Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Februar 2021

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Dieses Mal dabei: Xatar & SSIO, Dua Lipa und Maeckes.

VISUALIZING FEB21
»Klirr, Klirr«. »Hrrr, Hrrr«. »Tick-tick-tick-tick«. »Tfuh, Tfuh«. Wer damit nichts anfangen kann, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Diesen Eindruck könnte man bei der Betrachtung der besten Musikvideos aus dem Februar bekommen. Ansonsten sprechen Charlie Bendisch und Till Wilhelm in dieser Ausgabe von Visualizing Music über das Verhältnis von Superstar Dua Lipa zum Leben eines Hummers und die Ambivalenz von U-Bahnen bei Lava La Rue. Bei Rosalía und Bad Bunny stellt sich wie häufig die Frage nach kultureller Aneignung: Sollte sich die spanische Sängerin als moderne Frida Kahlo präsentieren? Noch etwas, das der Leser:innenschaft spanisch vorkommen könnte: C. Tangana. Der Rapper aus Madrid hat kürzlich ein Album veröffentlicht und zu jedem Song ein Video mitgeliefert. Klare Konsumempfehlung! Wer weniger Zeit hat, kann sich im neuen Video von Maeckes eine Radikalisierungsgeschichte anschauen, auf klitzekleine dreieinhalb Minuten kondensiert. Dabei ist die Betrachtung des komplexen Themas wie die Maeckes’sche Wahrheit: Einfach. Vielleicht ein bisschen zu einfach. Los geht’s!

Die Youtube-Playlist zur Kolumne findet ihr hier.

Liste starten

  • Dua Lipa »We’re Good« (R: Vania Heymann & Gal Muggia)

    Till: Eigentlich nur ein gut gelaunter, wholesome Break-Up-Song, oder?

    Charlie: Im Video sehen wir aber eine sehr schmerzhafte Trennung unter Hummern. Der Blick des Hummers bei 00:54 ist sehr schön.

    Till: Und dann das große Thema der Flucht vor dem Kochtopf. Ich weiß jetzt nicht, ob die Hummer wirklich eine romantische Beziehung führen. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Schalentiere metaphorisch für Dua Lipas Freundeskreis stehen – aus dem sie gerissen und in ihrer Beziehung »verkocht« wird. Die Freunde müssen dem Untergang zuschauen.

    Charlie: Oh, krass, das ist auch ‘ne Lesart. Dua Lipa wirkt wie eine Verbündete des Hummers, vielleicht sogar eine Meeresgöttin. Als hätte sie die Flut herbeigeführt. Das knüpft auch ein bisschen an das Gemälde vom Anfang an. Das Bild mit dem Titel »Der Raub der Europa« von Noel-Nicolas Coypel bezieht sich auf die vielfach erzählte Geschichte aus der griechischen Mythologe. Da ist die Metamorphose in ein Tierwesen jedoch mit einer ziemlich brutalen Verführung und Entführung verbunden, das Gemälde als Folie also eher ein weiteres Horrorszenario.

    Till: Was ich auch schön finde: Das Thema Freiheit wird im Song auf die Ebene von Beziehungen reduziert, aber im Video kriegt das eine soziale, fast revolutionäre Komponente. Das Publikum des Restaurants ist total bourgeois und den armen Hummern überlegen. Am Ende geht es nicht nur um die Rettung des Einzelnen vor dem Topf, sondern um den Untergang des ganzen Kreuzfahrtschiffs.

    Charlie: Eine romantisch zelebrierte Utopie. Der Hummer kann nur frei werden, wenn das System versinkt. Das Interesse für die Perspektive des Meerestiers im Kino beginnt bereits 1928 mit »Der Oktupus«. Seitdem ist dieser tierische Blick häufig mit einer starken Aversion gegenüber des Überflusses im Anthropozän verbunden. Auch bei »We’re Good« wird das brutale Zerbrechen der Schale durch den übersättigten Menschen herausgestellt. Auch interessant: Der Regisseur Gal Muggia hat eine Vorliebe für Meerestiere. Das sieht man zum Beispiel in seinem Video für »Up&Up« von Coldplay. Da gibt’s eine Schildkröte im U-Bahn-Schacht.

