Manuva & The Bionic Kid »Nachtschattengewächs« – ein Song und seine Geschichte
Vor 15 Jahren veröffentlichten Total Chaos-MC Manuva und Bionic Kid von den Waxolutionists einen der besten österreichischen Rap-Song aller Zeiten. Hier die Geschichte von »Nachtschattengewächs«.
Eigentlich kann man sich festlegen: »Nachtschattengewächs« ist der beste österreichische Rap-Song aller Zeiten. Trotz »Walkmania« von Texta, trotz »Versager« von Kamp, trotz der Beats von Brenk Sinatra und Dorian Concept, trotz der Lyrik von Skero und Gerard. Was Manuva von Total Chaos und Bionic Kid von den Waxolutionists hier im Jahr 1999 zusammen erschufen und über das Dortmunder Untergrund-Label Deck8 das Licht der Welt erblickte, steht bis heute wie ein einzigartiger Monolith in der HipHop-Geschichte der Alpenrepublik. ALL GOOD-Autor Stephan Szillus sprach zum 15-jährigen Jubiläum des Songs mit den Schöpfern über die Entstehung dieses Jahrhundert-Tunes, einer originär wienerischen Version von Black Stars Stadthymne »Respiration«.
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Wie und wann habt ihr euch kennengelernt?
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Manuva: Soweit ich mich erinnere, gab es die Waxolutionists noch gar nicht. Felix (Bionic Kid, Anm. d. Verf.) kommt ja aus Vorarlberg und war dort mit seiner Crew unterwegs. Das muss ’94 gewesen sein, da besuchte er uns in Innsbruck im Studio. Damals hat Felix noch gerappt.
Bionic Kid: Das sind Jugendsünden. (lacht)
Manuva: DBH und ich waren jedenfalls lange Zeit die Einzigen im Umfeld von 200 Kilometern, die sowas gemacht haben. Daher waren wir froh, als wir Felix und seine Jungs aus Vorarlberg kennengelernt haben.
Bionic Kid: ’97 ging es in Wien dann mit den Waxos los. Hast du da nicht auch schon in Wien gewohnt?
Manuva: Nein, in München. Auch noch, als ich »Nachtschattengewächs« geschrieben habe. Ich bin nach der Schule nach München gezogen, habe dort meine Ausbildung gemacht und gearbeitet. Dort hatten wir auch mit Total Chaos unser erstes Studio.
Bionic Kid: Das Instrumental hast du aber damals in Wien gehört! Ich kann mich noch erinnern, dass du zu Besuch warst.
Manuva: Ja, ich war extrem viel in Wien immer, weil mir auch klar war, dass München keine endgültige Station sein wird. Den Beat zu »Nachtschattengewächs« habe ich das erste Mal bei dir in der Wohnung im 16. Bezirk gehört. Der Song ist ursprünglich gar nicht unter Waxolutionists rausgekommen, sondern wenn man sich die 12-Inch anschaut, dann steht da Manuva & The Bionic Kid drauf. Das war unser gemeinsames Baby.
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Felix, können wir über deine musikalischen Einflüsse zu jener Zeit sprechen? Die Referenzen an DJ Shadow springen einen ja förmlich an.
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Bionic Kid: Ja, das war absolut ein Thema. Eigentlich war ich nie ein großer Rap-Fan, obwohl es schon Sachen gab, die ich gut finde. Aber mein Herz schlug schon immer bei Instrumentals am Höchsten. Shadow war damals ab ’93 die Königsklasse. Mo Wax, Ninja Tune, Warp – das war meine Abteilung und mein Steckenpferd.
Manuva: Der Fokus auf Beats und Instrumentals ist generell ein extrem österreichischer Ansatz. Das kommt bei uns aus einer Tradition, von DJ DSL, von seiner Radiosendung »Tribe Vibes & Dope Beats«. Wenn einer Schuld an diesem ganzen Wiener Sound ist, für den Kruder & Dorfmeister auch standen, dann ist es der DSL. Er hat in seinen Radioshows nur Beats gespielt, nie die Rap-Versionen – und das schon Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. In dieser Tradition haben wir uns verortet.
Bionic Kid: Ich war ein kompletter »Tribe Vibes & Dope Beats«-Abhängiger, kann man sagen.
