Die besten Musikvideos des Monats: Januar/Februar 2022
An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Charlie Bendisch monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird. Im Januar und Februar mit Rosalía, Toro y Moi und Pusha T.
Die Playlist zur Kolumne findet ihr hier.
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Rosaliá »Saoko« (R: Valentin Petit)
Till: Kurzer Einwurf zum Anfang: Die größte Unart der digitalen Musikvideodistribution ist, dass die Empfehlungen schon zehn Sekunden vor Ablauf des YouTube-Videos eingeblendet werden. Da passiert noch was und ich will es sehen! Was bedeutet denn eigentlich »Saoko«?
Charlie: Erstmal ist interessant, dass »Saoko, papí, saoko« eine Referenz an einen Song von Daddy Yankee und Wisin ist. Eine Verbeugung vor dem Genre Reggaeton, dem sie sich nun mehr zuneigt. »Saoko« wird ungefähr übersetzt als Bewegung, Style, gute Vibes. Eine direkte Entsprechung gibt es nicht. Sie verbindet Jazz-Elemente mit diesem puertoricanischen Einfluss, allerdings hauptsächlich in der Bridge. Die Spontaneität dieser wilden Drums versucht Valentin Petit in der Montage resonieren zu lassen. Der Regisseur hat zuletzt für ein Video von A$AP Ferg ähnlich akrobatische Kamerafahrten orchestriert.
Till: Dann geht es im Lied um Transformationen, der Schmetterling ist sogar Symbol ihres kommenden Albums. Dazu zählt einerseits die Transformation von Jazz und Reggaeton, andererseits werden lyrisch große Bilder gezeichnet: Drag Queens, trojanische Pferde und auch der Wechsel von Tag und Nacht, den wir wiederum als einzige große Transformation im Video zu sehen bekommen. Für Rosalía ist die Wandlung dabei immanent, nicht aus der eigenen Identität wegzudenken: »Yo soy muy mía, yo me transformo«. Würdest du sagen, das Video ist queer-coded?
Charlie: Sie bemüht auf jeden Fall zunehmend queere Entwürfe, auch im Video zu »Chicken Teriyaki« und mit Arca ist sie ja auch befreundet, zusammen haben sie den ziemlich tollen Song »KLK« gemacht. Queere Musikkultur scheint sie zu inspirieren, aber trotzdem fällt es mir schwer, im Video eine Queerness auszumachen. Im Motiv der Transformation, klar, aber das ist zu beliebig. Wenn dann wie bei 01:12 die Hintern so prominent in Szene gesetzt werden, kann man schon eher über eine Performance für den Male Gaze sprechen, auch wenn diese heteronormative Konstellation im gleichen Atemzug kommentiert und annulliert werden soll.
Till: Ja, es ist ein zweischneidiges Schwert. Männer sind in diesem Video beinahe komplett abwesend, bloß am Anfang wird einer überrumpelt, der aussieht wie ein Typ, in den sich Tyler, The Creator verlieben würde. Dann eignen sich die Darstellerinnen als Motorradgang natürlich ein männlich konnotiertes Feld an, auf dem sie sehr glänzen. Aber leicht bekleidete Frauen auf Motorrädern, das kann auch als Reproduktion dieses Pin-Up-Girl-Sexismus gelesen werden. Harley Quinn ist da natürlich das perfekte Beispiel: Queere Ikone, verehrt von Incels. Nochmal was anderes: Gerade am Anfang gibt es viele Einstellungen, die mit so einer Kran-Kamera gedreht wurden. Kendrick hatte das ja mit »Humble« gewissermaßen populär gemacht.
Charlie: Stimmt. Mir gefällt der Übergang zwischen Tag und Nacht bei 01:32, wenn unser Blick in den Helm hineingezogen wird.
Till: Kurz danach dreht der Song so ein wenig auf. Nicht nur der Schnitt synchronisiert sich immer wieder sowohl mit der Stimme Rosalías wie auch mit den gechoppten Backgroundvocals, auch im Bild wird es komplex, wenn wir ihre Aussprache der gechoppten Vocals sehen und kurz darauf wieder, wie sie die Mainspur singt. Das fand ich einfach technisch sehr anspruchsvoll und sauber.
Charlie: Was das Video auch besonders macht, ist, dass die Kamera immer wieder die Perspektive von Objekten einnimmt. Gleich am Anfang entsteigt die Kamera dem Benzintank, direkt darauf dreht sie sich mit dem Deckenventilator, bei 01:11 fährt sie durch die Innereien des Motorrads, bevor sie die bereits angesprochene Booty-Perspektive des Rücksitzes annimmt. Der besungene transformative Charakter findet darin eine filmische Übersetzung.
