Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Juni 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Dieses Mal mit Anderson .Paak, Haiyti und Kanye West.

Juni_VisualizingMusic
Die Musikvideos des Monats Mai zeigen sich apokalyptisch. Das ist nur verständlich, wenn man sich dem Zustand unserer Welt bewusst ist. Die Interpretationen sind allerdings von Grund auf unterschiedlich. Während Anderson .Paak nüchtern kommentiert, die Ruhe und Auszeit mit seinen Freund*innen genießt, ist das neueste Video von Kanye West hektisch, Regisseur Arthur Jafa bleibt sich treu und liefert ein assoziatives, intuitives Meisterwerk. Armand Hammer stellt sich eine Welt nach dem Anthropozän vor und Haiyti erschafft gleich eine Traumwelt, die dem American Dream erstaunlich nahekommt. Zudem liefern J Balvin und Alewya zwei überraschend farblose Videos, die den Zeitgeist perfekt einfangen. Till Wilhelm und Charlie Bendisch sprechen bei Kuchen und Cremant über das Ende der Welt, Körperlichkeiten und Simulationstheorie. Sehenden Auges dem Untergang entgegen.

Liste starten

  • Anderson .Paak »Lockdown« (R: Dave Meyers)

    Till: Erstmal ganz cool zu sehen, wer hier so zusammensitzt. Ich sehe Syd, Jay Rock, SiR, Dominic Fike und auch Dumbfoundead.

    Charlie: Der Einstieg in den ersten Part »Time heals all, but you’re out of time now« erinnert mich an James Baldwins »How much time do you want for your progress?«. Im Video selbst passiert ja wenig, aber gerade dadurch unterscheidet es sich zu vielen anderen Musikvideos, in denen es um die aktuelle Situation in den USA geht.

    Till: Im Video geht es ja nicht nur um Polizeigewalt und #BlackLivesMatter, sondern auch um die anhaltende Pandemie. Im Diner sitzen sie alle mit Masken, während draußen die Welt untergeht. Der Titel des Songs bezieht sich nicht nur auf Corona, sondern auch auf die Ausgangssperren. Die Umarmungen, die im Video zu sehen sind, stehen hier meiner Ansicht nach auch im Mittelpunkt. Das hat lange gefehlt aufgrund der Kontaktbeschränkungen, aber jetzt gerade ist es eben so wichtig, sich gegenseitig Kraft zu geben.

    Charlie: Anderson .Paak schaut im ersten Part größtenteils in den Spiegel, Jay Rock spricht dann ganz ruhig mit Syd. Zentral ist hier, dass das Video nur mit sehr ausgewählten Schnitten arbeitet und sich auf wenige Einstellungen reduziert. Die Parts der beiden gewinnen mehr Raum. Das ist ja ein starker Kontrast zu sonstigen Musikvideos, in denen es um Proteste geht. Zum Vergleich: »Pig Feet« von Denzel Curry oder »Blacktivist« von Flatbush Zombies. Da werden Protestbilder eher rhythmisch und hektisch aneinandergeschnitten. Dadurch, dass die Montage hier so ruhig ist und auf erschreckende Protestbilder verzichtet wird, gewinnt das Video keine Überhand über den Song.

    Till: Darauf werden wir bestimmt später bei Kanye nochmal zurückkommen. Dieses Video zeigt Zeit zur Reflexion, eine Pause. Das ist etwas, wonach sich viele sehnen, glaube ich. Das schlägt sich eben auch in den Bildern nieder. Was dieses Video auch dominiert, ist diese Gegenseitigkeit, dieses Füreinander-Da-Sein.

    Charlie: Die Szene bei 01:11 ist vielleicht exemplarisch. Wenn solche Szenen im Auto in Musikvideos vorkommen, ist das oft ein Gang-Moment auf engem Raum, hier werden alle Personen isoliert voneinander dargestellt. Weil die Personen so auf sich selbst zurückgeworfen gezeigt werden, sind die Körperlichkeiten, die gezeigt werden, umso stärker. Sehr schade, dass der Part von Jay Rock nicht auf den Streamingdiensten zu finden ist.

  • Armand Hammer feat. KeiyaA »Charms« (R: Joseph Mault)

    Charlie: Dadurch, dass das ein One Take ist und die Kamera nur diese eine konstante Bewegung hat, muss man richtig aufmerksam sein als Zuschauer. Das sind eigentlich mehr Details, als man wahrnehmen kann.

