Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats Dezember 2020
An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Für Dezember 2020 unter anderem mit OG Keemo, Fatoni & Edgar Wasser und Ansu.
Die offizielle Playlist zur Kolumne findet ihr hier.
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OG Keemo & Funkvater Frank »Malik« (R: Felix Aaron)
Till: OG Keemo hat zuletzt sein neues Album für den 16. April angekündigt, es heißt »Mann Beisst Hund«. Das wird sich um drei Protagonisten drehen: Malik, Yasha und Keemo. Ersteren lernen wir in diesem Video kennen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass die anderen beiden ähnliche Tracks bekommen, durch die wir ihr Mindset kennenlernen.
Charlie: Malik heißt übrigens »König«.
Till: Im Video sehen wir einen Darsteller, ich nehme an Malik, der sich im Rap zu Keemo verwandelt. Der Rapper ist also das Sprachrohr dieses Protagonisten.
Charlie: Das Video fängt mit Aufnahmen einer Wohnblocksiedlung an. Ich nehme mal an, das ist Mannheim. Der knallorangene Titel schiebt sich vor die Linse. Die kantigen, massiven Letter greifen einerseits das Formprinzip der Blocks auf, und erinnern gleichsam an Reklame-Typografie, wie sie auch Barbara Kruger beispielsweise immer wieder verwendet. Die richtige Belichtung wird justiert und eine nostalgische kreisförmige Aufblende eröffnet die Story.
Till: Durch die Blockästhetik und auch durch das schwarz-weiße Bild fühlt man sich direkt an »La Haine« erinnert.
Charlie: Der Film dient häufig als beliebter Bezugsrahmen für Rap-Videos. Zuletzt entwickelte der A$AP Mob im Video zu »Money Man« eine kleine Hommage. Dort tauchte sogar Said Taghmaoui auf, der in »La Haine« eine Hauptrolle spielte. Bei »Malik« finde ich vor allem das Interieur erstmal spannend. Durch die Lampe, den Spiegelschrank oder die Tapete wird die Gegend erzählt.
Till: Die Möbel erinnern stark an die Trends der 1960er-Jahre.
Charlie: Was wiederum an die zwei alten Männer im Video anknüpft. Das Unbehagen in der Siedlung wird hier architektonisch und sozial umrissen.
Till: Da sind wir schon an einem guten Punkt. Für viele Rapper:innen ist die Hood das Zuhause, die Heimat. Denken wir nur an Sidos »Mein Block«. Da kennt er jeden und weiß über alles Bescheid. OG Keemo scheint sich wesentlich weniger wohl zu fühlen. Im Gegenteil: Hier, im Schutzraum sozial benachteiligter Menschen, ist die Bedrohung durch den alten weißen Mann nicht weniger bedrohlich als anderswo. Der übereifrige, sadistische und rassistische Deutsche ist auch hier präsent und drangsaliert die Nachbarschaft.
Charlie: Das steht durchaus im Widerspruch zur Block-Romantisierung. Dann gibt es eine interessante Unterbrechung im Video. Während die Credits schon ablaufen, liegt Keemo vermeintlich tot am Boden. Das Motiv des Hundes kommt dort kurz in Cartoon-Version vor, auf einmal gar nicht mehr bedrohlich. Andererseits haftet der Szene eine gruselige Tendenz an, vielleicht auch weil sich der NSU damals Cartoon-Tiere wie Paulchen Panther angeeignet hat. Danach steht Keemo wieder auf, während die Krähen über ihm kreisen. Das ist ein sehr ausdrucksstarkes Motiv. Natürlich auch, weil es stark an Hitchcocks »The Birds« erinnert.
