DJ Spinn »Wir müssen versuchen, diesen endlosen Kreislauf der Gewalt zu beenden.«

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Die Begriffe »Juke« und »Footwork« dürfen seit Jahren in keiner echten Bassmusikauskennerkonversation fehlen. Juke, ein Hybrid aus House-Rhythmen und HipHop-Samples auf 150 bis 160 BPM, und der damit verbundene Tanzstil namens Footwork erobern von Chicago aus die Welt. Vor wenigen Wochen starb DJ Rashad, der inoffizielle Pate dieser Bewegung. Sein langjähriger DJ-Partner Spinn führt ihr Erbe fort, zuletzt war er live auf der Red Bull Music Academy Stage im Berliner Mauerpark zu sehen. ALL GOOD-Autor Stephan Szillus sprach dort mit ihm über Juke und HipHop in Chicago – und über seine Hoffnung auf ein Ende der dortigen Gewaltspirale.

Update 8. Juni 2014:
Das Mauerpark-Set von DJ Spinn & Taso könnt ihr nun hier — zunächst exklusiv — im Stream nachhören:

  • Korrigiere mich bitte: So wie ich es verstehe, ist Juke bereits in den Neunzigern aus House-Rhythmen und HipHop-Produktionstechniken entstanden, wurde damals noch unter Begriffen wie »Ghetto House« verhandelt und ist daher auch mit dem Detroiter Ghettotech verwandt.

  • Das stimmt schon. HipHop entstand ja aus Breakbeats, House hingegen basiert auf einem geraden Vier-Viertel-Rhythmus. Anfang der Neunziger entwickelte sich aber auch die House-Szene in Chicago immer mehr in Richtung Breakbeats und Samples. Das war sicher dem wachsenden Einfluss von HipHop geschuldet. Und wenn man sich die Szenen heute anschaut, dann ist doch eh alles ein großer Wust: EDM, House, Trap, Jungle, HipHop… alles wird vermischt und am Ende ist es auch egal, wie man es nennt. Jedenfalls gibt es sehr viel gute Musik da draußen, sogar im Mainstream. Immer mehr große Künstler geben Underground-Produzenten wie uns eine Chance zu scheinen.

  • Bevor du als DJ aufgelegt und Beats produziert hast, warst du bereits als Tänzer aktiv. Du warst also ein B-Boy?

  • Nein, nein. Das war Footwork, schon damals. (grinst) Als Kind schaute ich mir die Videos von Michael Jackson, MC Hammer oder Kid-N-Play an und imitierte, was ich darin sah. Dann, als ich ungefähr 12 Jahre alt war, begann ich damit, regelmäßig den Markham Roller Rink zu besuchen (eine Rollschuhbahn in Chicago, Anm. d. Red.). Da fand abends immer eine Disco statt, wo hauptsächlich House Music lief. Die Kids tanzten dazu. So lernte ich die Footwork- und die Battle-Kultur kennen. Erst später fing ich an, selbst Musik aufzulegen und zu produzieren.

  • Die Kids, die heute in Chicago zu Juke tanzen und die Footwork-Battles besuchen, haben die irgendeine Beziehung zur HipHop-Kultur?

  • Nein, das ist eine ganz andere, von HipHop weitgehend getrennte Szene. Aber wenn man von außen draufschaut, dann gibt es schon viele Parallelen, besonders bei der Mode und dem ganzen »Swag« der Kids, aber auch bei ihrer Einstellung zum Wettbewerb. Der Battle-Gedanke, der in der Footwork-Szene sehr ausgeprägt ist, stammt ja ursprünglich aus dem HipHop.

  • Wann hast du mitbekommen, dass sich diese Szene auch jenseits von Chicago verbreitet?