    Till: Meine Vermutung wäre, dass wir hier eine Miniaturwelt sehen. Die ist aber wirklich extrem detailreich, man sieht ja sogar, dass die Pflanzen feucht sind und es neblig ist, da steckt schon sehr viel Aufwand dahinter. Wir sehen hier eine postapokalyptische Welt. Die ist aber ganz interessant, weil sie eben nicht komplett kaputt und ausgedörrt ist, sondern das Leben dort nur so vor sich hin sprießt. Aber eben nicht das menschliche. Die Natur holt sich diese suburbane Gegend zurück.

    Charlie: Im Outro geht es dann darum, welches Erbe wir hinterlassen wollen. Man könnte sagen, hier wird eine Welt nach dem Anthropozän gezeigt, also nach dem Zeitalter, in dem die Welt von den Menschen geformt und eben auch zerstört wird.

    Till: In dieser Gegend weist noch viel auf Menschen hin, aber wir sehen keine. Die Autos, die schon überwuchert sind, sind gleichzeitig voller Sticker und Plakate. Das weist natürlich auch auf aktuelle Konflikte hin, diese Zukunft scheint also gar nicht so weit weg zu sein.

    Charlie: Aus diesen Details kann man sich eben eine eigene Erzählung spinnen, eine Vermutung dessen, was hier vorgefallen ist. Das Video steht voll für sich. Die Verbindung zum Song ist höchstens inhaltlich, formal ist da wenig. Das führt dazu, dass Song und Video non-hierarchisch nebeneinander existieren können. Am Ende läuft das eben zusammen, im Erstarren der Kamerabewegung und dem Outro des Songs, das dann noch dahin plätschert.

  • Haiyti »La La Land« (R: Lennart Brede)

    Charlie: Dieses Video birgt ja sehr viele Filmreferenzen, natürlich an »La La Land«, aber eben zum Beispiel auch an »Alice im Wunderland«, wie man bei 0:38 sieht. Das erinnert sehr an die Kartensoldaten, aber eben im Louis V-Look.

    Till: Was mir auch sehr gefällt, ist die »Kameraarbeit«, wenn man das im Animationsvideo so nennen kann. Die Kameraführung läuft eigentlich super glatt, aber hin und wieder, zum Beispiel bei 0:44, haben wir eine Shaky Cam, also das sieht aus, als wäre es eben mit wackliger Hand gedreht worden. Die sonst sehr ruhige Perspektive wird von diesem wilden Tanz quasi mitgerissen.

    Charlie: Diese Korrelation zwischen Wüste und Frauenkörper kennt man auch irgendwoher, ich kann es aber gerade nicht benennen. Aber fängt wahrscheinlich schon bei der Sphinx an.

    Till: Bei den Szenen in der Stadt finde ich es irgendwie cool, dass es einmal total versmogt ist, ein ander mal ganz clean und fast durchsichtig. Städte werden so sauber geplant, mit ihren verspiegelten Oberflächen. Real sieht das alles ganz anders aus. Hauptsächlich ist dieses Video so nice, weil’s einfach so komplett drüber ist.

    Charlie: Wusstest du, dass es in Hamm tatsächlich einen Glaselefant gibt, also als Skulptur? Hat aber wahrscheinlich nichts damit zu tun. Wir haben ja gerade schon drüber geredet, ob wir ab 02:00 Baguettes, Pommes oder Grissinis sehen, das können wir jetzt mal auslassen. Aber es ist auch schön, wie vage auch die ganze Landschaft im Video bleibt.

    Till: Glaubst du, es gibt hier eine tiefere Bedeutung?

    Charlie: Das ist natürlich alles sehr amerikanistisch, der Songtext erinnert an den klassischen Bonnie & Clyde-Topos. Aber eigentlich ist das sehr selbstreferenziell, eine endlose Spirale der Popkultur. Wer es politisch lesen will, kann die Durchquerung der Wüste, die hier tanzend durchschritten wird, natürlich als ein Statement gegen Trumps Einwanderungspolitik verstehen.

    Till: Gerade mit dem Verweis auf »La La Land« kann man eigentlich nochmal über das Thema Apokalypse sprechen, weil das auf eine Art in sehr vielen Videos gerade präsent ist. Hier haben wir keine klassische postapokalyptische Welt, sondern eher ein Paralleluniversum, das natürlich auch eine Ausflucht aus unserer kaputten Umgebung ist.