Till: Bevor er tot ist, sieht man Keemo auf dem Laufband, während ihn die beiden Herren breit grinsend drangsalieren. Danach wird dieses Bild umgedreht, der alte Mann steht auf dem Laufband. Das ist eine Umkehrung der Machtverhältnisse. An der Stelle macht die Schauspielerei aber noch einen anderen Punkt deutlich. Während Keemo auf dem Laufband rennen muss, kann der weiße Mann ganz gemächlich laufen, auch die Mimik sieht recht unberührt aus. Selbst in der Rachefantasie kann Keemo den Deutschen nie die Panik einjagen, die er selbst verspürt hat. Zudem ist das Laufband ja auch ein Symbol für den Hustle, von dem der Text erzählt. Anderer Punkt: Die Bilder von Hunden, die bei 01:00 eingeschnitten werden, erinnern sehr an das Albumcover von »Without Warning«, von Metro Boomin, 21 Savage und Offset.
Charlie: Die Hunde spielen durchaus eine zentrale Rolle. In den 1980er-Jahren gab es einen Horrorfilm namens »White Dog«. Da geht es um einen Hund, der darauf trainiert ist, Schwarze Personen anzugreifen. Der Film ist eine antirassistische Parabel und durchaus bekannt, lief zuletzt in der von Greg de Cuir Jr. konzipierten Reihe »Black Light«. Dieses Motiv tritt also in künstlerischen Antira-Kontexten immer wieder auf. Abgesehen davon stehen Hunde auch häufig für die Straße und das Köterdasein, beispielsweise bei dem Film »Amores Perros«.
Till: Auch vor der Hook sagt Keemo: »Fick die Hundertzehn, lass die Hunde frei.« Wieder die Umkehrung.
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Run The Jewels »Walking In The Snow« (R: Chris Hopewell)
Charlie: Der Regisseur ist ziemlich bekannt, hat auch schon mit Radiohead gearbeitet. Seine Spezialität sind tatsächlich Animationsfilme, so einen hat er auch schon früher für Run The Jewels gemacht. Hier haben wir ein Narrativ der Revolution in einer Toy Story-ähnlichen Welt. Stark angelehnt an die Actionfiguren der 1980er-Jahre. Der fiktive Widerstand im Video zieht natürlich Parallelen zur Black Lives Matter-Bewegung. Mit »Bring The Heat« am Ende des Videos ist auch die Musik von Run The Jewels ein Faktor, der Wandel bringt.
Till: Obwohl ich eigentlich wirklich kein Fan von animierten Musikvideos bin, habe ich gerade ein bisschen Gänsehaut. Das liegt natürlich am Narrativ, aber auch an den filmischen Mitteln. Die sind stark beeinflusst von Filmen und Serien, die explizit für Kinder gemacht werden. Also: Reaktionen werden mimisch überzogen dargestellt, die kleinen Zooms heben die Eckpunkte der Handlung stark hervor. Jede Einstellung stellt einen klaren Punkt dar, das übergeordnete Narrativ ist sehr eindeutig. Sehr agitativ, was ja auch die Musik von Run The Jewels auszeichnet.
Charlie: Ein zentraler Punkt im Kosmos von Run The Jewels ist, dass sich der künstlerische Ausdruck immer mit politischem Aktivismus verzahnt.
Till: Wichtig ist vielleicht der große Unterschied zu Kinderfilmen: Dort sind es meistens die Superhelden, die im Alleingang das Böse vertreiben. Die beiden Rapper hier im Video sind aber alleine machtlos – nur im Verbund mit der schon existierenden Widerstandsgruppe können sie helfen. Ein Detail: Killer Mike & El-P kommen ja nicht in dieser Welt vor. Vielleicht also auch ein Appell an Menschen, die bisher wenig mit dem antirassistischen Kampf zu tun haben, sich bestehenden aktivistischen Gruppen anzuschließen, anstatt zu glauben, man könne Probleme im Alleingang lösen.