  • Das muss so um 2003 gewesen sein. DJ Godfather aus Detroit legte bei uns in Chicago auf, und er spielte ein paar Tunes von Rashad und mir. Er erzählte uns, dass er diese Songs auch in anderen Städten und sogar in fremden Ländern gespielt hatte, und dass die Reaktion darauf stets außergewöhnlich gut sei. Das zeigte uns, dass sich unsere Musik langsam jenseits unserer Heimatstadt verbreitete. Und dann, ein paar Jahre später, so um 2007, da gingen zwei gute Freunde von mir als Tänzer mit Madonna auf Tour. Das brachte Footwork auf ein ganz neues Level, weil sie unsere Tänze und Choreographien in ihren Videos und ihren Shows präsentieren konnten. Heute ist Footwork ein weltweites Phänomen. In Japan gibt es zum Beispiel eine beeindruckende Szene und eine echte Footwork-Kultur. Da finden jedes Wochenende große Battles statt. Sie umarmen diese Kultur, es gibt sogar lokale DJs und Produzenten.

  • Für uns Europäer wurde Footwork erst sichtbar, als Protagonisten der UK-Bass-Szene wie Kode9 und Addison Groove das Thema aufgriffen. Das muss um 2010 gewesen sein.

  • Ja, das war eine verrückte Zeit. Ich habe ein paar Freunde, die richtige Internet-Trolls sind. Sie bekamen plötzlich mit, dass die ganzen Blogs und Magazine auf unseren Stuff abgingen, darunter auch Medien wie »The Fader« und europäische Blogs. Also versuchten wir herauszufinden, was der Motor hinter dieser Entwicklung war. Wir nahmen Kontakt zu ein paar Typen auf, die unser Zeug im Netz promoteten, und daraus entstanden erste Bookings und Kollaborationen. Zuerst ging es nach Paris, dann nach London, Berlin, Madrid… und jetzt bin ich schon wieder hier in Berlin, um Footwork zu repräsentieren.

  • 2011 wurdest du zusammen mit DJ Rashad – möge er in Frieden ruhen – nach Madrid zur Red Bull Music Academy eingeladen. Wie kam es dazu?

  • Erstmal möchte ich sagen, dass ich sehr dankbar für diese Gelegenheit bin. Mein Bruder und ich, wir bekamen einen Anruf aus dem Nichts, als wir gerade in London waren: »Yo, habt ihr Zeit und Lust, nach Madrid zu kommen?« Und wir so: »Yeah!« Dann hieß es, wir sollten dort eine »Lecture« machen, was sich für uns erstmal sehr technisch und nerdig anhörte. (lacht) Aber als wir dort ankamen, war alles sehr relaxt und cool. Schaut euch einfach das Video an.

  • »Ich würde mir wünschen, dass sie erkennen, dass sie nicht darauf beschränkt sind, diese negative Musik zu machen.«Auf Twitter teilen
  • Rashad veröffentlichte sein stilprägendes Album »Double Cup« im letzten Jahr über das Londoner Hyperdub-Label von Kode9.

  • Ja, das war eine gute Gelegenheit. Kode9 haben wir zuerst getroffen, als wir im Londoner »Boiler Room« auflegten. Ich schätze, das muss auch 2010 gewesen sein. Wir verstanden uns auf Anhieb und empfanden sein Label als gute Plattform, um unsere Hörerschaft zu erweitern. Wir wollten auch etwas bei Planet Mu rausbringen, aber dort war der Veröffentlichungsplan einfach zu voll. Kode9 konnte viel schneller agieren, also bekam er den Zuschlag. Die ursprüngliche Idee war, dass Rashad sein Album zuerst bringt, und dann unser ganzes Umfeld, die komplette Teklife-Posse, nachfolgt.

  • Rashad war eine zentrale Figur der Footwork-Szene. Wie geht ihr als seine Teklife-Posse mit seinem Tod um?