    Till: Noch zwei kleine Funfactchen: Dua Lipas Ex ist Koch. Stark, oder? Außerdem gibt’s ja auch das »uncooked lobsters on the titanic«-Meme. Eigentlich genau das gleiche Thema, aber hier ist’s halt ein halber Kinofilm. Die Vermenschlichung der Hummer finde ich hier toll, weil es nur über die Kamera stattfindet, nicht über Spezialeffekte.

    Charlie: Apropos, da gibt’s andersrum den Film »The Lobster«. Der Protagonist hat 45 Tage Zeit, um eine:n Partner:in zu finden, ansonsten wird er in einen Hummer verwandelt. Der Hummer als Knast des gesellschaftlich verachteten Single-Daseins – bei Dua Lipas Hummer bedeutet es Freiheit.

  • Bad Bunny & Rosalía »La Noche De Anoche« (R: STILLZ)

    Till: Was bedeutet denn der Songtitel?

    Charlie: »Letzte Nacht« heißt das. Es geht darum, dass die letzte Nacht unerklärbar war, zu heiß, zu romantisch. Also, eine Liebeshymne. Das Video fängt direkt mit den ikonischen Augenbrauen an. Die gehören zwar zu Rosalía, wecken aber Assoziationen zu Frida Kahlo.

    Till: Generell gibt es hier viele Bezüge zu surrealistischer Kunst. Ich musste an Salvador Dalís Gemälde mit den bekannten zerfließenden Uhren denken, »La persistencia de la memoria«. Ich hatte gelesen, dass auch Giorgio de Chirico als Referenzpunkt genannt wurde.

    Charlie: Die Treppenformation erinnert stark an René Magrittes »Architecture au clair de lune«, das ist eine ganz deutlich Referenz. Wenn man Rosalía jetzt aber als Frida Kahlo und Bad Bunny eben als Diego Rivera liest, wird’s spannend. Dann kann man sagen, dass die beiden nun die neuen Ikonen sind.

    Till: Das finde ich eine coole These. Deutsche Artists würden das nie so machen, glaube ich. Stell dir vor, Bushido verkleidet sich im Video als Goethe, das wäre komplett absurd. Reicht ja schon, dass Kollegah sich als SS-Offizier verkleidet.

    Charlie: Frida Kahlo ist ja stark vermarktet worden, auch Bad Bunnys Musik ist ein starkes südamerikanisches Exportprodukt. Er war ja sogar der meistgestreamte Künstler letztes Jahr bei Spotify. Rosalía ist noch vor Künstler*innen aus den Americas wie Nathy Peluso die erfolgreichste spanischsprachige Künstlerin. Jedoch macht sie nicht ausschließlich Reggaeton, sondern betont häufig eher ihre spanischen Einflüsse und kollaboriert auch mit Leuten wie James Blake oder Arca.

    Till: Es liegt mir dann ein bisschen schwer im Bauch, dass sie sich als Frida Kahlo darstellt, die mexikanische Ikone. Einerseits wurde Rosalía ja schon der kulturellen Aneignung beschuldigt, weil sie sich so stark am Flamenco bedient, der zu einem großen Teil auch aus der Kultur der Roma kommt. Andererseits gab es in der Vergangenheit Kritik, weil sie das Latin-Genre vereinnahmt, obwohl sie keine Lateinamerikanerin ist. Rosalía hält den Anschuldigungen entgegen, dass sie sich eben sehr genau mit ihren Einflüssen auseinandersetzt. Da gibt es auf jeden Fall Konflikte.

    Charlie: Klar, das ist super komplex. Hier wird alles rücksichtslos vermischt. Bei Magrittes Treppe, Dalís Baum oder Fridas Augenbrauen handelt es sich aber auch um ziemlich abgedroschene, unendlich reproduzierte Zeichen. Dann auch noch die brennenden Körper. Ich mag das Video, weil diese Referenzen so drüber sind. Auch das Feuer als brennende Liebe, dieser heftige Flirt, alles ist so wunderbar überzogen.

  • Maeckes »1234« (R: Benjamin Fischer & Joseph Strauch)

    Charlie: Kleine Anekdote: Ich habe letztens gelesen, dass eine Filmproduktionsfirma, bei der ich mich nach dem Abi mal für ein Praktikum beworben habe, weil die »kritische« Dokumentarfilme gemacht haben, völlig abgedriftet ist. Damals beim unangenehmen Bewerbungsgespräch erzählte der Chef, sie würden einen Film zur WHO machen, jetzt produzieren sie Corona-Leugner-Videos. Die sind auch relativ etabliert und jetzt machen die Interviews mit Wolfgang Wodarg. Sowas geht super schnell.