    Charlie: Das Wesen im Video erinnert mich übrigens an diese Kukeris. Die sind ein Teil bulgarischer Folklore, hierzulande bekannt durch den Film »Toni Erdmann«. Natürlich nur eine Assoziation, aber vielleicht ein schöner Querverweis. Dadurch hat das bei allem Futurismus etwas sehr Archaisches.

  • Alewya »Sweating« (R: Jack Bowden)

    Till: Das Graffiti am Anfang finde ich schon mal interessant. Das ist angelehnt an das Logo, das wir davor sehen. Eigentlich ist das nur ein Skelett, aber schon als Schwarz markiert durch die Ohrringe und die Haare. Das erinnert auch an ganz frühe Bildkunst, wie man sie eben von Höhlenmalereien kennt. Da deutet sich schon diese krasse Körperlichkeit an, die sich durchs Video zieht. Das ist ja tatsächlich ihre erste Single, vorher gab es bloß ein Feature mit Little Simz.

    Charlie: Im Video wird erstmal sehr viel mit Zeitlupe gearbeitet. Es kommt viel Dynamik zustande, auch durch die ganz verschiedenen Bildausschnitte und Perspektiven.

    Till: Gerade durch die Zeitlupe wirken die kurzen Einstellungen fast wie Fotografien. Das empfinde ich beispielsweise bei 01:12. Viele Shots haben einen sehr spezifischen Bildaufbau, eine sehr spezielle Komposition. Und gerade in diesen Einstellungen sind die einzelnen Körper oft kaum voneinander zu trennen. Das hat auch eine politische Dimension, es geht um Clubkultur als Befreiungsschlag.

    Charlie: Die räumliche Inszenierung bleibt ebenso schemenhaft, das sieht aus wie ein Keller, aber man kann ihn nicht wirklich greifen. Trotzdem fühlt es sich an, als würde man dort reingezogen werden, auch durch diese ausgestellte Körperlichkeit. Das überträgt sich affektiv, beim Anschauen wird einem selbst warm von den glänzenden Schweißtropfen, die ich sehe. Der Schluss ist auch spannend: Langsam kommt Farbe ins Bild und Alewya ist mit einem Tuch im Leopardenmuster über dem Kopf zu sehen. Dabei sitzt sie in einer Art Käfig. Das hat natürlich starke Symbolwirkung und weckt extrem viele Assoziationen, beispielsweise zur Mass Incarceration.

    Till: Hast du irgendeine weit hergeholte Theorie zu diesem Farbübergang?

    Charlie: Mir fällt folgendes ein: Arthur Jafa, der auch Kanye Wests neues Video gedreht hat, meinte mal, er hätte das für ihn lange dominierende Diktum, afroamerikanisches Kino müsse in Schwarz-Weiß gedreht werden, nie verstanden. Das ist vor allem geschehen, um sich vom weißen Hollywood abzugrenzen, aber es war ein aktiver Prozess diese Affinität für intensive Farben zurückzugewinnen. Natürlich weiß ich nicht, ob das bei Alewya eine Rolle spielt, ist aber als Hintergrundwissen ganz interessant. Aber das Fehlen von Farben macht in der ersten Hälfte wohl den fotografischen Charakter aus, wobei der Schlussteil sicher nur in Farbe denkbar ist.

  • J Balvin »Negro« (R: Colin Tilley)

    Till: Ich bin eigentlich schon übersättigt, was Animationsvideos angeht. Aber hier haben wir nochmal was Besonderes: Colin Tilley, der unter anderem das Video zu »Alright« gestaltet hat, führt hier Regie. Die Kamerafahrten, wenn man das so nennen kann, sind der Wahnsinn. Da sind ja auch kaum Schnitte drin. Auch der Detailreichtum ist überwältigend, beispielsweise, wenn bei 0:32 der Motorradreifen ins Bild kommt oder kurz danach der Scheinwerfer angeht. Gleichzeitig ist das sehr drüber, die tanzenden Dinos sind auch hart.

    Charlie: Der Song knüpft an das Malianteo-Genre an, welches innerhalb des Reggaeton als besonders brutal und Gangsterrap-affin gilt. Das Video bezieht sich auf die Ästhetik von Videospielen.

    Till: Was uns bei Kanye wieder begegnen wird. Bei 01:22 haben wir übrigens erst den ersten Cut. Das ist schon sehr aufwändig.

    Charlie: Die wiederkehrenden Goldzähne bei der Protagonistin und dem großen Dino korrespondieren mit den Lyrics, die sich um ihre bösen Facetten drehen – es besteht also auf jeden Fall eine Analogie zwischen seiner Femme Fatale und dem Dino, gegen den er kämpft.

