Visualizing Music – Die besten Musikvideos des Monats: April 2022

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im April mit Doechii, Eli Preiss und 070 Shake.

VISUALIZING APRIL22
Jeder Anfang hat ein Ende. Im Fall der Musikvideos aus dem April schließen diese unvermeidlichen Punkte allerdings einen Kreis. grim104 beschäftigt sich mit den Kontinuitäten des Nationalsozialismus und spult am Ende zurück, auf dass die Geschichte sich nicht wiederhole. Das neue TDE-Signing Doechii konfrontiert uns mit nackten Körpern, ohne zu sexualisieren, erschießt zu Beginn eine Unbeteiligte und am Ende sich selbst. Jockstrap, das Experimental Pop-Duo aus London, löst die über ihr Video hinweg aufgebaute Spannung mit einem wilden Bildersturm auf, der die vergangenen sechs mInuten Revue passieren lässt. Und Caterina Barbieri, italienische Ambient-Musikerin, führt mit jahrhundertealten Sedimenten in das Video zu »Broken Melody« ein, um ihre Darstellerinnen dann in Staub zerfallen zu lassen. In ferner Zukunft werden auch sie vielleicht zu Stein. Eli Preiss hingegen verlässt zum Ende von »Endboss« die zuvor liebevoll erbaute Welt in Retro-Game-Ästhetik, 070 Shake dagegen erzählt mit »Skin and Bones« eine recht lineare Geschichte. Am Ende des Videos nimmt sie die Maske, die ihr Gesicht ist, ab und begibt sich unter Pferde. Auch ein Neuanfang, irgendwie. Die YouTube-Playlist zur Kolumne findet ihr wie immer hier.

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  • grim104 »Komm Und Sieh« (R: Liam Tanzen & Laurin Schuh)

    Till: Das ist nun die zweite Single aus dem kommenden Album von Grim104. Schon recht selten, dass wir in zwei aufeinanderfolgenden Monaten den gleichen Künstler besprechen, aber hier lohnt es sich eben! An dem Video war Liam Tanzen beteiligt, den kenne ich von Instagram. Der macht schöne Illustrationen, organisiert ein Fanzine für deutschen Memphis-Rap und hat auch für grim104 schon vor einer Weile eine Graphic Novel-Adaption von »Crystal Meth in Brandenburg« umgesetzt. Die gab es dann auch im Online-Shop von Zugezogen Maskulin zu kaufen! Für dieses Zeichentrickvideo haben er und Laurien Schuh nach eigenen Angaben in sechs Wochen ungefähr 900 Tuschezeichnungen im DIN A2-Format angefertigt – Also nix mit CGI! Na gut, ein bisschen digitale Nachbearbeitung wird es gegeben haben. Obwohl das hier ganz anders daherkommt als »Numb«, fängt es trotzdem den gesamten Vibe von sommerlicher Melancholie ein, mit dem Grim104 sein Album beschreibt. Und dazu jetzt noch mehr Instagram-Knowledge: Das Lied war wohl lange in der Mache, denn es stellte sich die komplizierte Frage, wie man Badeurlaub in Brandenburg und NS-Verbrechen künstlerisch unter einen Hut kriegt.  Wenn das einer schafft, dann natürlich der Weirdo Rap-CEO Grim104. Falk Schacht kommentiert da, dass das Video »Take Me On«-Vibes hat. Ja, vielleicht ein bisschen.

    Charlie: Das Video hat etwas albtraumhaftes, das ergibt sich schon durch diese Spiegelung zwischen Kaffeetasse und rauschendem Ertrinken bei 02:30. Diese Motive kehren immer wieder. Er rappt auch vom »Land der gefrorenen Zehen und tätowierten Nummern«. Ich musste an den Dokumentarfilm »Kulenkampffs Schuhe« denken, von 2018. Titelgebend ist der deutsche Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff, der sich als Soldat im 2. Weltkrieg vier gefrorene Zehen amputiert hat. Seine schicken Lederschuhe werden als Symbol für die Wirtschaftswunderzeit verwendet, hinter der glänzenden Fassade stecken die Wunden der NS-Zeit. Man merkt bei »Komm Und Sieh« schon, dass es ein sehr verkopfter Song ist, an dem lange getüftelt wurde.

