Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats April 2020

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Valentin Hansen monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird.

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Der Frühling ist da, die Sonne ist da, die Blüten blühen und die Wälder sprießen. Und wir, Till und Valentin, sitzen weiterhin zuhause. Zum Glück ist das Internet zur Stelle, um uns zu unterhalten und uns neue Denkanstöße zu geben. Das Internet hilft beispielsweise Charli XCX, ein Musikvideo von zuhause aus zu drehen. Oder es hilft A$AP Ferg, all die Erinnerungen aufzubewahren, die ihren Weg in die Visuals zu »Value« finden. Außerdem sprechen Till Wilhelm und Valentin Hansen diesen Monat über Filmreferenzen bei Gianni Suave, die Auflösung binärer Systeme durch Arca und das laut letzterem wahrscheinlich beste Musikvideo des Jahres (bis jetzt): Jojis »Gimme Love«. Wir hoffen, es geht euch gut. Liebe Grüße, eure Video-AG.

Die offizielle YouTube-Playlist zur Kolumne gibt es hier.

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  • Gianni Suave »2Dope« (R: Claudio Strapinsky)

    Valentin: Sehr nice. Sieht sehr gut aus, geiler Song. Besonders der Beat-Switch gefällt mir.

    Till: Die Stelle ist auch sehr gut umgesetzt im Video. Im ersten Teil dominieren Slow Motion-Aufnahmen, beim Switch nimmt die Geschwindigkeit der Schnitte und Aufnahmen selbst zu.

    Valentin: Auch die Ebene mit den Fotos kommt an der Stelle noch dazu.

    Till: Der Song bezieht sich ja in großen Teilen auf den Film Lucky Number Slevin, speziell auf eine Sequenz, in der es um ein gedoptes Pferd geht, auf das alle setzen. Dieses Pferd fällt dann kurz vorm Ziel, während ein anderes gewinnt. Gianni Suave sagt eben, dass seine Crew das Pferd ist, das am Ende gewinnt, weil ihr Lauf organisch ist. Daher kommt dann auch das ganze Motiv des Videos mit der Pferderennbahn.

    Valentin: Diese ganze Polo-Optik kommt auch einfach sehr cool rüber.

    Till: Pferde erfreuen sich auch seit einiger Zeit einer großen Beliebtheit im Deutschrap-Kosmos. Mir fallen Döll, Jugo Ürdens und Motrip & Ali As auf Anhieb ein.

    Valentin: Das ist natürlich auch ein sehr majestätisches Tier, das relativ leicht zu organisieren ist. Was hat Gianni Suave jetzt veröffentlicht?

    Till: Seine zweite EP, die heißt »Dope«. Ein paar roughe Rap-Tracks ohne Hooks, dafür mit sehr geilen Beats, alles auch co-produced von Funkvater Frank. Das Interview zum Tape gibt’s übrigens bei ALL GOOD.

  • Joji »Gimme Love« (R: George Miller & Andrew Donoho)

    Valentin: Das ist meiner Meinung nach das wahrscheinlich beste Musikvideo des Jahres bisher. Ich schaue es mir jetzt auch schon zum mindestens 14. Mal an.

    Till: Dann bin ich jetzt noch gespannter, was du zu sagen hast. Ich find das beim ersten Mal nämlich gar nicht so krass.

    Valentin: Zuerst dachte ich auch, das wäre ein Corona-Type-Video und die haben einfach altes Footage ausgegraben. Aber die Story, die sich da entwickelt, ist so absurd. In eineinhalb Minuten werden Jahre erzählt. Wie er lernt, sich auch äußerlich entwickelt und dann eben am Ende ausgebildeter Astronaut ist. Man lernt total viel über diese Figur.

    Till: Im ersten Teil fühlt es sich auch bisschen wie ein Zusammenschnitt von irgendeiner Sitcom an, so »The Office«-mäßig.

    Valentin: Das kommt ja auch vom Character-Building. Weil er eben so ein cholerischer Typ ist und über Leichen geht. Und das läuft alles auf diesen einen Moment hin, in dem er alleine in die Rakete steigt und wegfliegt. Für nichts und wieder nichts. Alles nur fürs Drama. Die Detailverliebtheit des Videos hat mich am meisten geflasht.

    Till: Das Video stammt ja auch aus der Feder zweier unterschiedlicher Regisseure, zweier komplett unterschiedlicher Teams. Das muss so aufwändig gewesen sein.

    Valentin: Man merkt, dass sie sich für den ersten Teil mehrere Monate Zeit genommen haben. Sonst kann man diese Entwicklung gar nicht auf die Art darstellen. Das sind auch bestimmt hunderte Einstellungen, die alle arrangiert werden müssen. Das ist so viel Arbeit.

    Till: Viel Geld und Planung steckt da drin. Durch die schnellen Schnitte wirkt dieser erste Teil auch viel länger als er ist. Der Track selbst ist super eingängig. Das wirkt wie ein Theme-Song zu den Bildern, die wir da sehen.

  • A$AP Ferg »Value« (R: Hidji/AWGE)

    Valentin: Ich mag es ganz gerne, wenn so viele Effekte vermischt werden. In dem Fall wurden keine großen Drehs veranstaltet, sondern hauptsächlich schon vorhandenes Material benutzt.