    Till: Das ganze Tape bezieht sich ja auf Farben, jeder Song trägt eine andere Farbe im Titel. Daher kommt eben auch das ganze Thema des Videos. Das unterscheidet sich schon von den Animationsvideos, die wir zu Beginn der Corona-Zeit hatten. Da hat man noch ausprobiert, was so möglich ist. Jetzt werden hier schon beeindruckende Kunstwerke veröffentlicht.

    Charlie: Die tanzenden Gestalten im Video erinnern mich gleich wieder an das Video von Rosalía aus dem letzten Monat. Aber auch hier haben wir wieder eine Apokalypse, diesmal geht’s Richtung Cyberpunk. Man hat ja auch in Videospielen immer solche Endgegnerkämpfe, in dem Fall J Balvin gegen den Dinosaurier. Auch wenn J Balvin hier sofort gefressen wird. Aber das Setting passt eben dazu, die düstere Stadt mit den vielen Zuschauern, ebenso diese ornamentale Skulptur in der Mitte des Platzes.

  • Kanye West feat. Travis Scott »Wash Us In The Blood« (R: Arthur Jafa)

    Till: Jetzt endlich der Nachzügler Kanye mit Christian Yeezus. Wir haben hier ein Found Footage-Video, neben einigen Internetfunden haben wir hier bei 01:10 auch einen Ausschnitt aus dem »ELEMENT.«-Video von Kendrick Lamar. Finde es natürlich etwas problematisch, dass Kanye hier die Verantwortung, die Menschheit zu retten, an einen Gott abtritt. Aber im Endeffekt ist es natürlich das Verlangen nach etwas Höherem, was einen aus dem Schlamassel rettet.

    Charlie: Zu dem Video gibt es natürlich extrem viel zu sagen. Arthur Jafa, der Regisseur, ist wohl einer der bedeutendsten bildenden Künstler unserer Zeit, hat aber auch schon mit Spike Lee, John Akomfrah und Solange zusammengearbeitet. Seine kinematografischen Installationen ähneln diesem Video recht stark. Das letzte hieß »Love is the message, the message is Death« und wurde 2016 veröffentlicht. Dieses Werk beinhaltete eben auch viele zirkulierende Videoschnipsel, die neu kontextualisiert wurden und war unterlegt mit »Ultralight Beam« von Kanye West und Chance The Rapper. Auf diese Installation verweisen auch einige Stellen in »Wash Us In The Blood«. Arthur Jafa arbeitet sehr intuitiv, setzt diese Fragmente neu zusammen und sucht primär die Konfrontation mit den Bildern. Die Crashszene bei 02:42 ist nicht nur an sich schockierend, sondern erinnert auch an die Handyvideos vom Charlottesville-Attentat. Es geht also immer um Neukontextualisierung und auch um afroamerikanische Bildsprache, die eben laut Jafa heute primär bei YouTube und Instagram präsent ist.

    Till: Es sind ja auch Videoschnipsel enthalten, die an sich gar keinen klaren Kontext besitzen, die dann aber neben Bildern von Menschen mit Lungenversagen stehen. Dieses Video spannt ein extrem großes Assoziationsnetzwerk. Ganz verschiedene Energien und Atmosphären werden evoziert, die auch gar nicht so leicht zu verarbeiten sind. Das Video ist herausfordernd.

    Charlie: Im Zentrum steht die Signatur der rassistischen Gewalt, die die USA seit der Sklaverei und der Kolonialgeschichte geprägt hat. Die findet ihren Ausdruck auf verschiedene Weisen. Die großartige bell hooks hat Arthur Jafa einmal attestiert, dass sich ihre Überlegungen zum »decolonial gaze« am ehesten in seinen Werken widerspiegeln.

    Till: Die Sequenzen aus GTA sind vielleicht auch ganz spannend. Einerseits stehen sie in Beziehung zu der Crashszene, sind aber natürlich nicht real. Andererseits rappte Kanye auf einem geleakten Track aus dem letzten Jahr: »Grand Theft Auto, Grand Theft Auto, we in a game, we in a game«. Das weist auf postmoderne Simulationstheorien hin. Alles, was wir hier sehen, geschieht simultan und kann keinen Ereignischarakter erlangen. Deleuze lässt grüßen. Es ist auch interessant, Travis Scotts Beteiligung hieran mit dem »The Scotts«-Video zu vergleichen, das komplett in Fortnite gedreht und auch vorgestellt wurde. In der Idee ähnlich, aber ganz andere Vibes.