    Till: Total. Die Zeilen stecken natürlich auch voller Querverweise. Der sehr berühmte Comic »Maus«, Tupac, Selbstzitate, Grime-Rapper Meridian Dan, Drake und Asche. Die Sprache wiederum ist auch sehr deutsch, man denke nur an die Tradition von Wald und Wiese, Blut und Boden in der deutschnationalen Dichtung.

    Charlie: Das spielt im Video wiederum eine wichtige Rolle, grim104 rennt dort durch Wald und Wiese. Diese deutsche Landschaft ist der Ort, an dem Geschichte für ihn begreifbar wird.

    Till: Das ganze Video legt sich als Art Gedächtnisbild dar, ganz verschiedene Szenen, Erinnerungen und Medien werden auf drei Minuten verdichtet. Alleine schon durch diese fotoähnlichen Zeichnungen: BMW, Deutschland-Trikot, SS-Uniform, Gang- und KZ-Tattoos. Das baut eine Kontinuität auf, die in der realen Begegnung nicht unbedingt gegeben ist. Da geht es dem Song, der die kulturelle Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts umspannt, natürlich ganz ähnlich. Aber das Video baut nochmal ganz andere, ikonische Assoziationen ein.

    Charlie: Am Ende gibt es wiederum eine Zeitschleife, die das Video zurückspult. Das gibt diesen historischen Schleifen auch eine zirkuläre Form.

    Till: Was ich rein technisch noch spannend finde: Das Anfangsbild vom Ertrinken ist noch total abstrakt gehalten, diese Uneindeutigkeit ist das große Potenzial von Zeichentrickvideos. Später aber imitiert die Animation eine technische Medialität, es gibt Szenen, in denen die Perspektive als filmische Kamerafahrt umgesetzt wird, dabei gibt es ja gar keine Kamera. Im Rennen durch den Wald wird eine wacklige Handkamera impliziert. Und dann wird auch noch die Funktionsweise eines Dia-Projektors zeichnerisch appropriiert. Diese Intermedialität ist krass. Übrigens: Das ist doch Casper bei 01:29, oder?

    Charlie: Ja. Hart.

  • Caterina Barbieri »Broken Melody« (R: Iacopo Carapelli)

    Till: Super, bei 04:01 die Blumeninsel aus dem »Wolken«-Video von Casper und Haiyti. Aber diesmal ohne Casper-Part und auch schon verwelkt. Jetzt müsste das Ghostemane-Feature reinkommen.

    Charlie: Ja, stimmt. Caterina Barbieri ist Italienerin, lebt in Mailand. Demnächst veröffentlicht sie ihr neues Album, sie macht elektronische Musik, hat aber in Bologna klassische Gitarre studiert. Auf den Liedtext habe ich gar nicht geachtet, aber diese Felsformationen haben mich begeistert. Die Sedimente, in die man hineinschauen kann, stehen im Vordergrund, die Menschen gehen erstmal bisschen unter. Dann wird eine Höhle gefunden, in der ein paar Menschen aufeinandertreffen. Anfangs sieht man noch einen Teil der Außenwelt, monotone Bewegungen der Maschinen als hinterbliebene Bewegung, sie hängt regungslos an der Kante eines Abgrunds .

    Till: Im Hintergrund sieht man noch Baustelle, arbeitende Männer in orangenen Jacken, die hängen auch im Baum. Alice im Wunderland mit einem wahnsinnig großen Loch.

    Charlie: Später kriegt die Atmosphäre mit dem Rauch einen barocken Touch.

    Till: Die Protagonistin wirft einen Stein ins Wasser, das ist toll, das mag ich. Plötzlich beginnen die Menschen, zu schweben. Begleitet wird das natürlich von den transzendenten Synthies und Gesängen des Liedes.

    Charlie: Da muss sie wohl etwas aus dem Gefüge gebracht haben. Alle werden selbst zu Gestein, zu Rauch. Auch wie diese Haut, von der Dunkelheit verschlungen, langsam enthüllt wird, sieht total schön aus.

    Till: Ich dachte tatsächlich kurz, die Reflektion ist ein Lichtermeer auf einem dunklen Ozean. Kurz darauf habe ich natürlich verstanden, dass wir es mit einem Gesicht zu tun haben. Es gibt viel Staub, Gestein und Rauch, aber auch viel Feuchtigkeit in diesem Video.

    Charlie: Ein Spiel mit Texturen.

