Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Juli 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Juli begeisterten unter anderem Zugezogen Maskulin, Rone und Duval Timothy.

VisualizingMusic_Juli
Bei der Frage, was eigentlich Kunst ist, kommt man immer wieder auf den Aspekt des Ausbruchs aus dem Alltag zurück. Das kann bedeuten, Grenzen des Machbaren zu verschieben und eine Eigenlogik zu entwickeln, die außerhalb der sozialen Normen besteht. So brechen Zugezogen Maskulin und Amnesia Scanner mit der Popkultur, indem sie überzeichnen und Abgründe offenbaren, sie veschalten Gewohntes mit Absurdem. Andererseits kann ein Ausbruch aus dem Alltag durch eine Verlangsamung erfolgen. Wenn die Welt immer hektischer wird, ist es ein Mechanismus der Kunst, sich auf Detailfragen zu konzentrieren. So fasziniert JulianKnxx das blaue Schimmern Schwarzer Körper im Mondlicht und Duval Timothy nimmt sich Ruhe und Zeit, um den Ausflug eines Fischerboots mit Präzision und großem Interesse an Farben durchzukomponieren. Wo andere Vergangenheit und Gegenwart sezieren, baut sich Calman eine Utopie der zwischenmenschlichen Verantwortung in Anspielung an Kanye West und Rone produziert mit dem Tanzkollektiv (LA)HORDE ein postmodernes Manifest der Performancekunst. Spannend: In beiden Fällen spielen Internet und Digitalisierung eine große Rolle. Charlie Bendisch und Till Wilhelm über die besten Musikvideos aus dem Juli.

Die Youtube-Playlist zur Kolumne gibt es hier.

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  • Calman »All Laid Out« (R: Calman)

    Charlie: Hier wird ja Kanyes Video zu »Bound 2« auf die Schippe genommen. Damit geht einher, dass auch mit diesem Erfolgsethos, den Kanye verkörpert, gespielt wird. Interessant ist, dass die Bildebene bei Kanye West zwar schon ins höchste Maß verkitscht und überzogen ist, aber dennoch bleiben er und Kim als romantisches We-against-the-World-Gespann eine idealisierte Konstante. Bei Calman sieht aber selbst die Interaktion auf dem Motorrad irgendwie ungemütlich aus, die Klamotten passen nicht wirklich, der Lenker ist viel zu groß. Die Welt außenherum wirkt noch unechter, sie ist nicht mehr nur modifiziertes Abbild, sondern komplett digital generiert.

    Till: Ich bringe vielleicht mal etwas Klarheit. Der Song ist der Opener des Albums, das Ende August erscheint. Laut Calman ist das »ein Album über Verantwortung«. Auf »All Laid Out« zeichnet er gewissermaßen die Utopie, die dann Stück für Stück einbricht. Das finde ich mit diesem Motiv sehr gut umgesetzt. Einerseits ist das total überzeichnet, andererseits herrscht da eine große Intimität. Das Bonnie & Clyde-Thema wird ins Absurde überführt und ist gleichzeitig das Ideal der Verantwortung. Das zeigt sich auch in den Details: Sie setzt ihm den Helm auf, die beiden Essen Nudeln aus einer Schachtel, auf der »Pathos Box« geschrieben steht.

    Charlie: Mit dem Helm ist das ja auch ganz witzig: Das Motiv des Videos steht sonst eher im Kontext der Freiheit, wo man Sicherheiten ablehnt. Das benutzt Calman zwar, verbindet das aber mit dem Gefühl von Sicherheit, das in einer verantwortungsvollen Beziehung herrscht. Das Outro finde ich auch interessant. Die Bewegungen passen ja teilweise gar nicht zu dem Song, beispielsweise das Flossing. Insgesamt geht es viel um Asynchronität.

    Till: Hin und wieder wirken die Protagonisten fehl am Platz, auch im Verhältnis zur Musik. Vielleicht weißt das auch eben auf die kulturellen Anspielungen, auf die Mythen, die sich bei Kanye und bei Bonnie & Clyde finden, hin. Dass Popkultur etwas vorlebt, in das man eigentlich gar nicht unbedingt reinpasst. Beziehungsweise, dass man einen eigenen Umgang damit finden muss, was Calman ja auch tut.