- »Der Beat hat mich einfach völlig berührt.« (Manuva)Auf Twitter teilen
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War der Beat denn als Instrumentalstück vorgesehen?
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Bionic Kid: Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich damit nichts konkretes geplant. Der Clemens (Manuva, Anm. d. Verf.) hörte den Beat und fragte mich, was ich mit der Nummer vorhabe. Er hatte direkt eine Idee dafür und ich ließ ihn machen. Das, was er dann darauf gemacht hat, hatte ich gar nicht erwartet. Ich glaube, es ist das Bestmögliche daraus entstanden. Als reine Instrumentalnummer hätte etwas gefehlt. Beat und Vocals gehören einfach zusammen, so wie bei »The World Is Yours« (von Nas und Pete Rock, Anm. d. Verf.).
Manuva: Der Beat hat mich einfach völlig berührt. Wenn ich mir damals Beats ausgesucht habe, dann waren es oft diejenigen, von denen es die Produzenten am Wenigsten vermutet hatten. Die Produzenten haben ja oft schon bestimmte Rapper im Kopf, wenn sie einen Beat machen. Für mich war es aber oft so, dass ich gerade die Beats hören wollte, die sie mir gar nicht geben wollten. Dieser Beat war auch nicht gerade das Erste, was Felix mir vorspielen wollte. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ich ihn überreden musste.
Bionid Kid: Den Beat habe ich dir definitiv nicht freiwillig vorgespielt. Nicht weil ich mich geziert habe, sondern weil es einfach nur ein Loop war, den ich schnell mal zusammengebastelt hatte. Die Platte, von der das Sample stammt, hatte ich erst wenige Tage vorher gefunden. Ich war da einfach sehr skeptisch.
Manuva: Ich hab mich bei der Aufnahme ja auch weit aus dem Fenster gelehnt. Aber das hat der Beat auch zugelassen. Der Beat hat es aus mir rausgeholt.
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Der Song ist insgesamt sehr untypisch, von der Struktur und vom Arrangement her. Wie ist das passiert?
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Bionic Kid: Zunächst einmal hatten wir damals noch kein Studio. In Wien gab es nur schweineteure Studios, aber ich habe an einer Außenstelle von der Musik-Uni jemanden gekannt, der uns aufgenommen hat. Das war kein richtiges Studio.
Manuva: Das war doch die Fakultät für Experimentalmusik.
Bionic Kid: Ja, aber im Prinzip war es nur ein Raum mit einem Mikro und einem Mischpult. Das war schon sehr räudig. (lacht)
Manuva: Ich hatte trotzdem ein sehr gutes Gefühl, weil der Typ, der uns aufgenommen hat, mir eine absolute Sicherheit gab. Sonst hätte ich diese Hook auch niemals gemacht, das war für mich extrem wichtig.
Bionic Kid: Ja, der war komplett entspannt und gechillt. Um auf das Arrangement zurückzukommen: Ich weiß nicht mehr genau, wie detailliert das Instrumental war, als der Clemens es bekommen hat. Ich glaube, dass es nur ein Loop war. Den Loop hatte ich auf der Vierspur aufgenommen und dann auf den Computer transferiert. Ich hatte damals viele Miniparts herumliegen, wie zum Beispiel das Filmsample im Outro. Mit den Vocals zusammen hat es dann Form angenommen. Als ich mir die Files vor einigen Jahren mal wieder angeschaut habe, habe ich festgestellt, dass die komplett unbearbeitet sind. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man in dem blöden Programm einen Equalizer einstellen oder vielleicht irgendeinen Effekt oder Kompressor drüberlegen könnte. Die Spuren blieben genau so, wie sie aufgenommen wurden. Eigentlich ziemlich geil. Dafür klingt es echt ganz gut. (lacht)
Manuva: Es gab ja auch kein Skype oder Dropbox, wo man sich schnell mal Files hin- und herschicken konnte. Daher hat der Felix das sehr autonom arrangiert. Es gab keinen permanenten Austausch von Feedback. Als ich die fertige Version das erste Mal hörte, war ich sehr überrascht. Ich weiß noch, dass wir beide gedacht haben: Es klingt schon sehr leer. Ich bat Felix dann, noch eine separate Rhodes-Spur dazu zu spielen. Was er auch getan hat. Aber dann haben wir gefunden, dass das alles überhaupt keinen Sinn macht. Daher sind wir am Ende zur ursprünglichen Version zurückgegangen.
