Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats Juli 2021

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Juli mit Nathy Peluso, Schmyt und James Blake.

VISUALIZING JULI21
Wir schauen in den Spiegel und erblicken uns selbst, wir sehen einen Doppelgänger und erblicken ein Anderes. Und vielleicht auch uns selbst: Immerhin sind Persönlichkeiten vielfältig und keine feste Einheit, in uns wohnen Identitäten, die völlig unterschiedlich sein können. So ist Alfred García in seinem Video zu »Toro De Cristal« etwa sein eigener Antagonist, der ihm das tödliche Messer in den Rücken jagt und schließlich in Reih und Glied mit sich selbst alles in Brand zu setzen droht. Toni Dancehall aus Offenbach begegnet sich selbst in Form einer Vision, in der sich all seine Ebenbilder in unterschiedlichen Facetten zeigen, mal als Blumenjunge, mal als Boule-Spieler oder psychedelische Albtraumfigur. Schmyt hingegen erblickt sein früheres Ich und begleitet es in seinen Erfahrungen mit Mobbing und Außenseitertum. Die Kohärenz der Identität wird gebrochen durch perspektivische Wechsel. James Blake erkennt sich selbst in Abgrenzung zum musikalischen Kollegen FINNEAS, mit dem er sich ständig zu vergleichen versucht und doch nur Frust findet. Im neuen Video von BADBADNOTGOOD ist der Protagonist zwar ganz alleine Mensch in einer kalten Welt, versucht mit dieser aber stets durch Nachahmung ins Spiel zu treten. Und dann ist da noch Nathy Peluso, die gerade durch ihre Verwandlungen ganz sie selbst ist. Wir blicken also in die besten Musikvideos des Monats und erblicken unsere Welt.

Die offizielle Youtube-Playlist zur Kolumne findet ihr hier.

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  • Alfred García »Toro De Cristal« (R: Eduardo Casanova)

    Till: Das Bild auf der Bergspitze erinnert mich irgendwie an Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«. Worum geht es in dem Lied?

    Charlie: Es geht um ein Stier aus Kristall und einen Kampf mit sich selbst. Die gewaltvolle Beherrschung des Stiers ist durch den Stierkampf stark mit überhöhten Männlichkeitsentwürfen verbunden und auch in der Mythologie hat sich Zeus ja als Stier verwandelt, um Europa zu vergewaltigen. Der Kristall ist dagegen wertvoll und zerbrechlich, genau von diesem Spannungsfeld zwischen Männlichkeitsnormen und Fragilität erzählt der Song. Er hat sich sehr doll verliebt, aber irgendwas geht schief. Er singt über das Messer im Rücken, als die Gewalttat auch im Video zu sehen ist (0:56 & 1:47). Vielleicht geht es um die Überwindung von Männlichkeitsparadigmen.

    Till: Über den Regisseur, Eduardo Casanova, hatten wir letzten Monat kurz bei Cardi B gesprochen, aufgrund der verunstalteten Gesichter in seinem berühmtesten Film »Pieles«. Foreshadowing.

    Charlie: Neben den besonderen Körperfigurationen sind seine Filme für die Präsenz der Farbe Rosa bekannt. Es gibt ein sehr schönes Arte Tracks-Video, in dem er seine Wohnung zeigt. Auch da ist alles rosa. Außerdem spart er wirklich nicht an Kitsch. All seine Videos sind sehr extravagant, von camp-ästhetik durchtränkt und manieriert. Die visuellen Arrangements dominieren. Es gibt häufig Spielereien in der Montage wie den Schnitt von Messer zu Messer bei 0:55. Tableaus und starke Kontraste sind typisch für Casanova, ebenso wie Körper, die sehr verkünstelt sind (1:42).

    Till: Ebenso in der Szene, in der sehr viele Alfred Garcías ein Muster in ihren grünen Anzügen bilden. Der Körper ist da schon aufgelöst und Teil eines Mosaiks geworden. Ein künstliches Serienprodukt.

    Charlie: Was die Extravaganz auch unterstreicht, sind Garcías Haare, die beinahe Jugendstil-artig angelegt sind. Auf jeden Fall ist es ein Musikvideo, bei dem die Signatur von Casanova als Autor zur Geltung kommt.

    Till: Ich finde, das ist ein sehr genitales Video. Es gibt erstmal den Dolch, das ist klar ein phallisches Symbol. Bei 1:27 wird Alfred García im Intimbereich angeschossen. Und kurz vor Ende liegt der Sänger in einer Blutlache auf dem Marmorboden. Das Muster des Bodens ähnelt dabei einer Vulva (2:40).