Till: Eine Transformation, die wahrscheinlich ausschließlich in meinem Hirn stattfand: Mein allererster Eindruck von »Saoko« war, dass dieser verzerrte und heranrollende Bass auch einfach exakt klingt, als würden 50 Motorräder auf ihrem Sommerausflug durch meine beschaulich-ländliche Ortschaft brettern, um im einzigen Café des Dorfes bei Einbruch der Nacht alles kurz und klein zu schlagen. Diese Assoziation war also für mich schon da, bevor ich überhaupt das Video gesehen hatte!
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Injury Reserve »Outside« (R: Parker Corey)
Till: Das ist das nun kürzlich erschienene Musikvideo zum Intro des letztjährigen Injury Reserve-Albums, das seine Hörer*innenschaft in eine recht dystopische Realität einführt, die wohl mit dem roten Sturm des Covers ganz gut repräsentiert wird. Wir haben hier eigentlich bloß sieben Einstellungen auf beinahe neun Minuten: Der Blick durchs Fenster in ein anderes, der Blick in den Raum, der Blick durchs Fenster nach draußen, dann die Küche, der Herd, schließlich ein Shot auf Rapper Ritchie, der auf die Performance des Songs von Parker Corey schaut, schließlich nochmal umgekehrt Ritchies Blick auf den Produzenten. Danach wird die Kamera körniger, wackliger, in einer POV-Perspektive bewegt sie sich rückwärts aus dem Setting, um schließlich vor einem Modell des Geländes zu stehen, das Video endet im analogen Film-Look, der vorher keineswegs etabliert wird. Zum Album »By the Time I Get to Phoenix« gab es einen Visualizer, der in erster Linie auf die Lightshow gesetzt hat, so auch in anderen Videos zum Album. Das wird hier fortgesetzt. Am Ende sieht man natürlich die Performance, aber schon zuvor wird das Lichtflackern in der Küche immer deutlicher. Es beginnt bei 02:57 mit der Fläche unter der Dunstabzugshaube – das Licht kommt damit aus der dem Fenster entgegengesetzten Richtung. Das pulsierende Licht synchronisiert sich hier mit der Stimme von Ritchie, ab 04:05 wird das noch wesentlich deutlicher. Ab 04:22 verlagert sich die Synchronisierung auf die Instrumentierung, so wird die Lichtshow dann auch in den darauf folgenden Einstellungen fortgeführt.
Charlie: Auch am Anfang gibt es eine runde Lichtquelle, allerdings das Tageslicht spendende Fenster. Das Gebäude finde ich erstmal krass, super faszinierende Architektur. Total abgeschieden, es sieht beinahe aus wie ein Raumschiff, etwa die lukenartige Einbuchtung in der Küchenwand. Das knüpft auch an die Motive des Albums an, sehr postapokalyptisch. Dazu passt auch, dass hier Musik ohne Publikum stattfindet.
Till: Die Protagonist*innen des Videos sind auch erstmal alle in Innenräumen, ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Da geht es um Grundbedürfnisse: Feuer anheizen, Essen kochen. Die Räume sind ansonsten sehr leer, es gibt bloß noch einen Fernseher. Wenn die Kamera die Innenräume verlässt, befinden wir uns immer noch im inkludierten Amphitheater, diese Anlage bewegt sich zwischen Gated Community und letzter Bastion menschlichen Lebens in der Postapokalypse. Die Performance findet erstmal für niemanden statt, bloß für den Rapper, der ja Teil der Sache ist.
Charlie: Performance ist auch ein hoch gegriffenes Wort, Parker Corey tanzt ein wenig, springt eher herum zu Lichtshow und Musik. Am Ende verändert sich das Bild, es wird krisselig. Es würde mich wundern, wenn das ganze Video auf Film gedreht wurde. Die erste Einstellung ist sehr schön, auch durch die Spiegelung des Fensters. Darin liegt eine extreme Ruhe, die auch durch die Statik der Kamera etabliert wird und dem Song natürlich gänzlich gegenübersteht.
