10 RAG Essentials

»We Almost Lost Bochum« ist nicht einfach nur ein Film über die legendäre Deutschrap-Crew RAG. Es ist genauso ein Film über das Genre, die Szene und das Leben an sich.

WALB STILL 5
Als die Rapper Aphroe, Pahel und Galla sowie der DJ/Produzent Mr. Wiz vor fast 22 Jahren als RAG ihr Debütalbum »Unter Tage« veröffentlichten, passierte etwas im Deutschrap. Alles wurde größer, besser, mehr. Nur eben nicht so richtig für RAG. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte der vielleicht besten Deutschrap-Crew, die es jemals gab. Julian Brimmers und Benjamin Westermann haben aus dieser einmaligen Geschichte den Film »We Almost Lost Bochum« gemacht, der in Kooperation mit mindjazz pictures im September 2020 veröffentlicht wird.

Für den Film reisten sie mit den verbliebenen Crew-Mitgliedern ins Ruhrgebiet und zu Pahel in die USA. Mit der Unterstützung prominenter Stimmen von Jan Delay, Kool Savas, den Stieber Twins, Curse, STF und Creutzfeld & Jakob erzählen sie zwischen bewegenden Ruhrpott-Moods den Werdegang der Band, den tragischen Tod von Galla und alles andere, was HipHop im Allgemeinen und das Leben im Speziellen so ausmacht.

Für ALL GOOD geben die Filmemacher den ersten Blick in den Trailer. Passend dazu hat Julian Brimmers eine Liste mit zehn RAG-Essentials zusammengestellt. In der nächsten Woche sind er und Benjamin Westermann dann auch im ALL GOOD PODCAST zu Gast und sprechen mit Jan Wehn über die Entstehung des Films.

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  • Raid – »Geh-Heim-Tip« 12'' / Put Da Needle To Da Records / 1999

    Beginnen wir mit einem Curveball. Bei allem Hang zum überdachten Text war Aphroes eigentliche Stärke immer der ignorant gespuckte Dad-Joke. Und »Geh-Heim-Tip« (ja eben!) ist voll davon. »Wär‘ Mord echt mein Hobby, ihr wärt Ford wie mein Wagen«, »Mach‘ ma‘ piano wie Rondo Veneziano«, »Reduzier‘ eure Power auf Al Bano und Romina« – als grade-so-Teenager hat man da gebannt vor dem Tape gehangen, ohne wirklich ein Wort zu verstehen. Aber das war Teil der Anziehung.

    Die »Geh-Heim-Tip«-12“ von Raid (Aphroe + Mr. Wiz) erschien 1999, also zur Zeit des größten RAG-Hypes, über Put Da Needle. Das war schon mal seltsam, hatte man doch gedacht, dass Raid sozusagen in RAG aufgegangen waren. Man verbessere mich, aber ich glaube, das Ding war sogar die »Juice«-Maxi des Monats.

    Aphroes unterkühlte Delivery spiegelt sich hier in Wiz Sounddesign. Die Bassline zickt rum und alles zusammen versprüht extrem den »Wir machen das hier für uns und in drei Jahren rafft ihr’s dann«-Vibe, der viele Put Da Needle-Releases dieser Ära auszeichnete. Flipstar hatte diesen Style im selben Jahr auf »Partner Teil 2« bereits perfektioniert.

    Wenn Raid zu dieser Zeit ein Album gemacht hätten und das hätte auch nur im Ansatz so zwanglos und selbstbewusst geklungen wie »Geh-Heim-Tip«… Jesus.

  • Das Duale System – »Gipfeltreffen (Wiz Remix)« 12'' / Köln Massive / 1996

    Apropos Wiz Sounddesign. Eine Sache, die während der Arbeit am Film immer wieder klar wurde: RAG wurden und werden viel zu sehr über die Textebene definiert. Ganz im Ernst, Wiz/Beat Sampras war Mitte der 90er schon der Krasseste.