  • Wir arbeiten einfach weiter, vielleicht noch härter als zuvor. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, unsere Szene oder unsere Crew zu promoten, sondern auch sein Erbe zu erhalten. Weißt du, wir kommen von nichts und haben trotzdem was draus gemacht. Das soll andere Kids in sozial benachteiligten Gegenden inspirieren. Diese Musik hat nun also einen größeren Zweck. Wir wollen erreichen, dass Juke respektive Footwork als echtes Genre anerkannt wird und irgendwann gleichberechtigt neben anderen musikalischen Genres steht. Wir wollen unsere eigenen Awardshows! (lacht) Die Bewegung soll einfach immer weiter organisch wachsen.

  • Wenn du dir den aktuellen HipHop aus deiner Heimatstadt Chicago anschaust, dann handelt diese Musik primär von Gewalt, Drogen und Verbrechen. Wie stehst du zur Drill Music von Chief Keef und Konsorten?

  • Auf viele Menschen, die nicht in Chicago leben, mag diese Szene völlig durchgeknallt wirken. Ich persönlich bin nicht sehr geschockt darüber. Ich komme aus dieser Welt und kenne nichts anderes. Ich komme aus den südlichen Vororten, die Spannungen dort existieren seit Jahrzehnten. Das ist die Realität in Chicago seit meiner Kindheit in den Achtzigern! Damals gab es die Crack-Epidemie. Deren Folgen zogen sich bis in die neunziger Jahre hinein. Was wir heute beobachten, ist die logische Folge aus der Politik der letzten dreißig Jahre.

    Was die Musik angeht, so respektiere ich es, dass diese Kids versuchen, sich selbst aus dem Dreck zu ziehen und ihren Lebensunterhalt mit etwas Kreativem zu verdienen, anstatt mit Drogen oder Verbrechen. Sie versuchen, etwas Positives aus etwas Negativem zu machen. Aber ich billige es nicht, dass sie auf ihren Platten nur über Gangbanging reden. Sie beschreiben die Gewaltspirale, ohne einen Weg hinaus aufzuzeigen. Aber man kann sie nicht dafür verantwortlich machen, sie sind jung und kennen nichts anderes. Ich hoffe, dass diese jungen Künstler irgendwann reifen und dann positive Musik machen, die der ganzen Gewalt ein Ende zu setzen versucht. Ich würde mir wünschen, dass sie erkennen, dass sie nicht darauf beschränkt sind, diese negative Musik zu machen.

    Wir hatten in Chicago viele Jahre nicht die Chance zu scheinen, weil die Industrie sich nicht für uns interessiert hat. Nun haben wir diese Chance, aber auf den Straßen fließt jede Nacht immer noch Blut. Die Künstler sollten aufwachen und ein positiver Einfluss auf ihre Gemeinschaft werden. Sie können nicht die Welt verändern, aber ihr direktes Umfeld. Es geht schließlich nicht nur um Unterhaltung, sondern darum, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Wir müssen versuchen, diesen endlosen Kreislauf der Gewalt zu beenden. Wir wollen doch alle noch Kinder bekommen und alt werden. (lacht) Darum geht es doch im Leben.

  • Würdest du mir aber zustimmen, dass zumindest auf musikalischer Ebene extrem spannende Entwicklungen in dieser Szene passieren?

  • Oh ja. Ich liebe ihre Beats. Das ist das Benzin, dass das Feuer am Brennen hält. Die Musik ist perfekt auf die Reime zugeschnitten. Natürlich ist auch diese Musik von der Stimmung her relativ gewaltbezogen, aber es ist ein positiver Weg für die Kids, ihre negative Energie rauszulassen. Es ist eben nur Musik – mit den Texten hingegen habe ich ein echtes Problem. Aber junge Produzenten wie Young Chop, Chase Davis, Million Dollar Mano oder auch das ganze Team um Chance The Rapper… diese Typen haben richtig gute Tracks. In Chicago gibt es viele junge Talente, mit sehr unterschiedlichen Styles. Das ist die positive Seite dieser Entwicklung.