Till: Okay, vielleicht gewagt, vielleicht auch schon ausgelutscht, aber ich muss an Platons Höhlengleichnis denken. Erst ganz am Ende wird die Außenwelt betreten, die der Songtitel verheißt. Davor befinden wir uns in einer zurückgezogenen Gemeinschaft, in der die einzige Unterhaltung Schattenspiele sind. Die drei Schatten im Amphitheater wirft der Künstler selbst, hier lässt sich durchaus auch eine Beziehung zur Konstellation der Band herstellen: 2020 ist der Dritte im Bunde, Stepa J. Groggs, überraschend verstorben. Die Illusion des Dreiergespanns wird dann zum Ende des Videos durchbrochen, einerseits durch das Offenlegen der Blicke zwischen den beiden lebenden Mitglieder von Injury Reserve, andererseits durch das Verlassen der Situation, den Eintritt in die Außenwelt, der eine Anerkennung der Wirklichkeit verspricht. Das Musikvideo zentriert dabei nicht die Performance der Band oder gar die Musik selbst, sondern die Perspektive der Zuschauer*innenschaft. Oder ihre Abwesenheit, es ist ja eine Performance ins Leere, Ritchie schaut dabei in derselben Art zu, in der ich mir beim Mittagssnack die neuesten Katastrophenvideos und Fußball-Highlights anschaue.
Charlie: Interessant ist auch, dass sich niemand der Kamera zuwendet. In den ersten zwei Einstellungen ist der Protagonist gar nicht im Zentrum des Bildes, eher der Raum selbst. Am Ende wendet er uns den Rücken zu und Parker Corey adressiert uns auch nicht. Man ist ein Beobachter, wird aber auch nicht zentriert. Das Video illustriert den Song nicht unbedingt, sondern geht einen Dialog mit der Musik ein.
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Omar Apollo & Daniel Caesar »Invincible« (R: STILLZ)
Charlie: Die erste Hälfte des Videos ist einfach sehr schön erzählt. Es wird zunehmend unerwartbar. Der Beginn ist ganz klassisch, schöne Kadrierung, schönes Licht, besondere, aber simple Location. Da denkt man, das wird jetzt einfach eines dieser ganz typischen Indie-Musikvideos. Daniel Caesar kommt ins Bild und dann die Kinder, das ist eigentlich die erste Überraschung. Der Shot geht dann auf die Spielzeugautos.
Till: Ein Krankenwagen und ein schöner, schwarzer Geländewagen. Das sind eben genau die Autos, die in der darauffolgenden Szene zu sehen sind. Und auch in dieser Verfolgungsformation.
Charlie: Das Video findet schöne narrative Umwege. Das kann man im Grunde erahnen, aber die nächste Überraschung ist, dass Daniel Caesar nicht bloß auf dem Dach des Autos sitzt, sondern auch im Krankenwagen.
Till: Genau. Der Song handelt von Nahtoderfahrungen unter Drogeneinfluss, die in Reflexionen über die Liebe und die Sterblichkeit münden. Dementsprechend passt dieses Bild sehr gut, dass er sich selbst im Krankenwagen hinterherfährt, denn das ist seine Sprecherposition im Lied: »And I woke up in an ambulance«.
Charlie: Die starke Synchronisierung fand ich fast ein bisschen schade, weil das Video manchmal eben bloße Schlagwörter aufnimmt und direkt visuell umsetzt. Ein wenig kurz gegriffen.
Till: Der Narration des Videos tut das sehr gut, weil hier vieles durch den Drogenrausch drunter und drüber geht. Da geben diese Szenen einen guten roten Faden, ebenfalls mit der »brain on 2CB«-Zeile bei 01:55, die mit diesem CT-Bild umgesetzt wird.
Charlie: Ab der Szene, in der Daniel Caesar nicht ins Krankenhaus, sondern in das Wohnzimmer einer Familie geschoben wird, die gerade Kindergeburtstag feiert, hat das Video auf jeden Fall eine sehr surreale Komponente. Dann geht es aber wieder einen Schritt zurück in die Performance. Nach dem CT-Bild finde ich die Überblendung sehr schön, in dem die Stadtlichter Omar Apollo durchkreuzen, ein Bild, welches in unzähligen Filmen aufgegriffen wird, selbst das »Illmatic«-Cover ist ja ähnlich komponiert, bloß geht es in diesem Video weniger um eine biografische Verortung, sondern um die nächtliche Erfahrung der Stadt.
