Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats August 2020

Till Wilhelm und Charlie Bendisch schauen den ganzen Tag Musikvideos, sammeln, sortieren aus und sprechen am Ende über die Videos von FKA twigs, Kali Uchis, Zugezogen Maskulin, Calman, Sevdaliza und Veedel Kaztro, die sie in diesem Monat für besonders interessant halten.

VISUALIZING AUGUST
Während die Leute in den Cafés und Parks versuchen, die letzten Tage des Sommers zu genießen, sitzen Charlie Bendisch und Till Wilhelm in Berlin und Frankfurt und halten sich zurück. Das geschieht mit gutem Grund: Den ganzen Tag über schauen sie Musikvideos, sammeln, sortieren aus und sprechen am Ende über sechs Veröffentlichungen, die sie in diesem Monat für besonders interessant halten. In dieser Ausgabe ist die Auswahl inhaltlich divers: FKA twigs fantasiert vom ersten Date, der Verletzlichkeit und dem Bedürfnis nach Nähe und berührt dabei die Welt. Sevdalizas wandelt dagegen in voller Einsamkeit durch die Welt. Kali Uchis und Rico Nasty ergreifen die Macht über ihre eigene Repräsentation, während Calman sich Gedanken über das eigene Künstlertum macht. Dazu kommt Veedel Kaztro, der aus der Abwärtsspirale der Wohnungslosigkeit berichtet und dieses Schicksal sichtbar macht, während Zugezogen Maskulin sich selbst fast unsichtbar machen durch die im Video geschaltete Werbung. Es ist der erste Monat seit ungefähr einem halben Jahr, in dem wir nicht über die andauernde Pandemie sprechen, aber sie ist irgendwie Teil der Normalität geworden, aus der in den Musikvideos aus dem August berichtet wird.

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  • Kali Uchis & Rico Nasty »Aquí Yo Mando« (R: Philippa Price)

    Till: Kali Uchis und Rico Nasty präsentieren sich hier zwischen Sugar Mommy und Female Entrepreneur. Im Text sind die beiden sehr dominant, bestimmend. Es wird die eigene Vorherrschaft bestätigt. Für mich geht das fast schon in die Richtung von Sex Work-Ästhetik, falls man das so nennen kann. Auch FKA twigs hatte vor kurzem ein Video, in dem sie als Camgirl zu sehen ist. Sich selbst zu filmen und das auf viele Bildschirme zu übertragen, das ist zurzeit eine recht populäre Form der finanziellen Selbstermächtigung. Andererseits musste ich an gewisse Abhängigkeitsverhältnisse denken, die fetischisiert werden, Stichwort: Zahlschwein.

    Charlie: Mit dem Zerschellen des Sparschweins wird das patriarchale Abhängigkeitsverhältnis durchbrochen. Es gibt in patriarchalen Gesellschaften eine Tradition der Sparsamkeit, Männer behalten ihren Familien das Geld vor, um sie an sich zu binden. Das Patriarchat wird hier aber auch mit schärferen Mitteln bekämpft. Wir sehen die Mann-Schwein-Hybridwesen geknebelt, ihre abgehackten Pfoten und ihr Blut in Reagenzgläsern. Mit der Ermordung und Verarbeitung der Mannsschweine knüpft das Video an die Figur der Lady-Killer an, die in Filmen wie »White Men Are Cracking Up«, »Kill Bill« oder aktuell »Promising Young Woman« ausgebreitet wird. Im Februar ist zu diesem Themenfeld ein ganzes Buch namens »Women Who Kill: Gender and Sexuality in Film and Series of the Post-Feminist Era« erschienen. Die Verwendung von Kameras ist natürlich auch interessant, da steht die Bestimmung der eigenen Repräsentation im Vordergrund. Der männlich konnotierte, kontrollierende Blick der Überwachungskameras wird durch die selbstbestimmten Camcorder-Bilder unterwandert. Die Regisseurin Philippa Price arbeitet sonst beispielsweise mit Rihanna und düsteren, dystopischen Settings. Das Spiel mit hybriden Körpern prägt durchaus ihre künstlerische Handschrift. Hier scheinen wir eine Welt zu sehen, die von Schweinen in Anzügen beherrscht wird, gegen die Kali und Rico aufbegehren.