  • Rone Room With A View (R: (LA)HORDE)

    Charlie: Dieses Tanzkollektiv, das auch gemeinschaftlich Regie geführt hat, hat im letzten Herbst das Staatsballett in Marseille übernommen und die Mitglieder gelten seitdem ein wenig als Enfants Terribles der kontemporären Tanzszene. Das Ziel dieses Wechsels war, frischen Wind in das Tanztheater zu bringen. (LA)HORDE konnten überzeugen, obwohl da nicht einmal ausgebildete Choreografen dabei sind. Durch diese Verjüngung kam wesentlich mehr Onlinepräsenz und auch ein gewisser Marketing-Aspekt. »Room With A View« ist ein interdisziplinäres Projekt mit dem Producer Rone, aus dem jetzt ein Musikvideo entstanden ist. Das lässt sich in meinen Augen wie ein Manifest lesen. Zu Beginn schaut dieses Publikum eben recht starr auf die Bühne, bevor der Wind kommt und sie selbst in Aktion treten. Ein Ausbruch aus dem starren Gefüge der Hochkultur.

    Till: Die Choreografie wird von Szene zu Szene moderner. Sie startet in der starren Hochkultur und geht über das Technoide in der Horde, über Krumping, über sehr expressive Sequenzen bis hin zum digitalen Zeitalter, in dem Körper und Masse ganz neu gedacht werden.

    Charlie: Im Making-Of sieht man, wie dieser amorphe Körper in der Postproduktion entsteht. Einer der Tänzer wird auf dem Dach gefilmt, an seine Silhouette werden dann durch ein Motion-Capture-Verfahren immer mehr digitale Körper geklebt. In dem Video dreht sich viel um Zusammenbrüche. Das betrifft die Hochkultur ebenso wie die Architektur und am Ende eben auch den individuellen Körper. Gleichzeitig fangen sich die Tänzer*innen gegenseitig auf, Solidarität wird zur notwendigen Prämisse.

    Till: Die Horde geht bei 03:10 auf den Choreografen los, richtet sich also gegen die Autorität. Das gesamte Video zeichnet im Endeffekt das Bild einer Revolte. Am Ende dessen steht dann dieser verschmolzene, kryptische Internet-Körper…

    Charlie: …der wiederum das Theater übernommen hat.

    Till: Und auch das Theater im Menschen zeigt.

    Charlie: Der Soundtrack hat etwas Hymnisches und Beschwörendes. Das klebt schon sehr eng an dem Video.

  • Amnesia Scanner feat. Lalita »AS Tearless« (R: PWR)

    Charlie: Die Visuals zu diesem Song sind sehr nah am Albumcover, das Artwork wurde quasi für das Video animiert. Das wirkt wiederum sehr dadaistisch, nicht nur hinsichtlich Collage und Karikatur. Das Video bezieht sich auf Berlin und dessen historische Umbrüche, die Straßenzüge sehen zerbombt aus. Bei 0:19 ist ein Schild mit der Aufschrift »Nicht auf den Boden spucken« zu sehen.

    Till: Es gibt allerdings immer wieder Verweise auf die Gegenwart. Die Figur bei 0:25 trägt beispielsweise Airpods. Eine moderne Punk-Karikatur. Bei 0:40 sehen wir dann die tanzenden Ratten, die eben auch auf eine Popkultur verweisen, die Banksy mitgeprägt hat. Die hören dann diese Musik aus dem Untergrund.

    Charlie: Musikmedien tun sich häufig schwer, dieses Duo einzuordnen. Das bewegt sich eben zwischen Nu Metal, Gabba und Reggaeton, alles aber sehr dekonstruiert. Im Fokus steht hier natürlich auch eine Überfrachtung, eine Überstimulation.

    Till: Auf jeden Fall wäre es angebracht, hier eine Epilepsiewarnung einzubauen.

    Charlie: Wenn man nochmal ins Dadaistische Manifest schaut, lassen sich hier schon Verknüpfungen sehen. »Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig, in der sie lebt und die Künstler sind Kreatoren ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht.«

    Till: Die Überladung durch das Gemenge von Underground und Popkultur wird hier in den Fokus gestellt und ins Absurde, auch Katastrophale gedreht.