    Charlie: Ja, der Schuss in den Genitalbereich hat Manifestcharakter. Gleichzeitig spannend: Das Video spielt in sehr abstrakten Räumen, am Anfang und Ende sieht man ein Gemälde, am Ende ist der Sänger aber daraus entfernt. Das macht es fast zu einer Geistergeschichte. Als würde er aus dem Bild heraustreten. Außerdem sind Ästhetik von Portrait, Architektur und dem militärgrünen Outfit dem Regisseur zufolge von der Propaganda Nordkoreas inspiriert. Nicht das erste Mal, dass die Bilder der Weltpolitik als Material für seine Filme dienen. In einem Kurzfilm hat er beispielsweise Fidel Castro genüsslich einen Burger verspeisen lassen.

    Till: Der Tower mit den koreanischen Schriftzeichen sieht auch so künstlich aus, wie direkt aus einem Anime entnommen. Mit den Marmorwänden und rosanen Säulen. Dort taucht auch García selbst in schwarz gekleidet als Antagonist auf. Die Outfits sind super. Anti-García beginnt zu brennen, wenn García das Streichholz zündet. Aber García stirbt, weil Anti-García ihn ersticht. Scheint kompliziert zu sein mit der Liebe.

  • Toni Dancehall »Aszendent« (R: Nick Bald)

    Till: Toni Dancehall ist ein Rapper aus Offenbach, der studiert Bildende Kunst und ist mit seiner Crew Rewe City Crime Boys auf jeden Fall eine kleine Institution für Trapsounds in der Gegend. Dieses Video fühlt sich durch die lange Anfangssequenz an wie ein Kurzfilm.

    Charlie: In den Credits steht »Mama«, das ist lieb. Man weiß aber nicht, was sie gemacht hat, aber auf jeden Fall wichtiger Support.

    Till: Außerdem finde ich an diesem Video etwas gut, was ich oft nicht mag: Man merkt, dass die Leute sehr viele Ideen hatten, die dann alle ins Video gepackt werden. Oft ist das dann recht inkohärent, hier aber nicht. Durch den Frame der Meditation wird diese schnelle Abfolge an recht unterschiedlichen Einstellungen zu einer Art Vision.

    Charlie: Hier haben wir übrigens wieder ein Doppelgängermotiv, wie im ersten Video. Bei 1:05 kommt er am Horizont entlangspaziert und liegt gleichzeitig auf der Wiese. Es geht natürlich auch wieder um die Mehrstimmigkeit im eigenen Kopf.

    Till: Er spielt mit Spiritualität, das hängt hier mal wieder mit Selfcare zusammen. Rasieren, Eincremen, Massieren, in der Meditation kommt die Vision des eigentlichen Musikvideos.

    Charlie: Man verbindet mit Meditation sonst eher ruhige Bildwelten. Trance und Esoterik werden mit schwebenden, langsam ineinander übergehenden Bildsphären verbunden, das ist hier nicht der Fall. Es scheint nicht so entspannend zu sein. Eher ein assoziativer Bilderschwarm, der zwar auf einer idyllischen Wiese beginnt, sich dann aber in seine Gedanken frisst.

    Till: In diesem Fiebertraum, sitzt er auf dem Teppich, performt in einem psychedelischen Raum, rappt am Spiegel, schaut zwischen Spiegeln, entspannt auf dem Feld, spielt dann wieder Boule.

    Charlie: Das ist meine Lieblingsstelle.

    Till: Auch die Twister-Einstellung, die schafft es nur für zwei Sekunden ins Video.

    Charlie: Das wirkt fast wie eine Persiflage. In solchen mystischen Traumsequenzen hat man oft Dinge wie ein Schachspiel, das so Mindgame-artig irritieren soll und große Zusammenhänge erahnen lässt.

    Till: Twister ist für mich ein Ouija-Board mit Fun und ohne Grusel. Der Song ist ja auch recht assoziativ, das passt. Einige Motive schaffen es auch ins Video, beispielsweise das Wegrennen. Man muss auch sagen: Zurzeit rennen alle im deutschen Underground. Wovor rennen die weg? Ausruf auf jeden Fall an den Regisseur Nick Bald, der macht sehr gute Fotos!

  • James Blake »Say What You Will« (R: Bear Damen)

    Charlie: Es gibt hier im Grunde einen Joke, der sich recht kohärent über das Video streckt.