    Till: Eine Schwerelosigkeit, die nicht immer gut tut. Und immer wieder geht es um’s Aufrichten und die Unfähigkeit, sich aufzurichten. (gähnt mehrmals) Sorry. Das Faszinosum sind natürlich die Steinformationen. Das Video ist wohl Teil einer ganzen audiovisuellen Installation, die in einer Sammelausstellung in London präsentiert wird. Mir ist’s ein bisschen zu Lars von Trier-mäßig, aber ich check schon auch den Reiz. Ist halt kein Hip Hop.

  • Eli Preiss »Endboss« (R: Adriana Juric, Eli Preiss & Viktoria Zoe)

    Till: Das Video findet komplett in einer digitalen Retroästhetik statt, die wir beispielsweise schon im Zusammenhang mit Kali Uchis und Rico Nasty besprochen haben. Das erwähnen wir auch wirklich jeden zweiten Monat. Die akrobatischen Kampfszenen, die Eli Preiss als Protagonistin selbst ausführt, erinnern dagegen beinahe etwas an FKA twigs. Die Wiener Rapperin hatte 2021 schon relativ viel Aufmerksamkeit als heißer Tipp bekommen, jetzt veröffentlicht sie im Juni ihr Debütalbum. Das ist nun die dritte Singles, die beiden vorangegangenen Videos kamen auch mit viel Neunziger-Retro-Vibes daher, »Glühheisse Wüste« war natürlich sogar nach der Mario Kart-Strecke benannt. Das Video zu »Endboss« hüllt sich komplett in Videospiel-Ästhetik, aber es gibt eigentlich nur eine ganze kleine Animationsszene, bei 00:35. Ansonsten ist das ja tatsächlich gefilmt und dann im Nachhinein so bearbeitet, dass es nach Videospiel aussieht. Finde ich toll.

    Charlie: Dieser UK-Garage-inspirierte Beat in Verbindung mit den vernuschelnden, melodischen Rapgesang erinnert ein bisschen an PinkPantheress oder an manche IAMDDB-Tracks und liefert natürlich die perfekte Energie für den Bewegungsmodus der Figuren im Video.

    Till: Genau, durch die Bewegungen, Kamerafahrten, auch durch die dunstigen Neonlichter wirkt das alles total artifiziell. Aber ich glaube schon, dass das on scene gedreht wurde. Und dann natürlich mit Spielen wie Street Fighter oder GTA als Inspiration. Da hatte die Postproduktion viel zu tun. Das Video erzählt eigentlich nur die Geschichte von Eli und ihrem Boo, die sich bei Nacht begegnen und sich gegen verschiedene Feinde zur Wehr setzen müssen. Doch im Liebesspiel ist er der Endboss.

    Charlie: Wie das Nitro hinten aus dem Motorrad kommt erinnert an irgendwas zwischen Mario Kart und Need for Speed.

    Till: Auch an der Tankstelle sieht es nach einer GTA-Zwischenszene aus. Wie sie dann merkt, dass da draußen eine Bedrohung lauert.

    Charlie: Die Masken bei 02:14 sind natürlich auch witzig, die provisorischen Schweinenasen.

    Till: Die Outfits sind ebenso toll, man merkt richtig, wie viel Liebe zum Detail da reingesteckt wurde. Später kommt die zweite Ebene, man merkt, dass sie das tatsächlich spielt, dieses Spiel der Liebe. Eine Interpretation wäre, dass sich das ganze erstmal bloß in ihrer Fantasie abspielt. Er erscheint dann plötzlich auf der Ebene darüber. Dort haben sie Sex und sind kurz davor, zu kämpfen, bevor sie ihm das Liebesschloss aufschließt und abnimmt, den Schlüssel zum Herz. Neues Level freigespielt.

    Charlie: Da hört dann auch die ganze Spielwelt ein wenig auf. In dem Video gibt es viele Retro-Motive, die sowieso gerade ästhetisch im Umlauf sind. Sowohl die Schriften als auch die Videogame-Ästhetik, das dunstige Licht ebenso. Dass sie ihn verteidigt, macht nochmal sehr deutlich, dass dieses Video auch feministisch angehaucht ist. Auch später, dass die bedrohende Gang »Cat Call Crew« genannt wird und er sie oral befriedigt.

    Till: Man merkt auch in anderen Songs, dass ihr diese Haltung wichtig ist, ob implizit oder explizit. In »Glühheisse Wüste« handelt auch der Text ganz zentral von feministischer Solidarität, sie stellt sich gegen die Ellenbogenmentalität unter Frauen in der Szene.