    Das Duale System aus Köln war gewissermaßen die Vorgängerband von Die Firma und 4Mille (aus denen dann irgendwie auch das Label ENTBS entstand), und »Gipfeltreffen« mit den Gästen Aphroe und Scope somit die Blaupause für die La Familia-Supergroup. Inhaltlich haben wir hier drei Jungmänner, die ballen wollen. Aber, weil es das Jahr 1996 ist, muss man das ganze im Chorus nochmal umdeuten. »Wir wären ja reich und schön, wenn es hier um Respekt in der Szene ginge!« Mittneunziger-Untergrund-Rap-Neurosen, rückblickend so nice einfach. Neben den – bei allem Respekt – etwas grobschlächtigeren Parts von Tat und Scope, gleitet Aph mit seinen 90s Supermodel-Fantasien deutlich eleganter über den Beat.

    Wiz flext für seinen Remix derweil mindestens so hart wie seine rappenden Kumpels, indem er überlaute Drums mit Horn Delays à la Pete Rock, Philly Hits und andere Jazz-Rap Tropen zusammenwirft, die der Rest der Republik sich gerade noch mühsam anlernte.

  • RAG – »Ohne Gewähr« »Unter Tage« / Put Da Needle to da Records / 1998

    Ein klassischer Grower. Die Bedeutung von »Ohne Gewähr« für »Unter Tage« war mir lange nicht klar. Als Teenager habe ich weite Teile des ersten RAG-Albums genau so gehört wie, sagen wir die Wu-Chronicles. Ein paar Wortfetzen machten voll Sinn, aber mir war schnell bewusst, dass das Texte waren, die ich frühestens in ein paar Jahren checken würde. Die Grundideen von Songs wie »Westwinde« (kiffen) oder »Kopf Stein Pflaster« (rumfahren) waren mir zumindest schneller klar. An der Bildsprache von »Ohne Gewähr«, mit all ihren Kristallkugeln, Orakeln und religiösen Motiven, konnte man sich monatelang abarbeiten.

    Davon abgesehen ist »Ohne Gewähr« das perfekte Beispiel für die Routine, die sich Galla und Aphroe (Pahel war zu diesem Zeitpunkt zeitweise in Brasilien) in der »MC WG« in der Steinstraße in Witten antrainiert hatten.

    Für unseren Film war der Song in mehrfacher Hinsicht ein Leitmotiv. Kurzzeitig dachten wir sogar, dass »Ohne Gewähr« ein toller Filmtitel wäre. Stattdessen gab uns der Chorus eine Kapitelüberschrift, außerdem konnten wir den Song mit seinem prägnanten »Das macht einen doch kaputt«-Intro in Gänze prominent im Film platzieren.

  • RAG – »Schwingungen« V.A. Splash! Allstars Event Album / Phlatline Records / 2001

    Ein im besten Sinne merkwürdiger Song, der perfekt die einsetzende Katerstimmung der frühen Nullerjahre beschreibt. »Schwingungen« war ein verstecktes Highlight auf dem Splash!-Sampler 2001, erschien also genau zu der Zeit, als RAG ihren Zenith hätten genießen sollen. Aber so ein heißer Sommer macht ja auch schnell müde. Vielleicht geht das auch nur mir so, aber für mich klang dieser RAG-Versuch, einen sommerlichen Feelgood-Song zu schreiben, immer schon mehr melancholisch denn euphorisch. Als Song macht es das nicht schlechter, im Gegenteil.

    Galla und Aph in Topform und ein sehr guter Pahel-Part, dessen vielsilbiger Flow immer wieder vom Billy Cobham-Flip eingefangen wird. (Sidenote: Meines Wissens der einzige Beat, für den Aphroe die alleinigen Credits trägt.)

  • JR & PH7 feat. Aphroe, Elzhi & Frank-N-Dank – »The Cities« 7'' Heavy Traphik / MPM / 2011

    »The Cities« erschien auf JR & PH7s Producer-Album »So Far, So Good« sowie als B-Seite von Aphroes »Heavy Traphik«-7“, also inmitten der Phase, in der wir uns alle kurz vor VÖ des Aphroe Solo-Albums wähnten.