    Charlie: Weiter heißt es, die Künstler*innen sollen »stündlich die Fetzen ihres Leibes aus dem Wirrsal der Lebenskatarakte zusammenreißen«. Diese Diagnose lässt sich fast wörtlich übertragen auf die zerrissenen Körper, die hier im Video auftauchen. Beispielsweise bei 2:55, wo der schon fragmentierte Körper aussieht, als würde er zu Platzen drohen.

    Till: Kurz vorher sehen wir ein Gesicht, dessen Mund aus Sicherheitsnadeln besteht. Ganz spannend: Hier taucht eine Sonnenblume und eine Sonne mit Gesicht auf, das erinnert an die Teletubbies. Und wird uns auch im nächsten Video begegnen.

  • Zugezogen Maskulin »Sommer Vorbei« (R: Jonas Vahl)

    Till: Wir haben hier wieder eine kunterbunte Welt, diesmal ein Fernsehstudio. Es ist eine kindliche Szenerie, mit Mickey Mouse und der Kindersonne. Im Text und im Video scheinen hingegen immer wieder soziale Abgründe durch. Der Text behandelt den Kontrast zwischen der heilen Welt und den mehr oder weniger kleinen Katastrophen des Alltags. Die Oma stirbt, die Holocaustleugnerin lebt. Es ist alles nicht fair. Testo verbindet die heile Welt mit dem arischen Idealbild. Das Video zeigt auf eine Art auch eine trügerische deutsche Idylle.

    Charlie: Bei 1:27 bekommt man einen Blick auf die Fotos an der Wand. Da hängt beispielsweise ein Foto vom Sonnenblumenhaus, wo kurz nach der Wende einer der größten rechtsterroristischen Anschläge der jüngeren Geschichte verübt wurde. Auch die anderen Bilder verweisen auf deutsche Abgründe. In dem Sommer steckt auch ein Heimatsversprechen. Ein Glücksversprechen, das sich nur auf die weiße Dominanzkultur bezieht.

    Till: Selbst Mickey Mouse, der für diese happy Popkultur steht, kann da nicht mithalten. Er wird gierig, wird ausgelacht und rutscht in die Drogenabhängigkeit. Die tanzenden Frauen, die dort auftauchen, erinnern an Siegfried Kracauer. Der beschrieb 1927 im »Ornament der Masse« die Tiller Girls, eine Tanzgruppe aus dem Fernsehen, als »mathematische Demonstrationen«, die den Charakter der Massengesellschaft spiegelt, die wiederum in die Barbarei abrutscht. Bei Zugezogen Maskulin überlebt nicht mal die ästhetisierte Masse den deutschen Sommer.

    Charlie: Diese Sinnbilder der Konsumgesellschaft entstehen häufig aus einem Einheitsgefühl heraus. Die werden hier in den Abgrund gerissen.

    Till: Für dieses Video haben die beiden übrigens eine Abmahnung von der Walt Disney Company bekommen. Also Grüße und Solidarität an Zugezogen Maskulin!

  • JulianKnxx »In Praise Of Still Boys« (R: JulianKnxx)

    Till: »In Praise Of Still Boys« ist kein klassisches Musikvideo, sondern ein interdisziplinäres Kunstwerk zwischen Musik, Film und Spoken Word. Hier kann man auf jeden Fall mal über Farbe sprechen, das ist auch in der Videobeschreibung nochmal erklärt. Der blaue Ton des Videos verbindet sich mit der Inspiration aus dem Stück »In Moonlight Black Boys Look Blue«, dieser Titel wird quasi filmisch untersucht und studiert. Er inszeniert nach diesem Prinzip Körper von Schwarzen Personen, die dann eben zwischen Meer und Nachthimmel blau schimmern.

    Charlie: Farbe spielt hier eine große Rolle, auch im nächsten Video. Am Anfang des Videos spricht seine Mutter, sie spricht auf Krio, einer vom Englischen abgewandelten Kreolsprache, die in Sierra Leone gesprochen wird. Die Untertitel sind auch in dieser Sprache gehalten.