  • Doechii »Crazy« (R: C Prinz)

    Charlie: Witzig, diese beiden Videos jetzt nacheinander zu besprechen. Auch Doechii setzt teilweise eine Videogame-Ästhetik um, am Anfang vor allem mit dieser Egoshooter-Perspektive. Aber es sieht auch fast nach Modeschau aus.

    Till: Funny, dass du das bei einem Video sagst, in dem alle nackt sind.

    Charlie: Klar, aber mir geht es um die Choreographie. In dem Video sind nur Frauen zu sehen, Doechii ist das neue weibliche TDE-Signing nach SZA.

    Till: SZA ist natürlich sehr soft und romantisch, Doechii auf keinen Fall. Die Regisseurin Sara C Prinz hat zu diesem Video gesagt: »It’s a piece that challenges the viewer to look at stigmatized imagery and asks them to see […] the female form not in moments of sexuality but in moments of truth, intensity and power; […]« Also, nackte Frauen ja, aber ohne sexualisierende Darstellungen. Das passt natürlich zu dem Song, mit dem Doechii uns zwingen will, ihre Crazyness anzuerkennen. Neben der tänzerischen Choreographie werden hier Stress, Wut, Gewalt dargestellt. Echtes Leben also.

    Charlie: Die Nacktheit wird nicht als Sex Sells-Moment eingesetzt, hier gibt es keine Sanftheit.

    Till: Es gibt auch bloß wenige Einstellungen, in denen die Nacktheit ein tatsächlicher Faktor für das intradiegetische Geschehen darstellt. Bei 01:51 sitzt Doechii etwa auf einem Stuhl, spreizt dann die Beine und verdeckt mit den Händen ihren Intimbereich. Ansonsten verweisen die Handlungen fast nie auf all das, was mit Nacktheit für gewöhnlich verbunden wird: Scham, Erotik, Verletzlichkeit.

    Charlie: Die Körper spielen natürlich eine Rolle, aber es gibt auch keine Close-Ups. Der Körper wird nicht in Szene gesetzt und auch visuell nicht ausgeschöpft. Tatsächlich führt die Totale auch dazu, keine abgegrenzten Körperteile als besonders bemerkenswert herauszustellen. Die Körper dürfen hier als Ganzes existieren, nicht als fetischisierte Stücke. Dann geht es eher darum, was mit dieser Gruppe im Kollektiv passiert.

    Till: Was passiert denn mit dieser Gruppe im Kollektiv?

    Charlie: Im Grunde ist sie der Leader, eigentlich wird nur zerstört.

    Till: Das nimmt aber ja eine Entwicklung. Am Anfang tritt die Gruppe in der Choreographie geschlossen auf, in der Mitte mit der Zigarettenszene noch mehr. Und dann zerfällt die Organisation, die Zerstörungswut läuft etwas aus dem Ruder. Manche der Darstellerinnen machen mit der Destruktion dann weiter, manche verfallen in Panik und wieder andere tanzen einfach.

    Charlie: Ja, das Simultane geht verloren. Die Choreographien erinnern mich ganz krass an Performances von Vanessa Beecroft, die auch mal für Kanye eine Fashion-Show choreografiert hat. Sie hat auch immer diese industriellen Hallen mit großen Gruppen nackter Frauen, die Farben auch ganz ähnlich und spielt mit diesem Spannungsfeld zwischen Distanzierung, Kollektiver Aura und Voyeurismus

    Till: Das Krokodil ist so geil. Ach ja, vielleicht lehne ich mich da jetzt etwas aus dem Fenster, aber: Die Entsexualisierung findet ja nicht bloß durch die Performance statt, sondern gewissermaßen auch durch Youtubes Jugendschutz-Maßnahmen. Die Intimbereiche und Brustwarzen der Frauen sind zensiert, aber nicht etwa verpixelt, sondern verschwommen ausradiert. Die Haare sind teilweise über den ganzen Körper zu Skulpturen geformt, dann gibt es noch die Einstellungen, in denen Doechii in Unterwäsche mit vielen Waffen ausgestattet ist. All das erweckt ein Cyborg-Feeling. Und der Cyborg ist ja in der postmodernen Feminismustheorie seit Donna Haraway durchaus eine zentrale Figur.