Charlie: Zudem ist diese Gruppe sehr divers. Nicht nur Actionfiguren, auch Plüschtiere, Holzenten, eine Zitrone. Eine weitere Stelle, die mir hängengeblieben ist: Bei 02:10 fallen die Worte »I can’t breathe«, zu sehen ist dabei eine kleine Rauchwolke im leeren Raum. Sonst nichts. Das ansonsten detailverliebt ausgeschmückte Bild löst sich auf. Das Video schreitet ansonsten schnell voran. Nur an dieser Stelle wird das Tempo für einen kurzen Moment andächtig entzogen. Die herrschende, frostige Welt bedeutet auch die Verunmöglichung des Atmens und das Ziel des Aufstands bleibt eine atembare Umgebung.
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Ansu »Wert« (R: Jan Mahnke & Ansu)
Till: Ansu, ein Newcomer aus Hamburg, philosophiert hier über die Werte, denen wir Bedeutung beimessen. In meiner Wahrnehmung unterteilt sich dieses Video in drei Phasen. Der erste Part konzentriert sich auf das Thema Ellenbogengesellschaft, direkt auf die Konkurrenz zu Anderen. Der zweite Teil dreht sich um die Konkurrenz mit sich selbst und Selbstreflektion. Im dritten Part wird das endlose Streben nach mehr zum Selbstläufer. Er fährt das Rennen gegen niemanden mehr. Diese drei Phasen sind auch im Video umgesetzt. Im ersten Teil beispielsweise durch das Anrempeln, im zweiten durch den Fingerzeig auf sich selbst, im dritten durch die Austauschbarkeit der Protagonisten. Gleichzeitig gibt es eine Dichotomie zwischen Stadt und Natur, wobei die Natur durchaus dafür steht, sich von den falschen Werten zu befreien. Im Gegensatz dazu ist die Stadt von Wiederholungen geprägt.
Charlie: Einerseits Gesellschaftsdiagnose, andererseits die Arbeit an sich selbst. Seine Konsequenz scheint ja zu sein, dass er einfach sein Ding macht.
Till: Auch das ist ein schmaler Grat. Denn nur sein Ding durchzuziehen, wäre ja wiederum Produkt der Konkurrenzgesellschaft. Deswegen liegt sein Fokus darauf, mit sich im Reinen zu sein.
Charlie: Er schließt sich ein in die Kritik. Visuell am offensichtlichsten umgesetzt ist das bei 01:10, als er mit dem Finger auf sich selbst zeigt. Die Doppelgänger kommen recht häufig vor. Das Video erinnert sehr an die Theorien der Postkinematografie, gerade durch die Deja-Vus. Er sieht mit der Lederjacke etwas aus wie Denzel Washington in »Training Day«. In diesen Filmen der frühen 2000er-Jahre laufen öfters Zeitschneisen gegeneinander, Wettkämpfe gegen die Zeit. Zuletzt kam das auch in »Tenet« vor, der wiederum viele Parallelen zu »Déjà-vu« aufweist. Hier erinnern einige Einstellungen an diese Art Film. Die Bilder sind häufig fragmentiert und die Oberfläche wird durch die VHS-Optik, die Handy-Displays und Überwachungsdispositive wie bei 01:28 zersetzt. Das ist immer auch eine ästhetische Reflektion über eine fragmentierte, mediatisierte Gegenwartserfahrung.
Till: Dafür bezeichnend ist auch die Stelle bei 01:20. Ansu sitzt im Auto, hinter ihm kommt ein weiteres Auto ins Bild, in dem er wiederum auch sitzt. Interessant dabei: Sein Doppelgänger im hinteren Auto erscheint in der sehr krisseligen VHS-Optik, er selbst aber kaum.
Charlie: Die Unterscheidung zwischen Stadt und Natur zeigt sich nochmal in der Sequenz ab 01:25. Dieser Ort sieht super kalt aus, erinnert mich in der Architektur an Universitätsgebäude. Auch das Auto oder das Handy bilden geläufige Symbole einer akzelerierten Leistungsgesellschaft, gegen dessen illusionen der Protagonist aufbegehrt. Am deutlichsten indem er einen Spiegel (oder eine Kameralinse) zertritt. Vielleicht ist es die Überwachungskamera aus dem Bild davor, die auch im Intro von »The Wire« zerstört wird.