    Till: Es gibt auch einige Filmreferenzen, beispielsweise zu »Men in Black«. Insgesamt ist das Video schon recht inspiriert von den Neunzigern. Das zeigt sich nicht nur in den Kameratexturen und der Verwendung älterer Technik, sondern auch in den Outfits. Ich muss da an TLC denken. Das geht in die Richtung des sogenannten »Glam Grunge«. Das ist recht neu für Kali Uchis, die ja sonst oft so verträumt-sommerlich auftritt. Und was in den Neunzigern Future war, ist heute Retro.

  • Veedel K. »Kollege« (R: Felix Schirmer)

    Till: Dieser Song und dieses Musikvideo ist im Kontext eines journalistischen Artikels entstanden. Julius Gabele und Cornelia Schimek haben für das »Katapult Magazin« eine Recherche über das Phänomen Working Homeless geschrieben, also über Menschen, die wohnungslos sind, aber trotzdem geregelt arbeiten. Dazu hat Veedel K. einen Song gemacht, der jetzt ein Musikvideo bekommen hat. Das ist spannend, weil ich sowas bisher noch nicht gesehen habe.

    Charlie: »Katapult« ist ja schon ein Nischenmagazin, der Song ist sicher auch dazu da, Aufmerksamkeit zu schaffen. Innerhalb des Videos geht es sehr viel um Sichtbarkeit. Die Jobs, die er in diesem Video ausübt und von denen er auch rappt, sind Arbeitsbereiche, die häufig verdeckt werden. Die Nutznießer*Innen sollen häufig gar nichts von der Arbeit mitbekommen. Genauso ist es eben bei diesen knapp zehn Prozent der Obdachlosen, die einer Arbeit nachgehen. Diese Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.

    Till: Das Video ist sehr narrativ, hat auch etwas Dokumentarisches, ohne dass es eine Dokumentation ist. Die filmische Verfahrensweise ist der von Dokus sehr ähnlich, auch wenn der Protagonist Veedel Kaztro nur in diese Rollen schlüpft. Wie »ZDF History«. Die Kamera beobachtet, auch der Zeitraffer ist typisch.

    Charlie: Das Breitbildformat, das hier verwendet wird, steht in Western-Filmen beispielsweise häufig für eine gewisse Weite, für Perspektiven und Möglichkeiten. Im Breitbildformat liegt dir die Welt zu Füßen, hier aber herrscht absolute Perspektivlosigkeit. Bezogen auf Rap kann man auch noch über den Hustler-Topos sprechen. Megaloh hat das vielleicht sogar recht ähnlich auf »Tripleschicht« und »Loser« verarbeitet.

    Till: Dass man hustlet, kommt ja fast überall vor. In Deutschland wird das aber meist zur Inszenierung des eigenen Werdegangs verwendet. Als Symbol für die steile Karriere, das ihr gleichzeitig als Begründung dienen soll. Wenige sprechen wirklich über die Qualen der täglichen Arbeit im Niedriglohnsektor, auch Drogen zu verkaufen, ist ja weit weniger spannend, als das ein Haftbefehl darstellt.

    Charlie: Und wer dann noch wohnungslos wird, rutscht in eine Abwärtsspirale, in der man sich plötzlich Gedanken machen muss, wo man heute Nacht schläft und wie man überhaupt Hygiene halten kann. Was wiederum dazu führen kann, dass man auch noch den Job verliert. Am Ende sehen wir noch das Haus des Projekts »Obdachlose Mit Zukunft« in Köln, das geräumt werden soll. Dabei steht ein Spendenaufruf, dem ihr folgen solltet.

  • Zugezogen Maskulin »Der Erfolg« (R: Martin Swarovski)

    Till: Im Vorfeld hatten Zugezogen Maskulin angekündigt, dass man sich jetzt einen Platz im neuen Video erkaufen kann. Da gab es dann eine Website mit verschiedenen Angeboten und Preiskategorien, bei denen wohl einige zugeschlagen haben. Somit ist dies ein Werbevideo. Schön finde ich auch, dass die Werbung nicht nur digital eingefügt wurde, sondern dass auch die Körper und Künstler selbst zur Werbefläche werden. Wenn man das Video startet, blendet YouTube automatisch ein kleines Banner mit der Aufschrift »Enthält bezahlte Werbung« ein. Das sieht man ja normalerweise eher, wenn Kay One eine Flasche Jägermeister säuft. Hier ist das ein schönes Detail, weil das Video ja aus nichts anderem als bezahlter Werbung besteht.

