Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Januar 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Valentin Hansen monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird.

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Es ist Ende Januar, es regnet eigentlich durchgehend, alle Protagonisten sind verkatert. Till sitzt in Frankfurt am Esstisch seiner Mutter, Valentin in irgendeinem Berliner Co-Working-Space, so scheint es mir. Die beiden schauen sich Musikvideos an und reden darüber, wie jeden Monat. Da wäre zum Beispiel Ufo361, der mit einem Feature mit Future wahrscheinlich jetzt schon den größten Flex des Jahres rausgehauen hat. Da wäre auch noch der migrantische Zwiespalt, in dem Lolo Zouaï lebt und Negromans trippy Neuinterpretation der angesagtesten Musikvideo-Styles. Dazu kommt eine Abhandlung über Toxic Masculinity von 070 Shake und ein unglaubliches Konzeptvideo von Tame Impala. Auch wenn die Videos des Januars nicht allzu viel Inhaltliches teilen, sind sie sich doch im Optischen ähnlich. Alte Standards werden heute ein ästhetisches Konzept, mit dem analogen Look lässt sich spielen, bis es nicht mehr weitergeht. Das ist nicht nur heute spannend, sondern wirft auch die Frage auf, wie wir in Zukunft mit der Vermischung von Retro und Future umgehen wollen – und ob man irgendwelche dieser Kategorien überhaupt noch trennen kann.

Die offizielle YouTube-Playlist zur Kolumne gibt es hier.

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  • Ufo361 feat. Future Big Drip (R: 100BLACKDOLPHINS)

    Till: Erstmal Shoutout an 100BLACKDOLPHINS, die machen so krasse Videos jedes Mal. Eigentlich hatte ich »Nur Zur Info« in die Playlist gepackt, aber das kam ja schon Mitte Dezember. Das fand ich noch krasser, hatte ich aber erst im Januar gesehen. Da passt einfach alles. Die Locations sind alle so überkrass. Was meinst du, wo die da waren?

    Valentin: Sieht aus wie Paris, würde ich sagen.

    Till: Ahja, stimmt, man sieht sogar den Eiffelturm. Also bei »Nur zur Info« war ich auf jeden Fall schon sehr beeindruckt, die Outfits und Locations sind zum Dahinschmelzen. Alles passt so gut zusammen.

    Valentin: Lass mal bitte über »Big Drip« sprechen.

    Till: Ja, da sind ja auch ähnliche Elemente drin. Die analoge Optik, diese 3D-Fotos, die dazwischen so eingespielt sind. Outfits auch wieder sehr cool, Ufo361 ist wirklich meiner Meinung nach der einzige Deutsche, der modisch jedes Mal richtig abreißt.

    Valentin: Die Wassereffekte sind sehr gut gemacht, vor allem, wenn es so drippt, während er das Geld zählt. Es sieht auch sehr cool aus, wie er da im Oldtimer im Regen sitzt.

    Till: Sehr geiles Set auch einfach. Der Raum mit den Kronleuchtern auch sehr geil. »Nur zur Info« fand ich visuell krasser, aber der Flex, dass Future hier mit ihm rumsitzt, ist natürlich ganz groß. Der Track hat natürlich wenig Tiefgang, aber das Wasser-Motiv hätten 100BLACKDOLPHINS visuell wahrscheinlich wirklich nicht besser umsetzen können.

    Valentin: Am Ende wird ja noch so ne Grafik eingeblendet, an der Stelle möchte ich kurz Shoutout geben an Bastian Wien, der macht alle Ufo361-Grafiken und sitzt gerade zwei Meter von mir entfernt.

    Till: Können wir bitte nochmal »Nur zur Info« anschauen? Diese verrückten Parkdecks, dieses Marmorzimmer, das ist alles so cool.

    Valentin: Auch coole Moves, wie er sich erst von diesem old white Dude seine Tüten reintragen lässt, um sich dann einen Zahnabdruck für Grillz machen zu lassen.

    Till: Die Outfits sind auch sehr gut auf die Umgebung abgestimmt, dieses Dior-Hemd ist auch krass. Alle großen Rapper geben natürlich was auf Marken, aber nur bei Ufo361 sieht es richtig gut aus.

  • 070 Shake Guilty Conscience (R: Lauren Dunn)

    Till: Erstmal muss man ja diesen Text am Anfang lesen. Es geht also um Toxic Masculinity und den Druck, den diese auf junge Männer ausübt. Genauer: Um die unterdrückten Gefühle der Männer, die immer stark sein müssen und wie sich diese Unterdrückung auf ihre Person auswirkt.

    Valentin: Ich finde auch spannend, dass das von einer Frau aufgegriffen wird. Sehr cool, dass das überhaupt mal behandelt wird. »He replaces this shell with ego, desire and pride«, steht da ja auch. Dann sieht man den weinenden Mann. Ich liebe ihre Stimme. Da fühle ich mich direkt wohlig-traurig.