    Till: Jo, krass! Bei »1234« sehen wir ja eben auch eine Radikalisierungsgeschichte. Der Song rückt dabei bisschen in den Hintergrund, weil das Video sehr viel Raum einnimmt. Bisschen schade, weil der Song viel mehr Themen anspricht. Aber er funktioniert auch sehr gut als Soundtrack. Der große Fan, der hier am Ende Maeckes ermordet, den kennt man bereits, wenn man Maeckes verfolgt. Im Video zu »Tilt« wurde dieser Mann schon 2016 als Maeckes-Double gecastet. Ganz im Motto: »Ich bin nicht Maeckes«.

    Charlie: Ich war am Anfang sogar irritiert und habe mich gefragt, ob das Maeckes selbst ist.

    Till: Mir ist noch aufgefallen, dass man anhand der Nachrichten, die eingeblendet werden, recht gut nachvollziehen kann, in welcher Zeit dieses Video spielt. Dass es ein sehr aktuelles Video ist. Am Beginn des Videos eine längere Zeitspanne, die unauffällig ist: Das Blackfacing-Foto von Thomas Gottschalk aus dem Jahr 2017, das Sommerinterview mit Alexander Gauland aus dem Jahr 2019 wird noch weggeschaltet. Dann aber sehen wir das Fler-Interview vom 19.12.2020 bei 01:05, den Angriff auf das Capitol vom 06.01.2021 bei 01:15. Ab da bis zum Mord geht es dann ganz schnell.

    Charlie: Da Radikalisierung geht mit einer gleichzeitig immer verrückter werdenden Medienöffentlichkeit einher. Interessant ist auch die Einstellung mit dem Pepe-Frosch im Fernsehen, der mit realem Blut bespritzt wird. Pepe ist ja ein Symbol aus der rechten Szene und sein Grinsen weist schon in diesem Moment auf die Betamännchen-Gemeinde im Netz, die diese Radikalisierung befüttern und den Mord zelebrieren. Aber von vorne: Das Video heißt ja »1234«, es geht um simple Wahrheiten. Ähnlich wie bei »La Noche de Anoche« werden hier alle Elemente undifferenziert vermischt – ob Schweiger-Filme, Fler-Interviews oder Gauland, alles bildet ein diffuses mediales Klima des gefährlich Einfachen. Du meintest, der Song rückt in den Hintergrund. Das ist ja auch ein Spiel mit der Aufmerksamkeit: Das geradlinige Video ist einfacher zu verfolgen als der Song. Man kann sicher auch die Frage stellen: Macht’s sich das Video nicht auch zu einfach mit seiner Kritik? Das wird alles sehr kausal dargestellt, so klar und schematisch ist die Radikalisierung ja selten.

    Till: Klar, das ist alles recht überzogen, vereinfacht und symbolisch. Das ist aber ja auch offensichtlich, weil es sich direkt an Maeckes abarbeitet. Das Video ist sicher keine differenzierte Abhandlung, da kommt für mich eher wieder die Ambivalenz von einfachen Wahrheiten ins Spiel. Wir sehen ja, dass das Video einen starken Eindruck hinterlässt. Gerade auch, weil es so eindeutig ist. In der Realität ist alles viel komplizierter, das weiß auch Maeckes.

    Charlie: Ja, ich denke auch, die etwas zu simple Erzählung lässt mich auf jeden Fall mit einer Unzufriedenheit zurück, die mich bestenfalls die eigene Affinität für simple Erzählmuster reflektieren lässt. Gegen Ende folgt ja dann noch der leise Appell an eine grundlegend andere Erinnerungskultur. Dann wäre es womöglich gar nicht so weit gekommen?

  • Lava La Rue »Magpie« (R: Milo Blake)

    Till: U-Bahnen oder Züge sind schon ein beliebter Ort für Musikvideos, oder? Es gibt recht klar abgegrenzte Räume, die man leicht umwandeln kann. Außerdem ist die U-Bahn speziell ein krass sozialer Ort, an dem man genau sieht, wer im Viertel zusammenwohnt.

    Charlie: Im Verhältnis zu Maeckes ist dieses Video richtig optimistisch. Es geht darum, gemeinsam eine neue Gesellschaft aufzubauen, um Community. Sich mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen. Witzigerweise fängt der Text quasi mit »One, Two, Three, Four« an.

