till: Yes, die kommt voraussichtlich am 8. Mai. Mal sehen, ob sich das jetzt durch Corona nochmal ändert.

  • Symba »Angels Sippen« (R: RB)

    Valentin: Schön mit iPhone 11 gedreht. Der Song ist natürlich auffälliger als das Video. In dem Fall unterstützt das den Vibe des Tracks aber sehr gut.

    Till: Ich mag es sehr gerne, wie DIY das alles ist. Die Playboysmafia bringt so eine coole Lockerheit. Die haben da ein paar Freunde in einer schönen Wohnung versammelt, holen das Handy raus und haben am Ende ein chilliges Musikvideo. Auch, dass sie keine Models für Musikvideos casten, sonder einfach mit Friends rumhängen, spricht für sich. Das ist super authentisch und unverstellt.

    Valentin: Der Vibe der Playboysmafia kommt da sehr gut durch. Mir gefällt auch, dass es nicht so super männlich ist. In solchen Videos sieht man oft nur Jungs. Nur die Gang. Und da sind Frauen nicht erlaubt. Hier sieht man, wie gemischt diese Gruppe ist.

    Till: Es geht halt nicht nur ums Posen, sondern die wissen, dass sie einfach voll cool sind, so wie sie eben sind.

    Valentin: Symba ist ja auch schon ziemlich populär mittlerweile. 600.000 Klicks, das ist schon was. Das wird noch ein bis zwei Jahre dauern, dann spielt er auf der Hauptbühne beim splash!. Sobald der ein Album veröffentlicht, ist alles vorbei.

    Till: Ich möchte noch anmerken, dass sie auch hier in einem coolen Auto mit grünem Licht sitzen. Das hatten wir ja vorher schon.

  • Lous and The Yakuza »Solo« (R: Wendy Morgan & Kevin Bago)

    Valentin: Die Sängerin wohnt in Belgien, ist aber Kongolesin.

    Till: Darauf bezieht sich dann auch das Jahr der Unabhängigkeit, von dem sie singt. Sie spricht auf dem Song über ihre Erfahrungen als Schwarze Frau im Belgischen Alltag. Meine Freundin hat eine Weile in Belgien gewohnt. Sie ist weiß, aber jüdisch. Schon dadurch war sie Antisemitismus durchgehend ausgesetzt. Als Schwarze Person kann man sich dem Rassismus nicht entziehen. Das ist ein Land, das einen Justizpalast, den Stolz des Landes, genau neben dem Schwarzen Viertel stehen hat. Der Palast wurde aus Marmor und Gold aus den ehemaligen belgischen Kolonien erbaut. Das kann man sich nicht ausdenken.

    Valentin: Ich find das krass, weil die Aussage des Songs total verzweifelt ist. Sie sagt, sie werden immer alleine bleiben und nie dazugehören. Sie fragt auch, ob sie schreien muss, damit jemand zuhört. Der Vibe von dem Song ist aber total ruhig, fast schon bisschen happy. Sie performt so weird-energisch, lächelt aber immer wieder. Das trifft mich von einer ganz komischen Seite.

    Till: Das ist vielleicht auch ein Ausdruck von diesem Integrationstheater, in das man sich immer wieder begeben muss, wenn man diese immergleichen Diskussionen führt. Dass das Lied und das Video so fröhlich wirken, ist vielleicht als Ausdruck dessen zu sehen, dass Schwarzen Personen ansonsten nicht zugehört wird.

    Valentin: Dadurch, dass dieser Schmerz, den sie besingt, im Video gar nicht zu sehen ist, tut es irgendwie doppelt weh. Es geht um schlimme Erfahrungen, aber musikalisch und visuell ist es gar nicht düster. Die Performance ist total cool. Obwohl das Video super minimalistisch ist, stecken die Bewegungen und Farben voller Ausdruck. Das berührt mich sehr.

    Till: Durch die Untertitel wird die Aufmerksamkeit total auf den Inhalt gelenkt. Normalerweise würden wir bei einem französischen Song wahrscheinlich gar nicht auf den Text hören. Aber weil es die englischen Untertitel gibt und das Video so simpel gehalten ist, wird man dazu gebracht, voll auf den Text zu achten.

    Valentin: Da merke ich erst, wie oft ich überhaupt nicht hinhöre.