    Till: Abgesehen von der Performance-Szene haben wir hauptsächlich alte Handyvideos und Fotos von Ferg. Dieses Material sinnvoll zusammenzufügen, ist auch eine starke Arbeit.

    Valentin: Das Video ist auch spannend, weil das nächste Bild, die nächste Szene einen immer überrascht.

    Till: Inhaltlich ist das ja auch interessant. Der Song ist schon im Januar erschienen und erzählt diese klassische »Started From The Bottom«-Geschichte. Durch das Intro des Videos wird das nochmal verstärkt, da spricht Fergs Großmutter von der Familiengeschichte, von Sklaverei und Diskriminierung. Dann kommt der Song, in dem Ferg mit all dem flext, was er erreicht hat. Das Video hingegen ist auch ein Kommentar auf die aktuelle Situation. Am Anfang sehen wir diese Aufnahmen aus den leeren Straßen New Yorks, in der Mitte gibt es ein gesprochenes Skit. Der inhaltliche Bogen ist sehr weit gespannt, aber irgendwie werden diese Themen ganz gut miteinander verwoben.

    Valentin: Er sagt ja: »You’re just like me. I’m just like you«. Darüber kommt diese Verbindung wahrscheinlich am ehesten.

    Till: Es ist halt die Frage, inwiefern das zutrifft. Ärmere sind stärker betroffen als Reiche, BPoC sind stärker betroffen als weiße Personen. Der Approach ist interessant, aber stellenweise fragwürdig.

    Valentin: Hin oder her, das Video ist sehr unterhaltsam. Und fügt diese Stränge sehr gut zusammen.

  • Arca »Non-Binary« (R: Frederik Heyman)

    Till: Wenn man Arca nicht kennt, ist das bestimmt etwas verwirrend.

    Valentin: Aber für Arca eigentlich sehr im Rahmen. Die 3D-Art ist extrem cool. Da gibt es im Internet eine richtige Szene für. Ich bin großer Fan von diesem Hyperfuturismus.

    Till: Der Regisseur dieses Musikvideos hat auch das Lady-Gaga-Cover beim »Paper Magazin« zu verantworten, das vor ein paar Wochen viral ging. Das ist ja auch stilistisch sehr ähnlich.

    Valentin: Arca und er haben auch schon öfter zusammengearbeitet.

    Till: Im Video zu »Non-Binary« geht es meiner Ansicht nach um die Auflösung dualer Systeme. In der Bildsprache kommen hier immer wieder scheinbare Gegensätze vor: Die Schere und der Leib, Technik und Natur, sogar die Groß- und Kleinbuchstaben. Das sind alles Binaritäten, die aber in diesem Musikvideo zusammengeführt und damit aufgelöst werden.

    Valentin: Das ist auf jeden Fall eine sehr krasse Verbildlichung von Arcas inneren Kämpfen. Dieses Bild von Technik und Natur kommt hier auch nicht zum ersten Mal vor, im Februar kam auch schon das »@@@@@«-Set raus, da gibt es einen recht ähnlichen Visualizer.

    Till: Diese krasse Symbolik im Video ist auch sehr cool. Da kann man ja alles Mögliche dechiffrieren, wenn man das will. Und gerade durch die ungewöhnliche Kombination all dieser Symbole, man nehme nur die Auster und die Roboterarme, brechen diese aus ihrem gewohnte Umfeld aus und werden abstrakt. Wie eben auch die Musik selbst abstrakt ist und irgendwie auf einer Metaebene stattfindet.

  • Charli XCX »claws« (R: Charlotte Rutherford)

    Valentin: Das ist tatsächlich ein ähnlicher Style, aber auch ganz anders. Natürlich auch ein bisschen trashig.

    Till: Ja, aber auch einfach ein gutes Video, dass die Möglichkeiten der aktuellen Situation nutzt. Charli XCX hat ja auch ein Quarantäne-Album angekündigt, deswegen ist es nur logisch, dass auch die Musikvideos entsprechend produziert werden.

    Valentin: Sie hat auf jeden Fall sehr schnell verstanden, dass das alles noch ein bisschen länger dauern wird.

    Till: Auch spannend: Dylan Brady von 100gecs hat den Song produziert. Das funktioniert meiner Meinung sehr gut. Das Video ist sehr low budget, aber schöpft trotzdem extrem viele Möglichkeiten aus.

    Valentin: Das Video zeigt, dass Charli XCX auf jeden Fall genug Geschmack und Style hat. Die Farbigkeit gefällt mir gut.

    Till: Die 3D-Art, die hier eher lowkey ist, wird auch sehr gut eingesetzt. Sie verbindet sich immer wieder mit dem Körper und grenzt sich dann wieder ab, die Grenze zwischen Realität und Editing wird immer wieder aufgehoben.

    Valentin: Das passiert zum Beispiel, wenn die Schlange aus ihrem Mund kommt oder ihr abgetrennter Kopf auf der Säule liegt.

    Till: Ich sehe auch gerade, dass die Kussszene am Ende von Camila Cabello und Shawn Mendes inspiriert ist. Wo sie sich küssen wie so Fische. Iconic.