    Aphroes erste Zeile »Kleine Leute, man sollte sie wieder wichtig nehmen / hab‘ gehört der Pott sei das deutsche Detroit, Michigan« spukte mir so lange im Kopf rum, dass er sich schließlich im Arbeitstitel des Films manifestierte. »We Almost Lost Bochum« war anfangs natürlich nur ein Gag zwischen Ben und mir. Bis ich Ende 2018 zufällig bei der Arbeit in Berlin auf Brian Jackson – Gil Scott-Herons Songwriting-Partner und Genie hinter »We Almost Lost Detroit« – traf, ihm von unserem Titel erzählte und er uns begeistert seinen Segen gab. Ab da hatte der Film seinen Namen.

  • Pahel – »Lieg Ich Richtig?« »Natur des Menschen« (LP) / SambaGround / 2003

    Ohne viel vorwegnehmen zu wollen: die schonungslose Offenheit, die uns wirklich alle Protagonisten von »We Almost Lost Bochum« entgegengebracht haben, hat uns selbst überrascht. Gleichzeitig war sie die Grundvorraussetzung für das (hoffentliche) Gelingen des Films. Allen voran müssen wir hier Pahel nennen, der uns in Washington mehrere Tage lang (Keller-)Tür und Tor geöffnet hat, um über wirklich alles zu sprechen. Und dabei einfach nur ein astreiner Kerl und Gastgeber war.

    Das hätte uns allerdings nicht überraschen sollen: schon als MC konnte P gar nicht anders, als frei von der Leber zu spitten. Seine besten Momente als Rapper hat Pahel immer dann, wenn er die Dinge mit sich selbst ausmacht. Selbstzweifel und -bewusstsein müssen eben keine Widersprüche sein, wenn doch beides der ständigen Auseinandersetzung mit dem eigenen Ego entspringt.

    Anyways, der zweite Part von »Lieg Ich Richtig?«, zu hören auf Pahels Solo-Album Natur des Menschen, gehört zum ehrlichsten, das deutscher Rap in 30 Jahren hervorgebracht hat.

  • Aphroe – »Requiem for a Dream« Soundcloud-Demo / 2006

    Gewissermaßen Aphroes Companion-Piece zu »Lieg‘ Ich Richtig?«. Wie Pahel geht auch Aphroe mit sich selbst ins Zwiegespräch über die Frage, warum das alles nicht so geklappt hat wie erwartet. »Viel lief schief, doch alles hat geprägt

    Ich weiß noch, wie Oliver »Olski« von Felbert mir im MPM-Office das Demo zu »Requiem for a Dream« vorgespielt hat. Der Track war damals schon locker vier, fünf Jahre alt und textlich so dicht wie kaum ein deutscher Rap-Song seiner Ära. Je mehr Zeit man mit dem unfertigen Stück verbrachte, desto mehr sträubten sich die Nackenhaare. Musste man sich Sorgen machen? Erst die letzte Zeile löste das vorsichtig auf.

    »Requiem for a Dream« entstand in Aphroes Zeit mit dem Producer Monroe, der Mitte der 2000er nicht nur mit Pahel aufgenommen hatte, sondern kurz darauf mit »Monstershit« von Savas und Azad auch ganz andere Sphären erreichen sollte. Vielleicht ist das zu romantisch gedacht, aber die Tatsache, dass dieser Song der beiden ein Demo, ein unfertiges Fragment geblieben ist, macht ihn in der Rückschau nur noch stärker.

  • RAG – »Manege A Trois« »Pottential« / Motor Music / 2001

    Im Film sagt Flipstar von Creutzfeld & Jakob, »Pottential« sei ihm zu komplex gewesen. Wir haben lang mit uns gerungen, ob wir ihm da seine Berufsbeschreibung »Neurochirurg« in die Bauchbinde schreiben. Haben wir dann nicht gemacht, aber er hatte natürlich recht.

    »Pottential« hatte alles: achtminütige Konzept-Tracks, lokale Mitgröhl-Hymnen, französische R&B-Hooks sowie den bis dahin besten Doubletime-Flow der deutschen Rap-Geschichte. Was dem Album folgerichtig abging, war der Aus-einem-Guss-Faktor, der »Unter Tage« ausgemacht hatte.