Till: Das ist ja auch ein typisches Bild für Rauschempfinden, die sensuelle Überlastung durch Lichter und die veränderte Geschwindigkeitswahrnehmung. Die sich bewegende Lichtquelle im Porträtshot wiederum verändert die Konturen des Gesichts sehr stark, da kommt eine Veränderlichkeit und Instabilität rein. Passt ja zum Rosalía-Video. Zum Ende wandelt sich das Video in einen queeren Fiebertraum, der einerseits ganz typische Bilder von romantischer Freiheit und Erfüllung aufgreift, aber eben mit diesen riesigen Masken verfremdet.
Charlie: Um diese Beziehung geht es ja auch schon vorher, die Sterblichkeit spielt hier am Ende aber keine Rolle mehr.
Till: Genau. Ich frage mich natürlich, ob Daniel Caesar und Omar Apollo tatsächlich unter den Masken stecken. Omar Apollo singt ja von seinem »baby« als Mann, Daniel Caesar von »my girl«. Die Kinder am Anfang sind natürlich auch nach den beiden Sängern gestylet, die hypothetische Einleitung zum Song mit »If I were to go« lässt das Video als kindliche Fantasie erscheinen.
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Pusha T »Diet Coke« (R: Omar Jones & ONDA)
Till: Pusha T ist der einzige Rapper, der wirklich nur ein einziges Thema braucht: Koks. Und dabei ist mir auch völlig egal, ob er wirklich die Packs gepusht hat. Rick Ross hat es ja auch vom Vollzugsbeamten zum fiktiven Kingpin geschafft. Pusha T präsentiert sich hier nach wie vor als Koksdealer im großen Stil, der gar nichts mit dem Rumstehen an Straßenecken zu tun hat. Im Song heißt es »The crack era was such a black era« – Pusha T weiß natürlich, wie diese Zeit Schwarze Communities zerstört hat – aber Koks-Rap ist hier immer noch Bragging & Boasting. Auch das Video koppelt ihn natürlich visuell ab von irgendwelchen sozialen Effekten seines Businesses. Die Bildsprache impliziert aber noch etwas anderes: Pusha T ist ein Schwarzer Mann in einer koksweißen Welt.
Charlie: Dieses Kondensierte, die visuelle Besinnung auf die Essenz, fand ich interessant, weil die Erwartungen an das kommende Pusha T-Album natürlich riesig sind. Und jetzt bekommt man genau das, was man erwartet hat, und nicht mehr. Koks-Rap, einen 18 Jahre alten Beat von 88-Keys neu aufgelegt, unmittelbar anschlussfähig an die Clipse-Ära. Das ist, was ihn charakterisiert. Man sollte auch erwähnen, dass die gesamte Optik eine direkte Referenz an das Video zum Remix zu »Flava In Ya Ear« von Craig Mack ist, da ist am Anfang auch die leckere Coca-Cola zu sehen. Dazu zählt der komplett weiße Raum, die Couch, das kontrastreiche Schwarz-Weiß, die Outfits und Kanye adaptiert sogar Puff Daddys exzentrische Dance-Moves, natürlich auf seine ganz eigene Weise. Auch das ist schon schön umgesetzt. Pusha T bildet mit der Lederjacke eine plastische Oberfläche, Kanye wirkt fast zweidimensional. Es ist auch schön, Kanye einfach mal so glücklich zu sehen.
Till: Und das selbst mit diesen unfassbar schlimmen Stiefeln. Statt einem Baby hat Pusha T nur schöne Frauen in den Armen. Das Video zu »Flava In Ya Ear« stammte übrigens von Hype Williams, der mit seinem Look einfach diese gesamte Ära geprägt hat. Der Mann hat wohl einfach die größte Legacy, die ein Musikvideo-Regisseur haben kann. Und dieser Look, das Reduzierte, das ist tatsächlich einfach genau die Essenz dieser Ära, alles Extras runtergestrippt. Keine Gimmicks, nur das absolute Verhältnis von einem Rapper zu diesem weißen Studioraum. Es gibt da auch keinen Kontext mehr, auch keinen zum Kokainhandel, nur Popkultur und Flex.
Charlie: Klar, vollkommen losgelöst von gesellschaftlichen Koordinaten.
Till: Daran knüpfen sich tatsächlich einige interessante Überlegungen zur Position von Kapital im Hip Hop an, letztens hatte ich einen spannenden Artikel von Ismail Muhammad gelesen. Da geht es um die Frage: Was muss Hip Hop abbilden? Immer bloß soziale Probleme? Oder zeichnen wir dadurch durchgehend ein Bild von Blackness, das ausschließlich mit Armut und Elend verbunden wird? Muhammad spricht dem Phantasma Schwarzen Reichtums dabei ein gewaltiges Potenzial zu.