    Till: Das ist ja auch einfach ein wirklich guter Joke. Und auch immer wieder wirklich schön: Die Security am Flughafen ist super, auch die Situation auf der Toilette. Blake lugt dann ja auch nochmal rüber auf’s andere Pissoir und ist sichtlich beeindruckt. Toller Kerl, dieser FINNEAS.

    Charlie: Die Kernidee ist auch, dass FINNEAS das Video von James Blake gewissermaßen sabotiert. Schon seine Präsenz zieht die Kamera stets weg von Blake, FINNEAS übernimmt den Bildraum. James Blake singt ja immer »I’m Okay«, bei 0:56 ruht er dabei noch in sich, aber es brodelt. Beim nächsten Mal sitzt er im Auto und halluziniert schon im Rückspiegel, er rastet eigentlich schon aus. Dann kommt aber sofort der harte Schnitt zur nächsten Szene. Der Wutausbruch wird zensiert. Dadurch wird schon das floskelhafte Roosevelt-Zitat am Ende unterlaufen, als wäre das Konkurrenzdenken so einfach zu annullieren. Andererseits ist die ironische Finte des Videos ja, dass dieser überzogen paranoide Neid im Video vollkommen losgelöst von realen Situationen ist. Ähnlich wie bei der Umverteilungsdebatte, ist das Neidargument ja häufig ein besonders haltloses, um die berechtigte Kritik zu entwaffnen. Ist ja schließlich vollkommen unnötig, dass FINNEAS an drei Abenden hintereinander spielt.

    Till: Dafür singt James Blake weitaus schöner als FINNEAS, finde ich wenigstens. Das Narrativ des Videos hat natürlich auch eine reale Basis: Bei den letzten Grammy-Awards gewann Blake einen Grammy für das beste Alternative-Album, FINNEAS räumte als Bruder und Produzent von Billie Eilish natürlich zum wiederholten Male komplett ab. James Blake hat übrigens vor ein paar Tagen ein Foto getwittert, auf dem die Plakatwerbung für sein neues Album gleichberechtigt neben einem Plakat für das Billie Eilish-Album hängt. Schön.

    Charlie: Was gibt es sonst noch über das Video zu sagen?

    Till: Erstmal vielleicht, dass Jameela Jamil hier mitgearbeitet hat, sie ist Aktivistin und Schauspielerin, Model, Synchronsprecherin, Journalistin. Und dazu noch die Ehefrau von James Blake und immer wieder in seiner Kunst präsent. Dann würde mich interessieren, ob du eine Interpretation für die Geschehnisse in der Konzerthalle parat hast? Erstmal besteht das Publikum ja nur aus FINNEAS-Doppelgängern, dann nur noch aus Blake selbst, aber in anderem Outfit und sehr müde.

    Charlie: Ich find’s mega funny, dass da steht: »James Blake: Loads of tix left«. Die Situation mit den Doppelgängern und dann der Selbstbeobachtung scheint, als wäre das vielleicht alles nur ein Tagtraum. Dann scheint dieser Größenunterschied Blake ja tatsächlich egal zu werden, er läuft an den ganzen FINNEAS-Postern teilnahmslos vorbei.

    Till: Das Ende ist recht meditativ, es hat mich fast gewundert, dass es am Ende nicht noch eine Art moralisierenden Knall gibt. Dass man beispielsweise noch FINNEAS weinen sieht, um zu zeigen, dass es ihm auch nicht immer gut geht. Aber schön, dass der Zeigefinger ausbleibt.

  • Schmyt »Keiner von den Quarterbacks« (R: Valentin Hansen)

    Charlie: Auch das ist eine stringente Erzählung von Mobbing und Außenseitertum. Ersteres ist ja durchaus etwas, was im Rap nicht super häufig thematisiert wird. Aber Schmyt macht auch keinen Rap. Ich habe mich an Caspers »So Perfekt«-Video erinnert gefühlt. Es passt nicht so ganz, aber irgendwie kam die Assoziation, wahrscheinlich nur wegen dem Quarterback

    Till: Was Schmyt mit Casper verbindet, ist ein leichter ästhetischer Amerikanismus. Quarterbacks sind schon mal gar kein Ding in Deutschland, auch die Bilder wirken amerikanisch. Das Schulgebäude, das Sportfeld und das sonnenbeschienene weite Feld, das sind alles sehr US-amerikanische Bilder.