    Till: Das finde ich sehr interessant. Denn dadurch, dass man die Untertitel eben nicht ins Lehrbuch-Englisch überführt, erkennt man gleichzeitig an, dass diese Sprache einen kolonialistischen Hintergrund hat. Als Mensch, der Englisch spricht, kann ich zum größten Teil verstehen, was dort erzählt wird, aber die Untertitel manifestieren die Eigenständigkeit dieser Sprache.

    Charlie: Das kann auf jeden Fall als Selbstbehauptung und Empowerment gelesen werden. Sprache und Text hat hier eine andere Relevanz als in vielen anderen Musikvideos. Am Anfang des Videos steht ein Zitat: »›Tell me of your place‹ they will be asked someday. My daughters.« – Da geht es schon um die Notwendigkeit, von der Heimat zu erzählen. Es gibt auch bei 1:50 eine kurze, sehr schnelle Passage, die so reingeworfen wird. Zu sehen sind Bilder aus Bürgerkrieg, Kolonialismus und eben Großbritannien, wo JulianKnxx heute lebt.

    Till: Die Verbindung zum Ozean wird da auch deutlicher. Seine Eltern mussten damals übers Meer vor dem Bürgerkrieg fliehen, heute schaut er von der anderen Seite des Atlantik zurück auf seine Heimat. Dieser Bezug kommt in der Bildsprache wiederum deutlich durch.

    Charlie: Sierra Leone tritt hier einerseits als Sehnsuchtsort auf, andererseits sind doch auch die historischen Abgründe immer wieder sichtbar. Nicht nur inhaltlich, auch filmisch bezieht sich dieses Video auf »Moonlight«, besonders sichtbar wird das mit der Einstellung bei 2:25, die fast genau gleich im Film auftaucht. Der wiederum bezieht sich häufiger auf »Daughters Of The Dust«, woran auch die Einstellung bei 0:24 erinnert. Und bei »Daughters Of The Dust« hat wiederum Arthur Jafa Kamera gemacht. Womit wir wieder beim Kanye West-Video aus dem letzten Monat und bei einer dekolonialen Bildkultur wären.

  • Duval Timothy feat. Lil Silva & Melanie Faye »Fall Again« (R: Duval Timothy)

    Till: Wunderschön. Farblich ist das jetzt ein Kontrastprogramm. Die ins Blaue getauchten Körper fallen hier komplett raus, dafür besitzt alles eine extreme Wärme, was sicher auch vom analogen Kodak-Film kommt. Das Video verweist auch ziemlich oft auf die Anwesenheit der Kamera.

    Charlie: Schon die erste Einstellung ist eine Art Statement, die Kamera ist sehr lange nur interessiert an diesem Trikot, auf dem der Name des Labels abgedruckt ist, der auch programmatisch verstanden werden kann. »Carrying Color« ist das übergreifende Motto. Bis die Kamera sich von der Geschichte ablenken lässt. Dieses Video ist auch im Vergleich zu Jamieknxx viel narrativer. Es dreht sich um eine fragile Zuneigung zwischen zwei Protagonisten und der darauf folgenden Enttäuschung, aber auch um alltägliche Dynamiken, etwa bei der Fischerei.

    Till: Es wird ja auch alles gezeigt, fast beiläufig. Wie das Netz geflickt wird, wie sie rausfahren, wie sie in der Gegend herumschauen. Die Farbstudien sind schon immer wieder sehr zentral. Bei 2:30 beispielsweise spiegelt der Pfahl genau die Farben des Outfits, das der Protagonist trägt.

    Charlie: Duval Timothy hat laut Videobeschreibung unter anderem Costume Design, Regie, Skript und Colorgrading übernommen. Das ist also schon alles sehr durchorchestriert, auch wenn es am Ende so lose wirkt. Das Framing ist auch sehr gelungen, es gibt immer wieder farbliche Korrespondenzen innerhalb des Bildausschnitts oder zwischen den Bildern, das Trikot und die Flaggen beispielsweise. Auch Duval Timothy kommt übrigens aus London und hat Familie in Sierra Leone. Ähnlich wie JulianKnxx versucht er eben von dieser Seite des Atlantiks aus seinem Bezug zu Sierra Leone zu begegnen.