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Toro y Moi »Postman« (R: Kid. Studio)
Charlie: Gestern habe ich wieder zwei Postkarten bekommen und mich sehr gefreut.
Till: Ich liebe es, Post zu bekommen. Manchmal schaue ich dreimal täglich in den Briefkasten, auch gerne mal sonntags.
Charlie: Hast du keine Angst vor Rechnungen?
Till: Nein, ich kriege nur gute Post. Toro y Moi erwartet auch einige Eilsendungen, muss sich aber noch etwas gedulden. Stattdessen gibt es lästige Rechnungen. Das Video sticht etwas heraus, weil es mehr funny, funky und quirky ist als andere Songs von ihm. Trotzdem natürlich sehr psychedelisch, besonders die Mischung zwischen Landschaftsaufnahmen und Computeranimationen.
Charlie: Das Video nimmt starke Bezüge auf philippinische Kultur, steht in den Kommentaren.
Till: Genau, seine Mutter ist Philippinerin. Die Referenzen beinhalten philippinische Snacks, Balikbayan-Kartons und das Auto, das Jeepney genannt wird. »Mahal«, die Inschrift des Nummernschildes, ist der Titel seines bald erscheinenden Albums und bedeutet übersetzt »Liebling«. Im Video ist eine Frau mittleren Alters zu sehen, die bei 01:19 mit etwas überdrehter Mimik einen Brief in den Briefkasten einwirft, der inmitten ihrer Küche platziert ist. Toro y Moi hingegen singt über seine Mutter, die wohl vergessen hat, einen Brief abzusenden, weil sie sich den Kopf schwer gestoßen hat. So aufgedreht das alles ist, so ambivalent ist diese Grundstimmung auch. Das wiederum ist vielleicht beinahe eine Spezialität des Regie-Duos, die bereits mit The Weeknd und Drake gearbeitet haben, aber auch für das »Law Of Averages«-Video von Vince Staples verantwortlich sind, über das wir im letzten Juni gesprochen haben. Auch da war dieses subtile Unwohlsein sehr präsent, das »Postman« so interessant macht. Bei 02:00 kippt das Video zum ersten Mal, denn die Briefmarke ist ebenfalls ein LSD-Blättchen und Toro y Moi taucht in eine grelle 3D-Animationswelt ein, die noch stärker philippinisch geprägt ist.
Charlie: Er sieht aus wie ein Avatar aus einem alten Konsolenspiel, Streetfighter-Vibes. Filmisch erinnert diese romantisch, leichtfüßige Annäherung an die Post eher an Jacques Tatis Komödie »Jour De Fête« (1949), wo wir einen tollpatschigen Postboten auf einem Fahrrad begleiten, als an zeitgemäßere Annäherungen wie »Sorry We Missed You« (2019) von Ken Loach, der die prekären Arbeitsverhältnisse eines Paketboten in der Gig-Economy nachzeichnet. Das Thema Post spielt in dem Video irgendwann bloß noch am Rande eine Rolle, ab 01:33 findet sich der Künstler in einem großstädtischen Gewusel wieder. Da wird er geprankt, das wird gefilmt und online gestellt.
Till: Zum zweiten Mal kippt das Video dann ganz am Ende, auf einmal gibt es eine starke Horror-Komponente, denn Toro y Moi wird in einem Karton am Strand angespült und erbricht sich. Da wurde ein Paket mal etwas anders verschickt. So viel kann man darüber vielleicht gar nicht sagen, aber das ist einfach ein tolles und kurzweiliges Video. -
Jameszoo »music for bat caves« (R: Sven Bresser & Mitchel van Dinther)
Charlie: Ich habe das Video noch gar nicht in voller Länge gesehen.
Till: Ach, aber schon so überzeugend, dass ich mir das jetzt auch eine Viertelstunde lang anschauen muss?
Charlie: Ja. Die Musik beginnt erst nach acht Minuten, glaube ich. Wir brauchen Geduld. Am Anfang sehen wir schonmal zwei Lichtpunkte. Das Video beginnt dann mit Blindenschrift.