    Till: Sehr guter Cast. Auch extrem cool gefilmt. Da sind immer wieder so Shots dabei, wo mich die Kameraarbeit richtig beeindruckt. Wir haben hier auch wieder, wie bei Ufo361, diese Formatwechsel zwischen analoger und digitaler Optik. Das Video hat so eine coole Outlaw-Ästhetik. Ich würde das gerne jetzt mit irgendeinem coolen Film vergleichen, aber mir fällt nur »Dirk Gently« ein, da gibt’s auch so eine Bande. Aber auch, wie das gefilmt ist, diese roughen Bilder mit wackliger Handkamera, das passt da super rein.

    Valentin: Das Thema des Songs, wie stark die Männer sein müssen, wird ja auch visuell immer wieder aufgenommen. Und dann sitzen sie auch wieder alleine da und weinen. Sehr schöner Bruch.

    Till: In diesem Text am Anfang stand ja auch »Although I’m not a boy, I want to display a boy.« Diese Rolle spielt 070 Shake ja nicht nur in der Musik, sondern auch im Video sehr gut. Ich finde die Gegenüberstellung zwischen den Gruppenszenen, in denen die Darsteller so ultra männlich performen und den Shots, die so von Einsamkeit und Frust geprägt sind, total stark. Diese Schlägerei kann man ja auch als Ausbruch der unterdrückten Gefühle sehen.

    Valentin: Der Look und das Styling hat ja auch voll was von 90er-Jahre-Filmen. Die Gesamtästhetik gefällt mir total, das Zusammenspiel von Look, Cast, Location und Styling ergibt so eine cineastische Wirkung. Vielleicht auch interessant, einen Blick auf die Credits zu werfen; das ist nämlich ein sehr weibliches Team, das da mitgewirkt hat. Shoutout an die alle auch. Sehr gutes Album auch.

    Till: Ich habe davon auch erst am Releasetag mitbekommen, war eine schöne Überraschung. Und dann auch das Berlin-Konzert verpasst, nicht so schön.

    Valentin: Das bereue ich auch zutiefst, dass ich das verpasst habe.

  • Negroman Sollsein (R: luciferspleasure)

    Till: Erstmal finde ich sehr gut, wie trippy dieses Video ist. Dann würde ich auch sagen, dass dieses Video von der Ästhetik her gar nicht so viel anders ist wie zum Beispiel die Videos eines Kendrick, natürlich mit wesentlich weniger Budget. Aber gerade dieses Bild-im-Bild oder auch die Einstellungen mit den Feuerzeugen, das ist gar nicht so ab vom Schuss. Aber eben ein bisschen ungewöhnlicher.

    Valentin: Noch ein bisschen artifizieller. Und eben nicht so auf Hochglanz. Dieses Bild, wo Negroman seinen Kopf auf die Schultern von dem anderen Typ legt, das ist meine Lieblingsstelle, glaube ich. Auch mal Shoutout an Negroman, weil er so ein schöner Mann ist.

    Till: Ich liebe auch die Schlussszene, in der zu sehen ist, wie sein Kopf in so weiblichen Händen gefangen ist. Sieht aus, als würde ihm gleich das Genick gebrochen.

    Valentin: Das erinnert mich an das Video von Florida Juicy, das wir in der November-Ausgabe hatten. Da gab es eine ähnliche Einstellung, aber mit Beinen.

    Till: Hier sieht das allerdings wesentlich bedrohlicher aus. Ach schau mal, die waren in Berlin beim LSD-Sexshop. Legendär! Also diese Effekte, die Übergänge, die Formatwechsel und diese Web-Ästhetik, das ist ja alles relativ üblich bei Rapper, die Wert auf gute Videos legen. Trotzdem ist das bei Negroman irgendwie nochmal innovativer und abgefuckter, vielleicht auch nochmal eine Nummer multimedialer. Das kommt auch durch die verschiedenen Bildformate und die wechselnde Auflösung.

    Valentin: Die Werkzeuge sind ähnlich, aber der Look ist ungewöhnlicher. Gefällt mir gut. Textlich muss ich bei Negroman alles immer mindestens vier mal hören, bevor ich irgendwas verstehe.

    Till: Das ist ja bei ihm auch glücklicherweise so, dass man das gar nicht so rational aufschlüsseln muss, um es zu fühlen.

  • Lolo Zouaï Desert Rose (R: Emilie Badenhorst)

    Valentin: Die Sängerin wurde in Frankreich geboren, ist aber in San Francisco aufgewachsen. Und hat eben Wurzeln in Algerien, wo dieses Video auch spielt. Die ist auf jeden Fall mega nice und die wird auch richtig big, glaube ich. Also so Dua Lipa-big.

    Till: Spannend. Schauen wir mal.