    Till: Wie die Charaktere vereint sind, sieht man nicht nur, wenn sie am Ende zusammensitzen. Sondern zum Beispiel auch, wenn all die Protestschilder ins Bild kommen. Die Menschen sind verschieden und haben vielfältige Ziele, kämpfen aber gemeinsam. Es geht um #BlackLivesMatter, Police Brutality, Reproduktive Rechte, aber auch um Kebab. Gleichzeitig gehts um ‘ne gute gemeinsame Zeit.

    Charlie: Es gab letztes Jahr eine BBC-Filmreihe namens »Small Axe« von Steve McQueen. In der Serie werden auch viele diasporische Kämpfe in UK porträtiert und verhandelt.

    Till: Ich habe die Reihe nicht gesehen, wollte aber unbedingt die Folge schauen, in der es um Lover’s Rock ging. Das ist ein Musikgenre aus dem London der 70er, so eine Mischform aus Reggae und Soul. Ich konnte zwar keinen Stream finden, aber habe mir alle Spotify-Playlisten zum Thema reingefahren. Mein Lieblingssong ist »Baby My Love« von The In Crowd und Jah Stitch.

    Charlie: »Silly Games« von Janet Kay ist auch toll. Ich musste an die Serie denken, weil es da auch drum geht, wie Community Building in UK mit politischem Kampf verbunden ist und dort je nach Kontext ganz andere Gemeinschaften porträtiert werden. Im Video von Lava La Rue gibt es auch ganz unterschiedliche Figuren, einer hat auch »Jah« auf seiner Box stehen, als würde er wie bei »Lovers Rock« gleich sein Sound-System aufbauen.

    Till: Dann Leute, die so Streetwear-mäßig aussehen, Rapper, Punker. Da ist alles dabei.

    Charlie: Thema Züge und Antirassismus: Ganz wichtig ist da auch der Film »Fruitvale Station«, der die letzten 24 Stunden von Oscar Grant III. erzählt. Das war der Debütfilm von Ryan Coogler. Es geht um Polizeigewalt, um eine Zugstation, an der ein Mann erschossen wurde. Züge können natürlich auch ein Gefahrenort sein, ein Ort der Unsicherheit. Gerade was sexistische und rassistische Übergriffe angeht. Bei Lava La Rue ist die U-Bahn fast ein utopischer Ort.

    Till: Hier fährt sogar der Vermieter mit seinen Miniaturhäusern U-Bahn.

  • C. Tangana, Gipsy Kings, Nicolás Reyes & Tonino Baliardo »Ingobernable« (R: Cris Trenas & Maria Rubio)

    Till: Gut, dass du Spanisch sprichst. Worum geht’s?

    Charlie: C. Tangana liebt jemanden, kommt aber nicht zu ihr durch. Er versucht alles, aber er kriegt sie nicht zu fassen. Sie ist »ingobernable«.

    Till: Der Madrilenische Rapper hat kürzlich ein Album veröffentlicht und zu jedem Song wurde ein Video gedreht. Zusammenhängend findet man das am Besten in der Playlist zum Album. Die Videos zu den Singles sind eher High Budget, vor allem die Videos zu den Flamenco-Stücken sind alle recht ähnlich zu diesem hier, natürlich aber mit anderen Settings. »Ingobernable« ist eines dieser Flamenco-Stücke.

    Charlie: Die haben alle den Flair spanischer Bourgeoisie. Man muss an das spanische Kino denken, natürlich an die Filme von Pedro Almodóvar. Starke, intensive Farben, diese Frauenfiguren, die im Vordergrund stehen.

    Till: Ich finde die Outfits sehr stark. Die älteren Damen sind alle bunt gekleidet, sehen reich aus. Er trägt dann diesen knallroten Jogginganzug, der sieht mega gut aus. Dann gibt es noch eine jüngere Frau, die an den Billie Eilish-Style erinnert. C. Tangana selbst zieht ja viel Inspiration aus dem traditionellen Flamenco, ist aber eigentlich Rapper und hat auf dem Album auch den Song »Hong Kong«, der in eine Pop-Punk-Richtung geht. Besonders mag ich die Szene ab 01:05, in der er mit der jüngeren Frau gelangweilt auf der Couch sitzt, während die älteren Damen im Hintergrund das Lied singen.