    Charlie: Es ist interessant, zu sehen, wer sich da so eingekauft hat. Das sind viele Privatpersonen, aber auch Firmen. Neben wirklicher Werbung sind da auch einfach spaßige Bilder, eine Albumankündigung von Audio88 & Yassin, aber eben auch politischer Aktivismus, unter anderem zum Gedächtnis an den Terroranschlag in Hanau.

    Till: Man kann sich da sehr in den Details verlieren. Was meiner Meinung nach übergreifend ist, ist diese Überfrachtung durch Werbung. Überall mit Werbung bombardiert zu werden, tötet auch den Kontext und den Sinn der einzelnen Anzeige. Der größere Kontext in diesem Fall ist die Überfrachtung selbst. Man darf bei aller kunst- und kulturtheoretischer Betrachtung übrigens nicht vergessen, dass da gerade Geld mit verdient wurde. Ziemlich gutes sogar. Darüber wird irgendwie selten gesprochen bei Moves dieser Art.

    Charlie: Es wäre mal spannend, zu sehen, wie sehr da ausgefiltert wurde. Durch die Länge des Videos ist man natürlich schon irgendwie begrenzt. Eine Betrachtung nach Maßstäben der Aufmerksamkeitsökonomie wäre sicher auch interessant, bei aller Unberechenbarkeit werden auch hier natürlich bewusste Montage-Entscheidungen getroffen. Außerdem hätte sowas ja auch von rechten Trollen übernommen werden können. Da stellt sich die Frage, wo man die Grenze beim Kontrollverlust über die Bilder zieht.

  • Sevdaliza »Habibi« (R: Anastasia Konovalova & Sevdaliza)

    Till: Dadurch, dass die Kamera so ruhig ist, auch durch Komposition und durch das Schwarz-Weiße, wirkt das sehr fotografisch.

    Charlie: Auch deswegen habe ich teilweise das Gefühl, das Video sieht sehr nach Werbekampagne aus.

    Till: Sevdaliza trägt hier auch ein ziemlich eindeutiges Prada-Outfit.

    Charlie: Alles ist hier sehr glatt, sehr starke Kontraste. Es geht viel um Formen, um Architektur. Das Gebäude erinnert an die Gebäude Luis Barragáns. Sehr Lichtdurchflutet und formalistisch, diese Formsprache findet sich im Video wieder und bildet ein surrealistisches Setting für Sevdalizas Emotionen. Aber wie du schon meintest, wird auch ein fotografisches Interesse deutlich, das ans »Neue Sehen« erinnert und ungewöhnliche Perspektiven zulässt. Die choreografierten Begegnungen erzählen von Verletzlichkeit und Nähe, und korrespondieren da sehr stark mit den Lyrics.

    Till: Das Video drückt für mich die Sehnsucht nach Zärtlichkeit aus. Es ist geprägt von Einsamkeit, einsames Durch-Die-Welt-Wandeln. Dabei trifft sie immer wieder Personen und Pärchen, denen sie gerne nahe wäre, es aber nicht ist. Bis diese ältere Frau sie auf die Stirn küsst und sie zu schweben beginnt.

    Charlie: Das ist sehr religiös aufgeladen. Der Abschiedskuss und das Aufsteigen in den Himmel. Zudem gibt es diese Wald-Ebene, die als seelischer Raum inszeniert wird. Das Erschießen des Hundes mit der zensierten Waffe spiegelt ziemlich dramatisch ihre Ängste und ihre Zerrissenheit. Der Hund hat eben auch etwas Ambivalentes an sich, zugleich treuer Begleiter und bellende Bedrohung.

    Till: No animals were harmed during the shooting of this film.

  • Calman »Kathodenstrahl« (R: Calman)

    Charlie: Das Intro ist witzig. Das ist super klischeehaft und anstrengend, aber als Persiflage sehr gelungen. Alles ist ein bisschen zu langsam, ein bisschen daneben, sehr überzeichnet. Dadurch macht das wiederum Spaß.

    Till: Vielleicht etwas zur Entstehung des Videos: Das hat circa zwei Jahre in Anspruch genommen. Die Wüste ist auf jeden Fall in Deutschland, die Effekte sind alle in mühsamer Kleinstarbeit selbstgemacht. Das ist schon alles sehr Low-Budget. Es ist kaum zu glauben, dass dieses Video fertig wurde, meint der Künstler. Dieses Outfit findet man übrigens auf dem Albumcover wieder. Alleine, das zu basteln, hat wohl um die 100 Stunden gedauert.

    Charlie: Das passt ganz gut, da Calman auch sehr Japan-beeinflusst ist.