Till: Die Handys sind sicherlich sehr wichtig. Symbolische Szene: Eine Person wird überfahren, weil der Fahrer des Autos aufs Handy schaut. Der symbolische Wert wird noch gesteigert, indem in die gleichen zwei Personen, nämlich Ansu und das Kind sowohl überfahren werden als auch im Auto sitzen. Das Vergleichen mit Anderen, welches mit dem Smartphone verbunden wird, führt zur täterlosen Katastrophe.
Charlie: Die Crashszene mit ihren Identitäts-Wirrungen passt wiederum in das Bild der Actionfilme, die ich vorhin erwähnt habe.
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Fatoni & Edgar Wasser »Realität« (R: Kotburschi Kollektiv)
Till: Das Ende ist etwas für starke Nerven.
Charlie: Lass uns doch dieses Sammelsurium von vorne durchkämmen. Es fängt an mit Bildern, die aus Verschwörungsideologien bekannt sind. Anspielungen an Pizzagate beispielsweise. Dann kommt Fatonis Kopf in Southpark-Optik mit dem Signature-Hut.
Till: Dann kommt schon die Gegenüberstellung des übertriebenen Monsternazi-Polizisten und dem ganz normalen Donald Trump – allerdings immer noch in der Southpark-Ästhetik. Das Video ist voller Symbolik: Bill Gates badet in Kinderblut und betet Satan an, Xavier Naidoo bekommt Teufelshörner. Alle Verschwörungsideologien werden durcheinandergeworfen.
Charlie: Wir sehen eine Art Jahresrückblick aus 2020, bestehend aus den schlimmsten Videos, die das Jahr gesehen hat.
Till: An der Stelle möchte ich schon mal die Detailverliebtheit loben, gerade in den kleinen Beschreibungstexten hier. Da ist auch eine Telefonnummer. Ich habe dorthin geschrieben und wie vorgegeben nach der Wahrheit verlangt. Nach einigem Hin und Her habe ich eine Antwort bekommen, die ich hier rezitieren möchte: »Die Wahrheit ist, dass ich Jahre lang felsenfest den Mythos geglaubt habe, dass Kühe voll mit Wasser laufen, wenn sie in einen Fluss gehen, weil sie keine Kontrolle über ihren Schließmuskel haben. Wenn ich sowas schon, obwohl es so offensichtlich falsch ist, Jahre lang glaube – was erwarten mich noch fuer Enthüllungen auf meinem Lebensweg?« Ich glaube, das spricht für sich.
Charlie: In Edgar Wassers Part geht es ja gerade um das Blicken hinter Kulissen. Die Inszenierungsebenen werden beispielsweise bei 01:55 seziert. Das Bild wird als bloße Szenerie enttarnt. Damit starten wir in das visuelle Thema der Matrix, in der nichts mehr real ist. Während bei Fatoni die satirische Überhöhung zentral ist, problematisiert Edgar Wasser diesen überhöhten, relativierenden Konstruktivismus des Verschwörungsglaubens.
Till: Fatoni fragt nach der Möglichkeit, Kunst zu machen in dieser überdrehten Realität. Edgar Wasser bietet die Antwort: Um die Realität an Absurdität zu überbieten, leugnet man sie. Das ist zynisch, aber effektiv.
Charlie: Dann sehen wir eben Elon Musk mit dem durchtrainierten Tinky-Winky, der die flache Welt als Vinyl auflegt. Edgar Wasser thematisiert eben auch, dass die Popkultur schon seit Jahrzehnten nach einem Blick hinter der Illusion sucht und von diesem Begehren nach Dekodierung durchtränkt ist. Etwa mit Filmen wie »Matrix« oder »Wag The Dog«.