Bionic Kid: Nur die Scratches von Zuzee und DJ Buzz sind noch dazugekommen.
Manuva: Genau. Aber es brauchte einfach diese pure, trockene Ästhetik. Ich bin froh, dass wir uns für die roheste Version entschieden haben.
Bionic Kid: Trocken? Eigentlich klingt der Beat schon recht warm und voll.
Manuva: Ja, vielleicht nicht trocken, aber minimal. Minimaler geht’s nicht.
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Du hast schon erwähnt, dass du den Text in München geschrieben hast…
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Manuva: Ja, aber das Bild im Kopf war immer Wien. Auch wenn ich in München lebte, war ich in meiner Gefühlswelt in Wien. Nächtliche Taxifahrten haben den Song inspiriert. Über Wien bei Nacht gibt es nicht nur einen Song – und dafür gibt es einen Grund, das ist schon was Besonderes. Ursprünglich wollte ich keinen Song über die Nacht schreiben, sondern die Idee war, einen Song aus der Sicht der Nacht zu schreiben. Deswegen gibt es Textfragmente in der „Ich“-Form. Die Grundidee war, dass ich die Nacht sprechen lassen wollte. Davon habe ich dann aber Abstand genommen und die Perspektive offen gelassen. Dadurch entstand eine interessante Mehrdeutigkeit. Ich bin froh darüber, diese fixe Idee selbst gebrochen zu haben und nicht ins zu Offensichtliche abzurutschen. Generell habe ich immer gerne Texte geschrieben, die Platz für Interpretation und eigene Wahrnehmung lassen. Jetzt vermittelt der Song ein Gefühl, das viele Leute hier in der Stadt teilen. Vielleicht ist es gut, dass ich den Song mit einem frischen Blick auf die Stadt schreiben konnte, mit dem Blick von draußen.
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Interessant, dass du nächtliche Taxifahrten erwähnst. Ich verbinde den Song irgendwie immer mit Jim Jarmuschs Film »Night On Earth«.
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Manuva: Ja, sehr schöne Assoziation. Ich habe diese Ring- und Gürtelfahrten entlang der Palais immer mit Wien verbunden. Wenn ich hier aufgewachsen wäre, hätte ich es vielleicht nicht geschrieben, weil es mir wie ein Klischee vorgekommen wäre. Was ich geschrieben habe, war jedenfalls das völlig unverfälschte Gefühl von der Stadt. Für mich war es jedes Mal interessant, herzukommen. Das war auch in letzter Konsequenz der Grund, warum ich mich für Wien als Lebensmittelpunkt entschieden habe. Wie gesagt, ich hätte auch wie viele andere nach Berlin gehen können. Aber die Waxos waren hier, und wir hatten den Plan, ein gemeinsames Studio zu beziehen. Ich fühlte mich ohnehin schon sehr zugehörig zur Stadt.
- »Ich bin im Laufe der Jahre extrem oft angefragt worden, ob ich die Spuren herausgeben kann. Aber mir ist es vollkommen wurscht, wer da anfragt – ich gebe die Spuren nicht her.« (Bionic Kid)Auf Twitter teilen
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Auf der Maxi gab es einen Remix von Bubbles von der Hamburger Formation Doppelkopf.
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Bionic Kid: Bubbles war einer der wenigen deutschen Producer zu der Zeit, die vom Style her auf das angesprungen sind, was wir gemacht haben. Da gab es ein gegenseitiges Verständnis. Ewig schade, dass da nichts mehr passiert. Das Label Deck8 wollte ohnehin gerne einen Remix machen, die haben unter anderem auch den Bubbles vorgeschlagen. Ich bin im Laufe der Jahre extrem oft angefragt worden, ob ich die Spuren herausgeben kann. Aber mir ist es vollkommen wurscht, wer da anfragt – ich gebe die Spuren nicht her. Da kann extrem viel kaputt gemacht werden. Der Bubbles-Remix ist die einzige Ausnahme. Mir wäre sonst niemand eingefallen, der das hätte machen können.