    Valentin: Die erste Einstellung erinnert mich an die großartigen Videos von The Blaze. Also ihr Vater ist Algerier, ihre Mutter Französin. In dem Video begibt sie sich auf eine Reise nach Algerien.

    Till: Also geht es in diesem Video auch um migrantische Identität, um diesen Drang, sich doppelt beweisen zu müssen und trotzdem nirgends wirklich hin zu gehören. Man merkt das ja schon relativ zu Anfang an den Outfits. Sie kommt da an mit ihrem westlichen Jersey und die Frauen, wahrscheinlich ihre Familie, sind alle recht traditionell gekleidet, auch mit Kopftuch.

    Valentin: Das Essen sieht so lecker aus. Generell ist das optisch hier alles voll schön und gleichzeitig tragisch, weil es ja eigentlich eine tragische Geschichte erzählt. Das Lied handelt eben auch davon, dass sie sich weder in der westlichen Welt, noch im Land ihres Vaters zuhause fühlt.

    Till: Es ist ja irgendwie auch bezeichnend, dass sie die ganze Zeit ruhig dabei sitzt, während die Großmütter arbeiten. Sie merkt das ja selbst, dass da eine Lücke klafft zwischen ihr und ihrer Familie, und zieht sich da dann auch raus.

    Valentin: Sie hat damit im Alltag ja auch nichts mit dem zu tun, wie ihre Familie da lebt. Das wäre ja auch irgendwie falsch, wenn sie da jetzt sitzen und kochen und waschen würde. Ihr ist das sicher auch alles fremd. In dieser Entfernung steckt auf der anderen Seite wieder viel Schmerz drin. Das spielt sicher eine Rolle in den Konflikten, die da im Video zu sehen sind.

    Till: In den performativen Szenen singt und tanzt sie ja dann eben in so einem eher traditionell angehauchten Outfits, das wallende weiße Kleid und dieser Kopfschmuck. Diese Szenen, die die Musikvideo-Ästhetik so genau bedienen, kann man sicher auch so deuten, dass sie in ihrer Rolle als Künstlerin gerne als Ausstellungsstück dieser Kultur benutzt wird. Auch allein dadurch, dass das Kleid so durchsichtig ist, ist das schon fast fetischisierend.

    Valentin: Ich stimme dir natürlich zu. Ich finde es auch interessant, wie in diesem Pop-Song so typisch arabische Melodien immer wieder im Hintergrund aufgegriffen werden. Am Ende sieht man dann auch, wie traurig sie über die Abreise dann ist. Dafür, dass das Video über fünf Minuten lang ist, fühlt es sich recht kurz an. Das liegt auch an dem sehr dichten Storytelling.

  • Tame Impala Lost In Yesterday (R: Terri Timely)

    Valentin: Das habe ich vorhin in der U-Bahn gesehen und mir gedacht, dass dir das gut gefallen wird.

    Till: Na, da wird schon mal am Anfang die Kippe in den Sekt geschmissen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute bei meiner Hochzeit bisschen besser angezogen sind.

    Valentin: Das sieht ja zumindest so aus, als wäre das alles One-Take. Aber es gibt auch ein paar Momente, wo man es hätte faken können. Und jetzt geht alles von vorn los, aber bisschen anders. Eine Frau hat jetzt gefärbte Haare, zum Beispiel.

    Till: Die Torte wird auch größer. Da hat jemand ein Baby in der Hand, das Paar, das vorhin noch gestritten hat, versteht sich prächtig. Alle vertragen sich zumindest.

    Valentin: Ich verstehe die Timeline noch nicht so ganz.

    Till: Jetzt wird getanzt und es gibt ein Gitarrensolo. Der Mann, der eben noch im Rollstuhl saß, kann jetzt laufen. Das Brautpaar sieht viel glücklicher aus und die Leute sind wesentlich besser gekleidet. Beim dritten Mal übertreiben sie jetzt aber ein bisschen.

    Valentin: Das müsste man sich wahrscheinlich zehn mal anschauen, um jede einzelne Story zu verstehen. Wird das nicht auch die ganze Zeit langsamer? Am Ende kommt dann die Auflösung… Ich versteh’s immer noch nicht.

    Till: Ja, doch. Also ich hab die Theorie, dass dieser ganze Ablauf eine Erinnerung ist, die mit jedem Wieder-Erinnern besser wird. Bis man sich eben endlich an die Katastrophe zurückerinnert, die eigentlich alles zerstört hat. Er singt ja auch »Eventually terrible memories turn into great ones«, das passt dann ja.

    Valentin: Das ergibt jetzt auch Sinn für mich.

    Till: Also krasse Shoutouts an die Drehbuchautor*innen, die Detailverliebtheit und die vielen Einzelgeschichten, das ist wahnsinnig krass. Ich sehe auch gerade, dass das Format immer breiter wird, die Körnung lässt nach und die Farben werden strahlender. Also es geht auch wieder vom Analogen ins Digitale.