Till: Ein wenig schwierig in einem Musikvideo. Wir haben einen blinden Franzosen in einem deutschen Hotel. Vielleicht auch eine Art Krankenhaus – jedenfalls eine Heterotopie. Der Titel des Songs weist natürlich auch auf die Blindheit hin. Also: Der Aufzug bleibt stecken, ein Piano wird hörbar, die Wand öffnet sich, unser Protagonist tritt in eine dunkle Höhle ein. Und da geht es richtig los. Das Piano erwidert sein Spiel, dann trifft ihn die durchaus etwas chaotische Musik mit voller Härte und reißt ihn mit. Weniger Tanz, mehr absolute Fremdbestimmung. Und dann geht die Zeit doch etwas schneller vorbei, als man so denkt. Am Ende fragt der Protagonist noch einmal, wer da sei.
Charlie: In den Kommentaren wird vor allem geschrieben, wie brillant das Video sei. Interpretative Ansätze sucht man vergeblich.
Till: Dafür liefert der Pressetext auf Bandcamp ein paar Infos mehr: Das dazugehörige Album heißt »Blind« und versucht, den Autor der Musik verblassen zu lassen. Also Musik ohne Interpret. Niemand also. Wir lernen, dass Jameszoo ebenso motorisierte Instrumente wie auch Aufnahmen anderer Musiker*innen verwendet hat, um eine depersonalisierte Komposition zu erschaffen, die sich immer wieder selbst konstruiert, dekonstruiert und sich selbst Frage und Antwort steht. Das merkt man in der Musik schon sehr, diese sich aufbauenden und einbrechenden Wellen. Es wird versucht, uns blind gegenüber der Autorschaft werden zu lassen. Das Motiv der Blindheit fragt nach den Möglichkeiten eines »active objective listening«.
Charlie: Was mit dem Musikvideo korrespondiert, ist die Forderung an das Publikum: Geduld, Aktivität, keine Beiläufigkeit.
Till: Der aktive Hörer im Video fragt beinahe plakativ nach der Autorschaft. Die Musik im Video existiert aber abgetrennt von einer Quelle.
Charlie: Was den tatsächlichen Musiker natürlich auch ein Stück weit mystifiziert.
Till: Das ist die Gratwanderung: Schafft man es, sich als Künstler aus der Gleichung zu nehmen, oder dient der Versuch der Selbstinszenierung? Am Ende muss die Kunst dann wohl ein Dokument des Scheiterns an der eigens gesetzten Aufgabe darstellen. Aber eben nicht nur ein Scheitern, sondern auch den Versuch selbst, die Diversität der Strategien.
Charlie: Auch im Film gibt es natürlich immer wieder die Bewegung weg von der Autorschaft. Das Kollaborative steht auch hier im Mittelpunkt, durch Hip Hop ist dieser Aspekt natürlich heute viel präsenter in der Popmusik.
Till: Naja, auch da gibt es Unterschiede: Im Hip Hop ist die Kollaboration meist ein freundlicher sozialer Wettkampf konkurrierender Egos. Dabei wird vielleicht nicht Urheberschaft in den Fokus gestellt, aber schon Wert auf Individualität und Character-Building gelegt. Jameszoo versucht ja eher, das Ego loszuwerden – in der Produktion ebenso wie in der Rezeption. Damit wird die Kommodifizierung der Persönlichkeit gewissermaßen unterlaufen – wenn es denn klappen würde. Worüber ich noch nachgedacht habe: Die Blindheit, die dieses Video fordert, läuft dem Medium entgegen. Ganz praktisch: Wenn ich ein Musikvideo sehe, kann ich nicht die Augen schließen, um das Musikvideo nachzuahmen. Damit geht im Spiel von Bild und Musik die Forderung an das Publikum ein wenig verloren. Was das Video stattdessen macht, ist, den Prozess der Rezeption offenzulegen und auszustellen. Die Kunst reflektiert – und abstrahiert – also schon die eigene Funktionsweise.
Charlie: Der Purismus geht in der visuellen Umsetzung natürlich verloren. Aber, du sagtest es schon, und Jameszoo sagt es auch im Pressetext: Sein Album zeigt Versuche, keine vollendeten Meisterwerke. Er gesteht sich das Scheitern deutlich ein, macht es zum Teil der Kunst. Dazu passt auch, dass das Video ebenso wie die Musik sehr dekomponiert ist. Eine große Ausdehnung mit steigender Spannung am Anfang, eine rhythmisch abgestimmte Transition in den mystischen Raum. Und am Ende werden die Credits ganz plötzlich und unverhofft reingehauen.
Till: Die Musik wird sich selbst bewusst, unterbricht die eigene Komposition durchgehend, das Video macht eine ähnliche Bewegung in der Selbstzersetzung. Ich find’s jetzt doch sehr schön. Aber du musst dringend aufhören, diese ewig langen Videos mitzubringen.