Till: Im ersten Refrain bekommen wir zum ersten Mal reale Bilder zu sehen. Die erscheinen durch den Fernseher. Das wird zum Ende des Videos wieder wichtig: Da wird das ganze Grauen des Jahres gezeigt, während die animierten Elemente verschwinden.
Charlie: Genau. Die anfangs animierten Clip-Optionen kriegen wir nochmal in ihrem gefilmten Gewand. Diese Assemblage medialer Bilder hatten wir ja auf etwas andere Weise schon bei Arthur Jafas Video zu »Wash Us In the Blood«. In beiden Videos sehen wir beispielsweise auch eine Sequenz aus dem Video des Mordes an Ahmaud Arbery (02:50). Doch während Jafa bewusst die Intensitäten der Videos traumatisierender Gewalt reduziert hat, um diese nicht effektvoll auszubeuten, sehen wir bei Fatoni und Edgar Wasser die brutalsten Elemente exzessiv aneinandergereiht. Hier verfährt das Collagieren viel extremer und rücksichtsloser, quasi ein Worst-Of des Jahres 2020. Dieses Misch-Masch aus Schockbildern, die uns mit Affekten überfrachten, fand ich gegen Ende etwas platt.
Till: Da würde ich widersprechen, denn mich haben die Bilder am Ende nochmal wesentlich stärker geschockt als alles, was zuvor gezeigt wurde. Das zeigt: Egal, wie übertrieben der animierte Teil ist, die Realität ist schlimmer.
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Kaytranada Ft. Lucky Daye »Look Easy« (R: Xavier Tera)
Charlie: Ich kann ja mal ein bisschen erzählen. Zum Ende sehen wir eine Danksagung an Luli Shioi, »the queen of Tokyo«. Die Hauptdarstellerin dieses Videos hat einen Breakfast Club in Tokyo. Wer mehr über die Philosophie dahinter lesen möchte, kann sich mal diesen Artikel anschauen. Dass in diesem Kurzfilm erstmal wenig passiert, ist diesem Genre geschuldet. Die Narration ist recht gradlinig, von der Entführung über den Ausbruch bis zur Ermordung der Entführer. Das Video bezieht sich auf das Genre des Neo Noir. Das ist nichts weltbewegend Neues. Der Neo Noir ist im Westen recht prominent, vor allem, wenn es um Tokyo als Handlungsort geht. Das Video ähnelt jedoch eher den neuesten Genre-Entwürfen aus China. Beispielsweise »The Wild Goose Lake« oder »Ash Is the Purest White«.
Till: Über dieses Genre hatten wir schon mal gesprochen: In der Ausgabe zu den besten Musikvideos aus dem Mai 2020. Dort ging es um das Video zu »Bad Friend« von Rina Sawayama.
Charlie: Die ästhetische Extravaganz ist typisch für den Neo Noir: Hier ist es das 4:3-Format, die Farbgebung, die typischen Neonlichter und die präzise Bildkomposition. Das Format ist etwas nostalgisch, ebenso die Kodak-Farben. Auch die Blicke, die Gesten und die Orte stehen im Vordergrund, sind viel prägender als das Narrativ selbst.
Till: Auch die Musik von Kaytranada, die mit so einem Musikvideo ja eigentlich beworben werden soll, steht hier extrem im Hintergrund. Immer wieder läuft sie nur leise oder verschwindet sogar ganz. Das ist durchaus etwas, was typisch für Kaytranada ist: Dass eben das Narrativ des Videos stark von der Musik als solche ablenkt. Die Musik wirkt oft eher als Soundtrack. Als Producer muss man sich häufig die Frage stellen: Halte ich das Video minimalistisch, um den Song zu präsentieren? Oder darf das Video den Song dominieren, vielleicht als äquivalentes ästhetisches Produkt?