    Till: Der Song dreht sich um Kunst und ihre Rezeption. Das ist ein sehr komplexer Sachverhalt, den er da erforscht. Den Track muss man wohl öfter hören, um sich da richtig reinzufuchsen. Diesen Sachverhalt hat er dann auf verschiedenen Ebenen veranschaulicht. Die Fernsehsendung quasi als Output, der sich aus dieser Figur in der Wüste speist. Der Content entsteht aus diesem schlammigen, giftigen Zeug. In dem Moment, in dem er sich den Schlauch vom Leib reißt, wird sein Körper sichtbar, damit auch der wahre Calman.

    Charlie: Mich erinnert das an Technikdystopien. Er stirbt dann ja auch, als er sich von dem Schlauch befreit. Irgendwie werde ich noch nicht so richtig schlau daraus, aber das gehört wohl dazu.

    Till: Das ist natürlich auch alles sehr sperrig. Das finde ich gerade gut.

    Charlie: Wohingegen die Bilder ja alle sehr schön und überhaupt nicht sperrig sind. Ich fasse zusammen: Er macht diese schreckliche Kunst, die aus ihm absorbiert wird, die aber in der Masse gut ankommt. Das zehrt ihm so viel Kraft, dass er sich nicht lösen kann und nicht seine wahre Kunst machen kann.

    Till: Das kann man als Vermutung so stehen lassen.

  • FKA twigs »sad day« (R: Hiro Murai)

    Till: Es ist irgendwo bezeichnend, dass der Song während den Credits noch weiterläuft.

    Charlie: Der Film steht für sich, bebildert nicht nur die Musik. Der Track setzt ja auch nur phasenweise ein.

    Till: Für mich ist das fast weniger ein Musikvideo und mehr eine wirkliche Kollaboration zwischen FKA twigs und Hiro Murai. Letzterer wurde ja vor allem durch seine Musikvideos für Childish Gambino bekannt, führte auch bei der Serie »Atlanta« Regie. FKA twigs hat natürlich den Song geliefert, von ihr stammt das krass Performative. Hiro Murai hingegen hinterlässt bei der Kameraarbeit seine Handschrift, auch das Setting im Imbiss ist irgendwie typisch. Das gab es auch schon in den Videos zu »Sober« und »Sweatpants« von Childish Gambino.

    Charlie: Wie bei »Sweatpants« scheint auch hier die Handlung eher im Traum stattzufinden, die anderen Menschen sind ja völlig unberührt von dem, was da passiert. Das Diner ist in seiner Schläfrigkeit, wo die Zeit sich so dahindehnt, häufig ein willkommenes Ausgangssetting für den Beginn von Actionreichen Dramen. FKA twigs hat diesen Kampfsport namens Wushu jahrelang gelernt, den sie im Video ausübt. In ihren Videos sind die Inszenierung ihres Körpers und das Exponieren ihrer Athletik häufig wichtige Elemente.

    Till: Im Video zu »Cellophane« macht sie Poledancing, was sie auch über Jahre hinweg geübt und perfektioniert hat, um es dann in einem Video unterzubringen. Man konnte das über Social Media sehr gut verfolgen. Für die Karriere ist das dann nur in einem Moment wichtig.

    Charlie: Das Video hätte man zu dem Song wahrscheinlich nicht erwartet, aber es verbindet sich mit dem Thema des Songs ziemlich gut. In der Szene vor dem Restaurant greifen sie sich ja auch kaum an, sie testen eher ihre Grenzen aus, es ist wie ein Flirt mit Schwertern. Da schwingt eine große Verletzlichkeit mit. Mich erinnert das krass an die Filme von Wong Kar-Wai, die auch immer von der Unmöglichkeit der Liebe erzählen und der sich mit »Ashes of Time« ja auch schon an das Genre des Wushu-Films gewagt hat.

    Till: Der Höhepunkt ist wohl die Szene, in der sie durchgeschnitten wird. Der Traumcharakter wird da unterstützt, indem ihr Inneres nicht aus Fleisch und Blut besteht. In der Szene kommt die Hand, die ihn ersticht, aus seinem Körper. Das passt inhaltlich ganz gut, diese Mischung aus Verletzlichkeit und dem Bedürfnis, sich auf jemanden einzulassen.

    Charlie: FKA twigs macht sich eine Fantasie vom ersten Date und die oszilliert zwischen einem aufregenden Begehren und der Angst, zerstört zu werden.