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Wie ist das Cover der Maxi entstanden?
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Manuva: Do It Yourself, und zwar komplett.
Bionic Kid: Ich habe neulich die CD mit den Bildern gefunden, aus denen wir beide das Cover zusammengebaut haben. Das waren so 40 KB große Bilder.
Manuva: Genau, das Duke-Ellington-Bild, das war so winzig! (lacht)
Bionic Kid: Exakt 5 mal 3 Zentimeter bei 72 dpi. Und wir haben das beinhart aufgeblasen.
Manuva: Deshalb ist es auch nur unten rechts in der Ecke. Wenn wir das Bild in größerer Auflösung gefunden hätten, sähe das Cover jetzt anders aus. Aber wenn wir es größer gemacht hätten, wäre es total verpixelt gewesen.
Bionic Kid: Links oben bricht auch der Font so leicht aus. Das war ein typischer Photoshop-Fehler, der nicht passiert wäre, wenn es Profis gemacht hätten.
Manuva: Wir haben auch ein Video dazu gedreht. Leider haben wir die Files davon gar nicht mehr, sondern nur noch diesen VIVA-Mitschnitt, den es auf Youtube gibt. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Wir wollten eigentlich echte NASA-Astronautenanzüge haben, die haben wir leider nicht bekommen, stattdessen waren es dann silberne Strahlenanzüge. Aber ich bin eigentlich doch zufrieden, wie es ist.
- »Als wir gemerkt haben, dass die Nummer ein kleiner Hit wird, waren wir ein bisschen baff.« (Bionic Kid)Auf Twitter teilen
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Habt ihr den Song oft live gespielt?
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Manuva: Ja, wir sind als Live-Band richtig zusammengewachsen: Die Waxos, die Twin Towers und ich. »Nachtschattengewächs« live spielen war für alle immer ein wunderschöner Augenblick. Der Song hat überall und immer funktioniert – auf dem Splash vor 20.000 Leuten genau so wie im kleinen Kellerclub.
Bionic Kid: Als wir gemerkt haben, dass die Nummer ein kleiner Hit wird, waren wir ein bisschen baff. Gerade die langsamste, längste Nummer wird zum Hit. (lacht)
Manuva: Der Song hatte live auch einen anderen Spannungsbogen als auf Platte. Wir ließen uns einfach ewig Zeit und zelebrierten ihn in seiner ganzen Länge, Einfachheit und Monotonie. Heute trete ich nicht mehr auf und schreibe auch keine Songs mehr, aber ich habe viele Konzerte sehr schön in Erinnerung.
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Wann habt ihr den Song zum letzten Mal angehört?
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Bionic Kid: Das Waxolutionists-Debütalbum »Smart Blip Experience« wurde ja kürzlich erstmals nachgepresst und da hab ich den Song im Zuge des Re-Masterings – Buzz von den Waxos zeichnete hierfür verantwortlich – einige Male gehört. Natürlich kenne ich die Nummer in- und auswendig. Aber es war lustig, auch mal das Ende wieder zu hören, mit dem Flöten- und dem Filmsample. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, aus welchem Film das Sample stammt. Wenn es da draußen Filmfreaks gibt, die es wissen, sollen die bitte Bescheid sagen.
Manuva: War das nicht »Dead Man Walking«?
Bionic Kid: Keine Ahnung. Das war damals ja noch die VHS-Abteilung.
Manuva: Ich hab den Song neulich auf FM4 gehört, als ich im Auto gefahren bin. Das war die 3-Minuten-40-Version, die wir extra für den Sender gemacht haben, damit die es auch spielen. Was sie auch getan haben. Ohne FM4 wäre der Song nicht so bei den Leuten gelandet.
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Ich habe den Song letztes Jahr mal auf Radio Fritz gespielt, aber die Sieben-Minuten-Version, am Ende einer zweistündigen Sondersendung zu meinen Lieblings-Rap-Songs in deutscher Sprache. Ich habe der nachfolgenden Moderatorin sogar zwei Minuten Sendezeit dafür geklaut.
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(Gelächter)