Charlie: Im Falle dieses Videos wirkt die Musik häufig, als wäre sie diegetisch, würde also aus dem Bild selbst kommen. Etwa als Klang des Autoradios oder Teil des DJ-Sets im Club. Auch die langen Autofahrten und die Clubszenen sind häufig präsent im Neo Noir. Hier werden all diese Elemente auf fünf Minuten kondensiert. Die gesellschaftliche Kälte und die suburbane Düsternis gehören auch dazu.
Till: Die Hauptdarstellerin war übrigens an dem Film »Isle Of Dogs« beteiligt. In einer unscheinbaren Nebenrolle.
Charlie: Und jetzt steht in den Kommentaren, dass alle sie als Hauptdarstellerin eines Blockbusters sehen wollen. Make it happen!
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Navy Blue »Moment Hung« (R: Ryosuke Tanzawa)
Till: Navy Blue ist ein Rapper und Skateboarder aus dem ehemaligen Odd Future-Umfeld. Heute noch ein Freund von Earl Sweatshirt, passt er musikalisch sehr gut in diesen Schnipsel Jazz hinein, der in New York mit Artists wie MIKE, Maxo und Pink Siifu um sich greift. Aus eben jenem Dunstkreis hatten wir jetzt schon öfter Videos in der Vorauswahl, die es am Ende nicht in die Kolumne geschafft haben. Das liegt wohl auch daran, dass die Visuals meist nicht sehr effekthascherisch und recht low-budget sind. Dementsprechend freue ich mich, dass wir diesen Monat mal über Navy Blue sprechen. Auch hier haben wir das 4:3-Format, das recht nostalgisch wird.
Charlie: Auch musikalisch kann man sagen, dass Navy Blue sich durch Reflektion und Rückbesinnung auszeichnet. Sein Album kam gerade raus, das habe ich sehr viel gehört. Gerade mit der Nachricht von DOOMs Tod hat das irgendwie gut getan. Die Kollaborationen mit Earl Sweatshirt waren sehr vertrackt, während seine Lyrics hier wesentlich konsistenter wirken. Ryosuke Tanzawa hat auch schon das letzte Video gedreht. In den letzten Jahren war sie viel im New Yorker Dunstkreis von Navy Blue unterwegs, hat Videos für KeiyaA, Mike oder Wiki gemacht. Beide Videos für Navy Blue zeichnen sich durch die Wärme der Farben aus, was auch ein Merkmal der Musik ist. Im Gegensatz zu »Malik« ist der Hund hier gar nicht bedrohlich.
Till: Hier hat der Hund etwas therapeutisches, mit ihm findet Navy Blue Frieden. Die Straßen im Video sind so schön leer, obwohl das bestimmt New York ist. Die einzigen Menschen, die man sieht, sind die Kinder bei 01:25. Das innere Kind ist ja auch ein Symbol der Heilung.
Charlie: Bei 01:36 hat man zunächst den Blick des Hundes, bevor die Kamera den Hund zeigt. Das hat etwas sehr Beruhigendes, etwas Neugieriges. Gerade in diesem Jahr der Isolation ist das sogenannte Gassi-Gehen ja zu einem wichtigen Fixpunkt für viele Menschen geworden. Ein guter Grund, in Kontakt zur Außenwelt zu bleiben.
Till: Anderer Punkt: In diesem Dunstkreis spielt Fragmentierung eine große Rolle, im ästhetischen Sinn. Musikalisch drückt sich durch die Prominenz des Samplings aus, textlich durch die assoziativen Sprünge. Die Videos von Navy Blue wirken dementsprechend auch wie ein Fragment, als hätte man einige Stunden aus dem Leben gerissen. Die Dokumentation dieser Fragmente, ist ein Weg, sich Zugang zum eigenen Leben zu verschaffen.
Charlie: Trotzdem ist daran nichts zufällig. Die Bildausschnitte sind sehr spezifisch ausgewählt, die Farbtöne sehr kohärent.
Till: Zum Abschluss möchte ich ein Kompliment für den lowkey großartigen Drip aussprechen.