    Charlie: Das Ende ist natürlich so ein bisschen… Naja. Es ist eine Wiederholung des Anfangs, aber jetzt erschießt sie sich selbst. Deep. Das Video zur Single davor war auf jeden Fall entspannter.

  • 070 Shake »Skin and Bones« (R: Noah Lee)

    Charlie: Das Video fängt mit diesem tollen Gemälde an.

    Till: Wieso eigentlich?

    Charlie: Ich weiß es nicht. Da stehen schon all die Leute, die später beim Dreh sind, die warten auf ihren Einsatz. Das fand ich eigentlich spannend: Die Darsteller werden zu Beginn an den Nebenschauplätzen eines Drehs gezeigt. »Skin and Bones« verweist ja auf die purste Form des Körpers, dann geht’s im Video um das ganze Brimborium außenrum, um all die Inszenierungswelten. Ich finde ganz toll, wie bei 01:05 das Licht wechselt.

    Till: Das erinnert an eine Liveshow, bei der sich das Set verändert. Wie dann auch ein paar Leute zielstrebig über die Bühne laufen, um Gegenstände einzusammeln. Der Song handelt von einer Beziehung, die viel im Leben von 070 Shake verändert hat. Sie wurde als mehr als nur Knochen und Haut behandelt und erinnert sich im Guten an diese Zeit, die schon so halb in der Vergangenheit liegt, aber auch aktualisiert wird: »Life will take its toll / But whichever way we go / Know I’m right here by your side, shawty«.

    Charlie: Im Grunde sieht man nicht immer, was eigentlich gedreht werden soll, die Darsteller wirken wie wartende Statisten.

    Till: Meinst du? Ich dachte eher, diese Zweierkonstellationen stellen tatsächlich den Fokus des Videos dar. Das sind ja ganz diverse Paare, deren Beziehung sich verändert. Das, was du als Warten empfindest, sehe ich als unangenehmes Beieinandersein, in dem man sich nichts mehr zu sagen hat. Das erzeugt eine Suspense, als würde man darauf warten, das endlich etwas passiert: Entweder ein neues Aufflammen der Liebe oder den großen Untergang. Später im Video kommt dann ja tatsächlich der Sturm, zuerst wird der ignoriert und bald darauf löst sich die Spannung in Wolkenbruch und wildem Techtelmechtel auf. Die Nebendarsteller sind ja durchaus schon in ihren merkwürdigen Rollen, Stripperin und Stripclub-Besucher, das frisch verheiratete Pärchen. Die schauen sich ja nicht mal an. Wären das wartende Statisten, wäre die Stimmung doch etwas gelöster.

    Charlie: Ja, true. Das ist plausibel. Vorher sehen wir noch Filmszenen und Figuren, die man entweder kennt oder die einfach durch ihre häufige Präsenz in der Popkultur vertraut wirken. Marilyn Monroe, Donnie Darko. Ein kleiner Streifzug durch die Filmgeschichte.

    Till: Das Filmische, das du beschreibst, fällt dann etwa nochmal auf, wenn 070 Shake im künstlichen Regen am offensichtlichen Filmset steht. Da wird ihre Liebesgeschichte schön künstlich überdramatisiert. Auch das Pärchen bei 01:25 im Backstage vom Stripclub ist interessant, weil es natürlich überhaupt nicht in die Szenerie passt. Das Pärchen im Besucherbereich des Clubs wiederum gehört genau dahin.

    Charlie: Dann gibt es diesen Schlüsselmoment, wo 070 Shake sich ihrer Rüstung und dann ihrer Maske entledigt. Das symbolisiert sicherlich die Verletzlichkeit, die mit diesem Lied insgesamt heraufbeschworen wird.

    Till: Von »Skin and Bones« sind dann nur noch Bones übrig, oder? Sie scheint zumindest eine Verwandlung durchzumachen. Sieht ein wenig aus wie Kanyes Balenciaga-Phase.

    Charlie: Oder ein Neoprenanzug.

    Till: Oder Venom.

  • Jockstrap »Concrete Over Water« (R: Eddie Whelan & Jockstrap)

    Charlie: Am Ende sind es nur noch Lichtsplitter. Und darin die Credits, das ist schön!

    Till: Schau mal, diesmal kommt das längste, auch weirdeste Video der Ausgabe sogar von mir. Und ist kein Hip Hop!