    Charlie: Auch das Cabrio. Die Bilder im See gehen so fließend in die Erinnerungsbilder über, dass klar wird, wie sehr die traumatischen Erlebnisse an der Hauptfigur haften. Der Kopf unter Wasser ist schon ein Trigger, das Blenden der Sonne und das engelsgleiche Umfallen auch.

    Till: Spannend finde ich den fast voyeuristischen Charakter des Videos. Einerseits haben wir in manchen Szenen den älteren Schmyt als Betrachter der früheren Erlebnisse. Andererseits fühle ich mich als Betrachter häufig wie ein Mitschuldiger, weil die Kameraperspektive in diese Vorfälle nicht eingreift, beispielsweise die Beobachtung durch den Türspalt bei 1:56. Zwei interessante Momente kommen dazu: Während die Mobber bei 0:55 mit dem Auto wegfahren, sitzt die Kamera mit ihnen im Cabrio und betrachtet den jungen Schmyt, wie er mit den Händen eine Pistole formt. Die Kamera nimmt die Täterperspektive ein. Bei 1:10 wiederum im Badezimmer ist die Kamera erst beobachtend, der Faustschlag des Täters geht aber direkt in die Linse. Die Opferperspektive wird eingenommen.

    Charlie: Ja, ein schmaler Grad zwischen Komplizenschaft und Opferstatus. Ab 1:15 gibt es diese Szene mit dem Overheadprojektor. Die scheint mir die unergründlichste.

    Till: Ich denke, aus der Einzelgängerposition erfolgt Isolation. Schmyt versteckt sich in dieser Höhle, in dieser Blase, die Anderen versuchen, zu ihm durch zu dringen. Unklar ist, ob die Anderen dabei die Mobber sind oder eventuelle Freund:innen. Die Sache mit dem Overheadprojektor, ich bin mir nicht sicher. Vielleicht Selbstuntersuchung und Selbstreflektion in dieser isolierten Blase?

    Charlie: Ich hätte eher gedacht, die eindringenden Gestalten beziehen sich auf die Zeile über die Geister unter’m Bett, die vielleicht die einzigen Verbündeten sind. Das ist ja zu Beginn noch eine Frage, später ist das ein stärkender Ausruf. Diese Szene wird auch im ruhigsten Moment des Songs gezeigt, es wirkt eher wie eine Einkehr.

  • Nathy Peluso »Mafiosa« (R: Agustín Puente)

    Till: Worum geht’s?

    Charlie: Darum, dass sie eine Mafiosa ist oder sein wird. Sie beschreibt auch, was alles dazugehört: Sie macht den bösen Männern Angst, sie ist die Großartige, die Gefährlichste. Es geht um Romantik, Messer und Geld. Mafiosa, das wird der neue Wunschberuf aller Kinder weltweit.

    Till: Ich habe erst hier gemerkt, dass sie ein blaues und ein braunes Auge hat.

    Charlie: Ich glaube, das ist auch nur in diesem Video, oder?

    Till: Nee. Ich habe gerade durch ihren Instagram gescrollt und gesehen, dass das auch im Februar schon so war. Im Juni 2020 hingegen hatte sie zwei braune Augen. Ich habe das mal gegooglet, aber nichts Verständliches gefunden. Es gibt Videos und Interviews dazu, aber die sind natürlich allesamt in spanischer Sprache.

    Charlie: Auch in den Interviews antwortet sie spielerisch auf die Frage. Ob es eine Iris-Heterochromie oder bloße Inszenierung ist, bleibt diffus. Die allerletzte Szene, in der sie sich eine Träne weg wischt, so viel kann man spoilern, ist eine filmische Referenz an »Cry-Baby« von John Waters. Der Regisseur ist eine krasse Ikone des queeren Kinos.

    Till: »Cry-Baby« ist ein Musical und im Rebel-Genre zu verorten, das in den Achtziger Jahren recht populär war. Dieser Ära zollt auch Nathy Pelusa Respekt: Einerseits mit der Aufmüpfigkeit ihrer Mafiosa-Persona und den Outfits, andererseits mit einem gewissen Retro-Charme, der wiederum nicht ganz zu verorten ist. Nach dem Autounfall mit den für heutige Verhältnisse doch recht unattraktiven und billigen Gefährten sind die Fahrer wütend und aufgebracht, das deutet auf hohen Geldwert hin. Andererseits nimmt sie einem vorbeilaufenden Typen das Flipphone ab, diese Handys sind früher wie heute standardmäßiges Dealer-Equipment, aber auch immer sehr Retro.