    Charlie: Der Moment ist ganz schön. Das sind ja alles so die Freundinnen seiner Mutter, die ihn auch nerven. Ihre Bourgeoise Oberflächlichkeit. Gleichzeitig haben die eine Wärme, die gehören zum Zuhause. Ein Begriff, der dieses Video gut umschreibt, ist Apathie. Die Teilnahmslosigkeit der alten Damen, die abseits gesellschaftlicher Probleme in ihrer Blase verkehren. Aber auch die Teilnahmslosigkeit von C. Tangana, der immer abseits steht. Er gehört nicht so richtig dazu. Er hat nur seine Liebe im Kopf.

    Till: Um das vielleicht abzuschließen: »El Madrileño« ist bisher eines meiner liebsten Alben des Jahres. Und ich freue mich riesig über diese extrem schönen Visuals.

  • Xatar & SSIO »Hrrr« (R: Mille)

    Till: Mein absolutes Highlight diesen Monat. Ich habe noch nicht so richtig abgeschlossene Gedanken zu dem Video, aber viele Ideen.

    Charlie: Dieser dumme Porno-Joke am Ende macht mich fertig. Erzähl mal.

    Till: Also, »Hrrr« ist der Titeltrack des neuen Albums von Xatar. Das ist auf vielen Ebenen total geil. Eigentlich steht Xatar ja symbolisch für so eine Rags-To-Riches-Story, dass er es durch Kunst an die Spitze geschafft hat. Dieser Song ist für mich jetzt wirklich das Zeichen, dass man an besagter Spitze alles machen kann. Im ganzen Lied gibt es keinen Reim, jedes Zeilenende ist Lautmalerei. Onomatopoesie nennt man das in der Kunst. Es gibt eigentlich absolut keine Message, das ist fast surrealistisch. Ich liebe diese absolute Verflachung. Lautmalerei ist ja nach Chief Keef und co. nichts neues, aber hier wird das konsequent durchgezogen. Und im Video ist die Verflachung super umgesetzt: Es gibt Frauen, Geld, Werbeplatzierungen und die beiden Stars. Das sind die neuen vier Elemente des HipHop. »Hrrr« ist der Sound der Geldzählmaschine. Aber im Video werden all die Geräusche nicht auf ihren Ursprung zurückgeführt, sondern auf Gesten und Mimik. Also: Wenn wir »Klirr« hören, zerbricht im Video keine Scheibe, sondern Xatar wackelt mit den Händen. Alles, was wir hören und verstehen sollen, ist komplett entkoppelt von einer materiellen Realität. Das reiht sich bei Xatar ein in die Praxis der Memefication. Er macht sich selbst zum Meme, wird dadurch allgegenwärtig und transzendiert irgendwie. Damit wird er zum Symbol, bei dem die Semantik komplett wegfällt. Boah, das war jetzt viel.

    Charlie: Der Beat ist auch so super minimalistisch, es gibt sonst nur das kurze Intermezzo mit dem Soul-Sample. Für die Verflachung spricht auch die Abwesenheit von Farbakzenten. Da gibt es eigentlich nur drei: Die Spezi, die Donut-Box und der Blumenstrauß, wenn SSIO die ältere Dame bezirzt. Diese weißen Outfits auf weißem Hintergrund kennt man aus Musikvideos der späten Nullerjahre eigentlich, zum Beispiel »American Boy« von Kanye West und Estelle. Meinst du, das Video soll ein Kommentar zum Rapgame sein?

    Till: Das hat bei Xatar schon zwei Ebenen, würde ich sagen. Das ist lustig und persifliert Deutschrap, gleichzeitig geht er noch einen Schritt weiter und macht die Überhöhung zu Kunst. Verboten, aber trotzdem machen.

    Charlie: Bei Xatar hat man oft das Gefühl, dass er mehr Geschäftsmann ist als Rapper. »Hrrr« ist in der Ästhetik mehr Werbeclip als Musikvideo. Auch »Sex Sells« wird ja als Methode ziemlich exponiert. Am Ende kommen nochmal 30 Sekunden reine Werbung, das ist schon lang. Der Joke mit dem Heu ist halt auch so ultra platt und deplatziert.

    Till: Das ist auch völlig absurd: Ich glaube, viele Jugendliche verstehen die Referenz vielleicht auch gar nicht. Xatar ist 39 Jahre alt. Wie kann es eigentlich sein, dass er der absolute Memelord der Jugendkultur ist?