    Charlie: Ja, gefällt mir auch gut.

    Till: Jockstrap ist ein Experimental Pop-Duo aus London. Die beiden haben sich im Studium kennengelernt, sie studiert Jazz, er Electronic Music. Georgia Ellery ist auch Teil der Band Black Country, New Road, die schon in kurzer Zeit etwas mehr Bekanntheit erlangt haben. Taylor Skye, den wir hier in roter Schminke sehen, ist auch Solo-Künstler und hat schon Remixe für beispielsweise Injury Reserve gemacht. Auf der zweiten EP von Jockstrap, »Wicked City«, ist das US-Trio auch gefeaturet. Damals natürlich noch mit dem mittlerweile verstorbenen Stepa J. Groggs. Gleich mehrere Songs von Jockstrap sind bereits in Werbungen von Luxusmarken gelandet. Das kann ich aber leider nicht verlinken, weil es unmöglich ist, den Bandnamen zielführend zu googlen. »Concrete Over Water« ist wohl die erste Single zum Debütalbum.

    Charlie: Das Video wird eingeführt mit Georgia als Magierin.

    Till: Etwas clownig sieht sie aus.

    Charlie: Sie tritt auch noch in einer anderen Rolle auf, mit übergroßer Lederjacke und dieser Pilotenhaube. Was ich toll finde, sind all diese filmischen Techniken, die Überblendungen und spielerischen Montagen, mit Blicken wird besonders viel gearbeitet. In der ersten Hälfte wird eine große Erwartungshaltung dadurch generiert, dass sie immer erstaunt guckt.

    Till: Es wird immer wieder explizit in die Kamera geschaut – und dann auch immer wieder deutlich nicht.

    Charlie: Genau, aber auch Tempo und Kamerafahrten spielen da eine Rolle. Auch Spielereien mit dem Licht.

    Till: Da kommt Licht auch ins Spiel mit verschiedenen Texturen, ganz deutlich natürlich bei 03:30, der Kopf, der durch den Nebel steigt. Und viel Licht, das irgendwie gestoppt oder verhindert wird, etwa ab 02:57.

    Charlie: Es gibt auch einen Künstler, Anthony MacCall, der ganz toll mit Licht und Dampf arbeitet, der damit Lichtskulpturen formt. Viele schöne Elemente wurden in diesem Video verarbeitet.

    Till: Der Liedtext ist natürlich bei ihr immer sehr poetisch, häufig etwas fiebrig. Dazu passt natürlich dieses verträumte Video voller uneindeutiger Symbolik. Es hat natürlich etwas sehr Traumhaftes, das sich in Rhythmik und Dynamik mit der Musik synchronisiert. Das ist meiner Ansicht nach tatsächlich der bisher poppigste Song des Duos – und das will dann auch was heißen.

    Charlie: Im Video gibt es immer wieder surrealistische Irritationen, etwa der Schmetterling bei 04:28. Sie schaut erstaunt. Der ist offensichtlich mit Bedeutung aufgeladen, sie erschließt sich bloß nicht so simpel.

    Till: Ich mag dieses Sonnensystem-Mobile sehr gerne, dass man sie einmal klein auf dem Planeten sieht, dann wieder groß daneben. Insgesamt hat das Video eine starke Varieté-Charakteristik. Ein bisschen surrealistisches Vaudeville, in dem Sinne, dass hier im Scheinwerferlicht verschiedene Illusionen und Kunststücke vorgeführt werden. Das betrifft alleine schon die Kostüme und die Darstellung in diesem hängenden Sessel, aber auch all die Installationen.

    Charlie: Er ist ein bisschen Mephisto-mäßig geschminkt. Mit der Schminke und der überzogenen Mimik erinnert das Video natürlich an die Stummfilm-Ära.

    Till: Genau, dazu kommt in den Liedtexten, auch auf ihrer letzten EP, eine Art Romantisierung des Urbanen, das ja in den 1920ern kulturell recht ausgeprägt war. Kult der Zerstreuung, Lichtspielhäuser, Flaneursroman.

    Charlie: Am Ende wird all das Material, das man gesammelt hat, noch einmal wild und schnell in einen Bilderstrudel geworfen. Bei grim104 wurde zurückgespult, hier nochmal der Schnelldurchlauf. Es ist natürlich eine einfache Methode, um die Spannung aufzulösen, aber ich finde es bei beiden Videos hier ganz schön.