    Charlie: Ich bin sowieso großer Fan von Nathy Peluso. Häufig bilden ihre Tanzperformances und ihre Verkleidungen das Zentrum der aufwendigen Musikvideos. Ihre Performance ist immer auch sexy, wie beispielsweise in »Delito«, aber dabei immer auch eine Spur überdreht und insbesondere extrem selbstbewusst und uneitel. Ihr Stilist überzogen, aber sie zelebriert das richtig. In »Sana Sana« karikiert sie ein paar Hip-Hop-Elemente, liefert aber gleichzeitig ein krasses Brett. Insgesamt steht sie für eine extreme Wandelbarkeit und ein spielerisches Durchwechseln der Genres. Das macht sie schwer greifbar. Die Kamera bei »Mafiosa« ist dazu sehr rhythmisiert, am Anfang folgt sie behutsam ihrem Gang, später wird sie schneller und folgt in ihren Bewegungen der Musik. Anfangs wird das Gefühl vermittelt, als würde unser Blick sie heimlich verfolgen, doch Nathy ist sich ihrer Beobachtung bewusst und dreht den Spieß um. Die Kamera wird vom Fahndungsvehikel zur Filmkamera, ein Musical beginnt.

  • BADBADNOTGOOD »Signal From The Noise« (R: Duncan Loudon)

    Till: Das ist doch schön. Endlich mal wieder ein guter Song, der fast zehn Minuten läuft. BADBADNOTGOOD hatten übrigens getwittert, dass die Leute das Video durchschnittlich 3 Minuten und 25 Sekunden lang anschauen. Auch irgendwie witzig. Die Live-Version wird wohl 18 Minuten andauern.

    Charlie: Auch von mir ein bisschen Background. Der Regisseur, Duncan Loudon, ist recht bekannt. Für Skepta hat er »Bullet From A Gun« gedreht, für Flohio »10 More Rounds«. Was auffällt, ist, dass Loudon häufig die Stadt und den öffentlichen Raum thematisiert. Flohio beherrschte in ihrem Video die Stadt auf geisterhafte Weise, wird vom Auto gecrasht und ist trotzdem erhaben. Skepta sitzt wiederum in der U-Bahn-Station als Beobachter. Auch bei BADBADNOTGOOD wird der öffentliche Raum zentral. Dieser Platz ist in gewisser Weise ein Nicht-Ort, ein Transit-Ort, den alle nur passieren.

    Till: Und zudem ein Ort, den man auch nicht zu etwas machen darf. Dieser Ort ist zum drüberlaufen geschaffen. Wenn der Protagonist eine Treppe auf den Boden malt, ist das schon zu viel Zweck. Das geht so weit, dass kleinste menschliche Interaktionen an diesem Ort beinahe untersagt sind.

    Charlie: Manchmal werden im Video Schriftzüge von Werbeplakaten sichtbar. Einmal steht da: »Urban Stage«, irgendwann später: »Love where you rent«. Das liest sich dann wie kritische Kommentare in der Sabotage der Straße. Das Einnehmen des öffentlichen Raums ist ja auch schlechthin die Form der politischen Aktionskunst.

    Till: Dieser Platz befindet sich sogar vor dem Bürgerzentrum der Stadt. Es gibt also einen spezifischen Ort für Soziales, außerhalb dessen darf keine Menschlichkeit stattfinden. Abgesehen von der Nutzung des öffentlichen Raums finde ich die Kindlichkeit des Protagonisten spannend, er lebt komplett in einer kreativen Sphäre des Erschaffens. Und jedes Hindernis, auf das er trifft, wird zu neuer Inspiration für ein neues Werk. Die Euros auf dem Boden macht er zu einem neuen Spiel, die Schikane des Sicherheitsbediensteten wird zum Spiel. Generell: Jeglicher Kontakt zur Außenwelt findet in Form von Nachahmung und Spiel statt. Ansonsten ist er auch isoliert durch die Kopfhörer auf den Ohren. Es stellt sich natürlich die Frage: Hört er gar nichts oder hört er die Musik, die auch wir hören?

    Charlie: Genau, er versucht eine Kontaktsphäre zu schaffen. Und jedes Signal, das er von Anderen bekommt, wird nachgeahmt und transformiert.

    Till: Beinahe ins Positive verkehrt. Wobei das die Passanten nicht so sehen. Bis auf das Kind.

    Charlie: Die Erwachsenen sind bereits völlig verroht. Er wirkt mit seinem selbstgebastelten, abschirmenden Helm wie ein Astronaut umgeben von Aliens.