    Der hohe Anspruch, aber auch der Druck, der zu diesem handwerklich eindrucksvollen Flickenteppich führte, entlädt sich direkt im Intro. »Manege A Trois« hat drei perfekt auf den jeweiligen MC abgestimmte Beats: Pahel kriegt »Guess Who’s Back« 2.0, Galla die verschollene Shurik’n B-Seite und Aphroe eine Sound gewordene Lavalampe, auf der er allehierbeballertsowieGalaga4. Im Guten wie im Schlechten ist das hier das einzig passende Intro zu dem, was RAGs Opus Magnum hätte werden sollen.

    P.S.: Noch mehr als Aphroes Flow freut mich an »Manege A Trois«, dass Pahel hier genau wie im Film »Jahrmarkt« im besten Pott-Slang ohne »Rs« ausspricht.

  • RAG – »Westwind« »Unter Tage« / Put Da Needle to da Records / 1998

    Aus der Kategorie: Braucht man eigentlich nichts mehr zu sagen. »Requiem« oder »Kopf Stein Pflaster« in diese Liste mit aufzunehmen, hätte sich witzlos angefühlt. Und natürlich ist »Westwind« genau in dieser Kategorie anzusiedeln, oder maximal eine knappe Stufe tiefer.

    Vielleicht weniger bekannt ist, dass »Westwind« lange als erste Single zum Album im Gespräch war und dass Teile der Band bis heute überzeugt sind, mit »Westwind« als Auskopplung wäre es mehr abgegangen.

    Jedenfalls gelang »Westwind« das Kunststück, gleichzeitig Regions- und Kifferhymne zu werden. Wobei wegen »Westwind« doch garantiert keiner zu paffen angefangen hat, wie, sagen wir, wegen »Hits From The Bong« oder »Grüne Brille«. Oder? Ich glaube eher, dass die mantra-artige Hook, die auch heute noch jeder nach zehn Bier und neun Joints (mein Freund) mitrappen kann, bei jedem Thema funktioniert hätte. Ein Hit ist ein Hit. Und als wir für den Film-Trailer nach dem essentiellsten aller RAG-Songs gesucht haben, landeten wir umgehend bei »Westwind«.

  • Galla – »Türkischer Honig« »Swing Kid« / LaCosaMia / 2005

    »Dein Name kennt keine Grenzen, kennt keine Schranken.«

    Ich kann gar nicht sagen, wieviele Leute mir ungefragt erzählt haben, dass »Türkischer Honig« ihr Lieblings-Lied aus dem RAG-Kosmos sei.

    Galla schrieb »Türkischer Honig« während seiner Zeit in Kreuzberg für seine damalige Partnerin Gurbet Erbulan. Gurbet arbeitete mit Staiger bei Royal Bunker und lernte Galla im rap.de-Büro kennen. Kurze Zeit später führten sie und Galla als Paar den Klamottenladen Hoodlum Street Boutique am Schlesischen Tor. Dass Gurbet sich bereit erklärt hat, im Film über diese Zeit zu sprechen, gehört für uns zu den mit Abstand emotionalsten Erfahrungen unserer dreijährigen Produktionszeit. Ich glaube, erst im Auto auf dem Rückweg von unserem ersten Besuch bei Gurbet – ohne Kamera und Mics, einfach nur zum Reden – wurde Ben und mir bewusst, dass wir auf einmal die Story eines jungen Mannes zu verantworten hatten, den wir selbst nie kennenlernen durften, und der nicht mehr für sich selbst sprechen kann.

    Dass sich seine engsten Vertrauten mit uns getroffen haben, empfinden wir als unschätzbares Privileg.

  • Aphroe – »Svenology« MySpace-Demo / 2007

    Ach so: Dieses 2007er-Myspace-Fundstück, geschrieben zu Ehren von Sprüher, Tourbusfahrer & Pottlegende 50 Svenz soll nicht unerwähnt bleiben. Auch, weil sich Sven als heimlicher MVP unseres Films herausstellen sollte.